Putins „Hungerplan“ in drei Akten: nächste „Stufe des Krieges“
Historiker sagt Unruhen voraus
Veröffentlicht am 18.06.2022 - Michelle Brey / merkur.de
Russlands Krieg gegen die Ukraine hat weitreichende Folgen - weltweit. Ein Historiker der Yale Universität beschreibt Putins Plan in Bezug auf das Getreide.
München - Der Krieg in der Ukraine tobt. Besonders im Osten des Landes rund um Sjewjerodonezk ereignen sich heftige Kämpfe. Indes sprach ein Historiker der Yale Universität in den USA von dem „neuesten Kapitel der Hungerpolitik" und der „nächsten Stufe" im eskalierten Ukraine-Konflikt.
Ukraine-Krieg: „Neue Stufe des Kolonialismus" - Historiker erklärt Putins „Hungerplan"
„Russland hat einen Hungerplan", schrieb Yale-Historiker Timothy Snyder auf Twitter am Samstag (11. Juni). „Wladimir Putin bereitet sich darauf vor, einen Großteil der Entwicklungsländer als nächste Stufe seines Krieges in Europa auszuhungern", so Snyder zu Beginn seines ausführlichen Beitrags auf der Plattform weiter.
Ukraine-Krieg: So steht es um das Getreide
Die Ukraine gilt als Kornkammer Europas und war vor dem Krieg einer der weltweit größten Exporteure von Mais und Weizen - vor allem für Nordafrika und Asien. Russische Blockaden im Schwarzen Meer stellen ebenso ein ernstes Problem für den Export von Getreide aus der Ukraine dar, wie auch schwere Angriffe. Experten befürchten eine weltweite Hungerkrise.
Werde eine Fortsetzung der russischen Blockade erfolgen, würden „Millionen Menschen in Afrika und Asien verhungern", schrieb Snyder. Die Idee hinter der Kontrolle des ukrainischen Getreides sei allerdings nicht neu, so der Historiker. Er zog einen Vergleich zu Hitler und Stalin, die Pläne von Wladimir Putin nannte er auf Twitter jedoch „eine neue Stufe des Kolonialismus".
Ukraine-Krieg: Putins-Hungerplan mit drei Stufen - „Russland plant, Asiaten und Afrikaner auszuhungern"
Er glaube, so der Historiker, Putins Hungerplan habe drei verschiedenen
Stufen, mit einem übergeordneten Ziel:
- Stufe eins: Der Hungerplan sei Teil des Versuchs, den ukrainischen Staat durch Einstellung seiner Exporte zu zerstören.
- Stufe zwei: Aus Gebieten, die normalerweise mit dem Getreide aus der Ukraine versorgt werden, würden Menschen beginnen zu fliehen. Dies würde wiederum zur Instabilität der EU führen.
- Stufe drei: Die Massentode würde Putin als Kulisse für einen Propagandawettbewerb nutzen. „Wenn die Nahrungsmittelunruhen beginnen und sich der Hunger ausbreitet, wird die russische Propaganda der Ukraine die Schuld geben", schrieb Historiker Snyder auf Twitter. Russland würde dann die Anerkennung der Gebiete in der Ukraine sowie die Aufhebung der Sanktionen fordern.
„Russland plant, Asiaten und Afrikaner auszuhungern,
um seinen Krieg in Europa zu gewinnen", so die abschließenden Worte des
Yale-Historikers via Twitter.
Bundesagrarminister Cem Özdemir sicherte der Ukraine indes deutsche Unterstützung zu, um ihre Landwirtschaft und Getreideexporte im andauernden russischen Krieg aufrechtzuerhalten. „Der Erfolg der ukrainischen Landwirtschaft ist nicht nur für die Ukraine wichtig, er ist für uns alle wichtig", sagte der Grünen-Politiker am Freitag (10. Juni) bei einem Besuch in einem Agrarkolleg in Nemischajewe bei Kiew. Bei der Reise ging es angesichts blockierter Häfen auch um alternative Wege für Ausfuhren des Landes zur weltweiten Ernährungssicherung.
