V. Plausibilitätsberechnungen Weisse Rose München

Eine Plausibilitätsberechnung für alle Flugblätter I bis VI soll klären, wie zeitaufwendig die einzelnen Arbeitsschritte rechnerisch waren und ob diese Tätigkeit in der zur Verfügung stehenden Zeit erledigt werden konnte. Parallel muss geklärt werden, wann wurde produziert, wie hoch war die Flugblattauflage, wie viele Flugblätter gingen zum Postversand oder wurden wo ausgelegt, wie hoch beliefen sich die Gesamtkosten, wie wurde der Widerstand finanziert und wer half wann bei der Produktion. Bisher wurde nur die Vorgeschichte dargelegt und die technischen Grundlagen zur Vervielfältigung erörtert. Ab jetzt wird konkret auf den Widerstandskreis Bezug genommen.

    Eine Frage muss noch erläutert werden. Was macht so sicher, dass die Angaben in den Vernehmungsniederschriften, auf die jetzt im Detail Bezug genommen wird, stimmen und ein sinnvoller Ausgang zu erwarten ist. Diese Frage kann erst dann beantwortet werden, wenn alle Berechnungen, Arbeitsabläufe und Aussagen aus den Vernehmungsniederschriften ausgewertet vorliegen. Würden am Ende der Untersuchung mehr Fragen und Verwirrung bestehen, gestaltet sich die Antwort schwierig. Wenn sich herausstellen sollte, dass vielen oder gar allen ausgewerteten Informationen eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit zugrunde liegt, sollte sich daraus ein Resümee ziehen lassen.



1           Berechnungsgrundlage 1942 – Flugblatt I-IV

Aus den Vernehmungsniederschriften der Geheimen Staatspolizei Münchens ist nur wenig zur Flugblatt-Herstellung für die ersten vier Flugblattauflagen zu erfahren. Der Eindruck durch die Massenverbreitung tausender Flugschriften im Januar und Februar 1943 stand diese zur Klärung der Sachverhalte im Vordergrund. Viel Zeit blieb für die Flugblatt-Herstellung der ersten Flugschriften nicht, weil Hans Scholl zum 20. Juli 1942 eine Abberufung an die Ostfront Russlands erhielt, Alexander Schmorell und Willi Graf ebenfalls und einige ihrer Kommilitonen ebenso.[744], [745] Am 23. Juli 1943 war die Abfahrt zur studentischen Famulatur nach Russland. An jenem Tag entstand das legendäre Widerstandsfoto, das der damalige Kommilitone Jürgen Wittenstein mit seiner Kamera einfing. Links in Uniform Hans Scholl mit dem Blick auf Notizen, in der Mitte Sophie Scholl mit einer Blume in der Hand und zuhörend mit fernem Blick, rechts in zivil Christoph Probst, der Notizen aufschrieb. Was war so wichtig zu notieren? Die Welt wird den Inhalt der Notizen wohl nie erfahren. Während der Widerstandskreis mit Abschiedsgedanken auf die bevorstehende Reise befasst sein dürfte und in der noch verbleibenden Zeit miteinander der letzte Austausch stattfinden konnte, gefolgt von besten Wünschen zur Reiserückkehr, erscheint seit den frühen Morgenstunden im 20. Jahr mit der Wochenausgabe 30 von 1942, das widerliche Hetzblatt "Der Stürmer" mit dem Titel "Jüdische Rachepläne".[746]

    Gerade mal vor etwa gut drei Wochen äusserte sich ihr Freund Alexander Schmorell im II. Flugblatt in einem Absatz der Rückseite über die Juden: «…Nicht über die Judenfrage wollen wir in diesem Blatte schreiben, keine Verteidigungsrede verfassen, nein, nur als Beispiel wollen wir die Tatsache kurz anführen, die Tatsache, dass seit der Eroberung Polens dreihunderttausend Juden in diesem Land auf bestialischste Art ermordet worden sind. Hier sehen wir das fürchterlichste Verbrechen an der Würde des Menschen, ein Verbrechen, dem sich kein ähnliches in der ganzen Menschengeschichte an die Seite stellen kann. Auch die Juden sind doch Menschen – man mag sich zur Judenfrage stellen wie man will – und an Menschen wurde solches verübt. Vielleicht sagt jemand, die Juden hätten ein solches Schicksal verdient; diese Behauptung wäre eine ungeheure Anmassung; aber angenommen, es sagte jemand dies, wie stellt er sich dann zu der Tatsache, dass die gesamte polnische adlige Jugend vernichtet worden ist (gebe Gott, dass sie es doch nicht ist!)? Auf welche Art, fragen sie, ist solches geschehen? ...»[747]

    Hingegen hetzt der Herausgeber des Nürnberger Verlags Julius Streicher am Abreisetag des Widerstandskreises mit einer neuen Wochenausgabe. Der Ausschnitt "Jüdische Überheblichkeit" der 30. Ausgabe "Der Stürmer" von 1942 wird der ideologische Hass, der in Deutschland gegen Juden ganz gezielt geschürt wurde, fortgesetzt. Auf der Titelseite unten am Blattrand schreibt der Verlag auffällig wahrnehmbar, in fetter Grossschrift suggestive Hetzparolen: «Die Juden sind unser Unglück», auf Seite 2 ebenfalls am unteren Blattrand «Die Juden sind schuld am Kriege!» Erklärungen bleiben aus. Die Artikel dieser Hetzschrift sind gefärbt, mal weniger, mal sehr deutlich, vom blanken Hohn, von Vorurteilen, von hassgesäten Erniedrigungen und Abschwörung jeglicher Daseinsberechtigung. Die treue Leserschaft muss von der Richtigkeit die "Der Stürmer" suggerierte überzeugt gewesen sein. Die Auflagen dieser Schmähblätter waren erschreckend hoch. Seine Hetzkampagnen gegen die Juden sind über alle Blattseiten aller Ausgaben durchgängig von tiefem Hass geprägt, bis hin zur Intensivierung und unverhohlenen Einforderung der Vernichtung der Juden.