Zuletzt war zudem der russische Außenminister Sergej Lawrow zu Gesprächen über Getreide-Lieferungen aus der Ukraine in die Türkei gereist. Eine echte Lösung des Problems ergab sich dabei nicht. Stattdessen spielte sich auf Nachfrage eines ukrainischen Journalisten eine brisante Szene ab. (mbr mit dpa)
(Copyright © 2022 by Münchner Merkur)
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Nahrungsmittel als Waffe:
Hat Putin einen "Hungerplan"?
Veröffentlicht am 12.06.2022 - Jan Schneider / zdf.de
Russland verhindert, dass Nahrungsmittel aus der Ukraine exportiert werden und zerstört Ernten. Diese Taktik könnte große Teile der Welt destabilisieren - und Putin helfen.
Eine Folge des Kriegs wird - so befürchten es die Vereinten Nationen -
Hungersnot in ärmeren Ländern sein. Diese sind abhängig von den
Kornkammern der Ukraine und Russlands.
(Quelle: reuters)
Nahrungsmittel - ganz besonders Getreide - werden in den kommenden Monaten eine zentrale Rolle im Ukraine-Krieg spielen. Viele Beobachter des Konflikts sind sich einig, dass Russlands Präsident Wladimir Putin die Abhängigkeit vieler Länder von ukrainischen Nahrungsmittelexporten nutzen wird, um seine politischen und militärischen Ziele zu erreichen. Doch diese Strategie, Hunger als Waffe einzusetzen, könnte weltweit enorme Folge haben. Was steht der Welt bevor?
Was passiert aktuell in der Ukraine?
Zum einen blockiert Russland den Export von ukrainischem Getreide auf dem Seeweg.
Etwa 20 Millionen Tonnen Getreide, die größtenteils von Odessa nach
Afrika und Asien gebracht werden sollten, liegen weiterhin in Silos, da Russland
die Schwarzmeerküste kontrolliert.
Zum anderen scheint Russland zu versuchen, weitere Ernten zu vernichten. Der Chef des ukrainischen Präsidialbüros, Andrij Jermak, warf dem russischen Militär vor, Getreideanbauflächen vor der Ernte zu beschießen und abzubrennen. Er wirft ihnen vor, den Holodomor zu rekonstruieren.
Die Russen feuern Brandgranaten auf ukrainische Felder. (...) Unsere Soldaten löschen die Brände, aber der "Lebensmittelterrorismus" muss gestoppt werden.
(Copyright © by Andrij Jermak auf Telegram)
Ukrainische Soldaten versuchen Feuer auf einem Getreidefeld zu löschen.
Was bedeutet Holodomor?
Der Begriff Holodomor lässt sich
übersetzen als "Tötung durch Hunger". Er wird für
eine verheerende Hungersnot in der Ukraine in den Jahren 1932 und 1933 verwendet,
die der sowjetische Diktator Joseph Stalin durch die erzwungene Kollektivierung
der Landwirtschaft ausgelöst hatte. Damals starben in der Ukrainischen
Sowjetrepublik etwa 3,5 Millionen Menschen.
Die ukrainische Hungersnot wurde in der Sowjetunion weitestgehend totgeschwiegen und auch im Westen nur wenig wahrgenommen. In der Ukraine wurde der Holodomor 2006 vom Parlament offiziell als Genozid bezeichnet und seine Leugnung unter Strafe gestellt. In Deutschland versuchte eine Petition an den Bundestag im Jahr 2019, eine Einstufung der Hungersnot als Völkermord zu erreichen. Über die Forderung der Petition wurde aber nie abgestimmt.
(Quelle: dpa, Andreas Kappeler: Ungleiche Brüder. Russen und Ukrainer vom Mittelalter bis zur Gegenwart)
Zusätzlich haben Vertreter der von Russland eingesetzten prorussischen provisorischen Verwaltung in der Region Saporischschja eine Firma für den Handel mit ukrainischem Getreide im Namen Moskaus gegründet. Mit dem Unternehmen solle lokales Getreide aufgekauft und weiterverkauft werden, sagte der von Russland eingesetzte Verwaltungschef Jewgeni Balizky der Nachrichtenagentur Interfax. Es war unklar, ob die Bauern, deren Getreide von Russland verkauft wird, dafür bezahlt werden.
Warum tut Russland das?
Es ist nach gut dreieinhalb Monaten recht offensichtlich, dass es Putin darum
geht, die Ukraine zu zerstören: militärisch wie auch wirtschaftlich.
Die Landwirtschaft ist dabei ein großer Faktor: Knapp 10 Prozent des
ukrainischen Bruttoinlandsprodukts stammen aus der Landwirtschaft. Zum Vergleich:
In Deutschland sind es lediglich 0,9 Prozent und darin sind auch noch die
Forstwirtschaft und Fischerei einbezogen.
Außerdem gehört die Ukraine - wie Russland - zu den wichtigsten Getreideexportnationen der Welt. International besteht die Befürchtung, dass die Blockade der ukrainischen Getreideexporte eine globale Hungerkrise auslösen könnte. Wenn Russland das ukrainische Getreide nun selbst exportiert, könnte es damit seinen Einfluss in Afrika und Asien vergrößern.
Russland bombardiere bewusst Getreidesilos und blockiere Häfen wie Odessa, damit das Getreide dort nicht exportiert werden könne. Die Ukraine kann so kaum Getreide exportieren.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj warnte in einer Videobotschaft beim sogenannten Shangri-La-Dialog, einem Sicherheitsgipfel in Singapur, dass die Nahrungsmittelknappheit "unweigerlich zu politischem Chaos führen" werde, und den "Zusammenbruch vieler Regierungen und den Sturz vieler Politiker zur Folge haben kann".
Hat Putin einen "Hungerplan"?
Was Selenskyjs Büro als "Lebensmittelterrorismus" bezeichnet, nennt der US-Historiker Timothy Snyder Putins "Hungerplan". Der Yale-Professor hat seine Forschungsschwerpunkte in der osteuropäischen Geschichte und der Holocaustforschung.
Wladimir Putin bereitet sich darauf vor, als nächste Stufe seines Krieges in Europa einen Großteil der Entwicklungsländer auszuhungern.
(Copyright © by Timothy Snyder, Historiker)
Wenn die russische Blockade anhält, würden Millionen Tonnen
Lebensmittel in Silos verrotten und Millionen Menschen in Afrika und Asien
verhungern, schreibt Snyder in seiner Analyse bei Twitter.
Der Schrecken von Putins Hungerplan ist so groß, dass wir ihn kaum
begreifen können. Wir neigen auch dazu, zu vergessen, wie zentral Essen
für die Politik ist.
(Timothy Snyder, Historiker)
Snyder vermutet, dass Putin mit den Seeblockaden versucht, den ukrainischen Staat
zu zerstören. Außerdem solle die dadurch entstehende
Nahrungsmittelkrise Flüchtlinge aus Nordafrika und dem Nahen Osten
generieren. Das könnte dann zu größerer Instabilität in der
EU führen.
Und perspektivisch könne Putin eine weltweite Hungersnot nutzen, um die Aufhebung der Sanktionen gegen Russland und die Anerkennung der eroberten Gebiete zu fordern.
Russland plant, Asiaten und Afrikaner auszuhungern, um seinen Krieg in Europa zu
gewinnen. Dies ist eine neue Stufe des Kolonialismus und das neueste Kapitel der
Hungerpolitik.
(Timothy Snyder, Historiker)
Der Westen könnte durch diese Taktik in hohem Maße
erpressbar gemacht werden.
(Copyright © 2022 by zdf.de)
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