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Abbildung 178: Ausschnitt der Originalausgabe "Der Stürmer", "Jüdische Rachepläne" vom 23. Juli 1942, 20. Jahr, Nummer 30 der Wochenausgabe im Jahre 1942, Ausschnitt Seite 4, Privatbesitz

Ausschnitt der Originalausgabe "Der Stürmer", "Jüdische Rachepläne" vom 23. Juli 1942, 20. Jahr, Nummer 30 der Wochenausgabe im Jahre 1942, Ausschnitt Seite 4, Privatbesitz

Abbildung 178: Ausschnitt der Originalausgabe "Der Stürmer", "Jüdische Rachepläne" vom 23. Juli 1942, 20. Jahr, Nummer 30 der Wochenausgabe im Jahre 1942, Ausschnitt Seite 4, Privatbesitz

Warum Alexander Schmorell und seine Freunde Hans Scholl und Christoph Probst die Judenfrage in fast jedem ihrer Flugblätter[748] thematisieren, könnte auch mit dem familiären Hintergrund von Alexander Schmorell zusammenhängen. Denn einige seiner Verwandten waren jüdisch durch eine Mischehe verehelicht. Ein Fotoalbum von Alexander Schmorell enthält aus dem Jahre 1937 eine Aufnahme aus Nürnberg. Auf dem Foto ist ein grosses Strassenschild zu sehen, auf dem steht "Juden sind hier unerwünscht!"[749] Zwischen diesen Tatsachen dürfte mehr vorliegen, als bisher erkannt wurde. Vor allem dürften neue Überlegungen zum V. Flugblatt anfallen. Eine Textpassage, die immer mal wieder für Diskussionen sorgt: «Deutsche! Wollt Ihr und Eure Kinder dasselbe Schicksal erleiden, das den Juden widerfahren ist?»[750] Ist diese Textpassage im Gesamtkontext betrachtet missverständlich?

    Die letzten beiden Flugblätter, die zur Verbreitung noch kommen sollten, mussten ungefähr sechs Monate warten. In einem Zeitraum von zwei Wochen konnten die ersten vier Flugblätter per Postversand in Umlauf gebracht werden.[751] Vor dem 26. Juni 1942 begann die Vorbereitung für das erste Flugblatt, dem weitere drei bis zum 12. Juli 1942 folgen.[752] In dieser Zeit werden von etwa 400 Flugblättern 83 bei der Polizei abgegeben. Bei einem späteren Flugblatt werden noch mehr Flugblätter bei der Polizei eingehen.[753]

    Während Hans Scholl und Alexander Schmorell sich inmitten ihrer Flugblatt-Herstellung befinden, bekam währenddessen Margot Frank, die drei Jahre ältere Schwester von Anne Frank am 5. Juli 1942 die Aufforderung ins Arbeitslager. Die Eltern Otto Frank und Edith Frank beziehen daraufhin mit der Familie am Folgetag sofort ein Versteck. Weitere Bewohner kommen hinzu.[754] Nur Vater Otto Frank überlebte den Krieg, alle anderen kamen in verschiedenen Konzentrationslagern ums Leben. Das Tagebuch der talentierten "Schriftstellerin" Anne Frank überdauert den Krieg und blieb der Nachwelt zur späteren Veröffentlichung erhalten.

    Das vierte Flugblatt wurde am 12. Juli 1942 bereits am frühen Nachmittag von der Bürgerschaft zur Polizei gebracht. Die jeweilige Auflage belief sich bei allen vier Flugschriften auf etwa 100 Exemplare doppelseitig mit Handabzug.[755], [756] Wegen der Doppelseite kommen für die ersten vier Flugblätter 800 Flugblattseiten handgefertigt zusammen. Durch die Doppelseite mussten zunächst für jedes Flugblatt zwei Schablonen, eine für die Vorder- und eine für die Rückseite mit der Remington Portable 2 geschrieben werden. Der zugrundeliegende Schreibmaschinenanschlag wird von Seite 296 "Bearbeitungszeit Schablonen – Flugblatt I-IV" mit 80 Zeichen pro Minute angenommen. Der für die ersten Flugschriften verwendete Handabzugsapparat Greif-Vervielfältiger wird ausschliesslich per Hand im Einzelblattabzug bedient.[757] Die benötigte Zeit für einen Flugblattseitenabzug liegt bei ca. 15 Sekunden. Das Ergebnis aller Berechnungen zu den einzelnen Arbeitszeiten für die unterschiedlichen Arbeitsschritte für die Flugblätter I bis IV sind auf Seite 301 zusammengefasst.