2.3.7            Erläuterung Aussage Alexander Schmorell – Flugblatt VI

Ab Seite 150 "ROTO-PREZIOSA" wurde auf die Bedienung des verwendeten Vervielfältigungsapparats eingegangen. Hier wird nur kurz erläutert, welche Komplikation bei der Flugblatt-Herstellung, die von Alexander Schmorell beschrieben wurde, höchst wahrscheinlich vorlag. Alexander Schmorell bezieht sich bei seinen Ausführungen auf das VI. Flugblatt, das mit dem Rotationsvervielfältiger ROTO-PREZIOSA vervielfältigt wurde. Schablonen müssen eine Überlänge gegenüber dem zu vervielfältigenden Saugpostpapier haben. Die Überlänge verhindert durch Überlappung einen unerwünschten Farbaustritt unmittelbar am Ende einer vervielfältigten Flugblattseite, wenn beim Saugpostpapier die letzte Papierkante erreicht wird[731]. Die Weisse Rose verwendete für die Vervielfältigung ein Saugpostpapier im Format A4. Die eingesetzten Schablonen hatten eine typische Länge für A4-Papierformat von ca. 47 cm und eine Bereite von etwa 23 cm. Schablonen, wenn sie für grössere Papierformate gedacht sind, müssten nur auf etwa 47 x 23 cm gekürzt werden. Mehr wäre nicht zu machen.

Schablone mit Schutzkarton – ROTO-PREZIOSA, Privatbesitz

Abbildung 175: Schablone mit Schutzkarton – ROTO-PREZIOSA, Privatbesitz

    Über den beiden Drucktrommeln des ROTO-PREZIOSA befindet sich eine gespannte Seidengaze. Am Seidengaze wird an einer Metallaufnahmeleiste das Schablonenpapier eingehängt.[732] Zum Vervielfältigen muss per Hand ein Saugpostpapier zwischen unterer Drucktrommel und Andruckwalze hineingeführt werden.[733] Während der Vervielfältigung presst sich die Andruckwalze bei Flugblatttextbeginn an den unteren Druckzylinder und bei Flugblatttextende muss diese wieder wegbewegt werden.[734] Ohne diese Massnahme entsteht eine lärmende Kollision zwischen Metallaufnahmeleiste und Anpresswalze, die letztere zunehmend schädigt.[735] Die Abläufe steuert eine Kurvenscheibe, wie Abbildung 174 zeigt.[736] Mit der Kurvenscheibe kann nur der Beginn des Aufsetzens der Andruckwalze von Hand eingestellt werden, jedoch nicht das Ende. Das Ende erfolgt konstruktionsbedingt durch die Beschaffenheit der Kurvenscheibe immer an gleicher Stelle. Dort wo die Anpresswalze aufsetzt, muss das Schablonenpapier durch einen Schutzkarton[737] unterlegt sein. Abbildung 175 zeigt den Schutzkarton in Schräglage. Abbildung 176 und Abbildung 37 auf Seite 94 zeigen jeweils den Schutzkarton von der Rückseite der Schablone. Der Schutzkarton schützt das Schablonenpapier vor frühzeitiger Ermüdung und folglich vor einem viel zu frühen Abriss. Mit dieser Massnahme lassen sich die Auflagekräfte, die während des Pressvorganges durch die Andruckwalze entstehen, besser verteilen. Der Schutzkarton befindet sich während dem Pressvorgang zwischen Schablonenpapier, dem das Saugpostpapier folgt, und der Andruckwalze.

Schablonenrückseite mit Schutzkarton für ROTO-PREZIOSA, Privatbesitz

Abbildung 176: Schablonenrückseite mit Schutzkarton für ROTO-PREZIOSA, Privatbesitz

Wird der Text direkt am oberen Rand des Schablonenpapiers niedergeschrieben, dann muss die Kurvenscheibe so eingestellt werden, dass der Vervielfältigungsbeginn sofort stattfindet, also sofort die Anpresswalze aufsetzt. Das wiederum führt zu einer Kollision mit der Metallleiste, wo das Schablonenpapier eingehängt ist. Das frühe Aufsetzen der Andruckwalze führt zu lauten Betriebsgeräuschen und beschädigt die Lauffläche der Andruckwalze. Hinzu kommt, setzt die Andruckwalze nicht sofort auf, werden die ersten Zeilen nicht vervielfältigt. Diese Zeilen werden auf den Flugblättern nicht übertragen. Ein weiteres Verhalten kommt hinzu, wenn der Text am Schablonenanfang generell weit oben beginnt. Vor dem Beginn der ersten Textzeile befindet sich der Schutzkarton, der das Schablonenpapier, vor der permanent aufsetzenden Anpresswalze an den unteren Druckzylinder, schützt.

Schablonenrückseite mit Schutzkarton für ROTO-PREZIOSA, Privatbesitz

Abbildung 176: Schablonenrückseite mit Schutzkarton für ROTO-PREZIOSA, Privatbesitz

Der Karton hat für die Vervielfältigung von A4 Saugpostpapier etwa eine Länge von 5 cm und die Breite entspricht der Schablonenvorlage von 23 cm, siehe Abbildung 176. Dort, wo der Karton endet, entsteht während des Vervielfältigungsvorgangs nach wenigen Vervielfältigungen ein Falz durch Zugkräfte. An dieser Stelle sickert sehr bald, wenn auch nur geringfügig, die Vervielfältigungsfarbe hindurch und gelangt dann auf die Oberfläche des Flugblatts. Oberhalb der Überschrift entsteht deshalb ein Farbstreifen entlang der Kartonlinie. Hinzu kommt, dass die Überschrift durch Überdehnungs- und Stauchungsverhalten in Mitleidenschaft gezogen wird. Die hässliche Verzierung oberhalb der ersten Flugblatt-Zeile wäre vermeidbar, wenn der Text nach dem 5 cm langen Schutzkarton etwa 1 cm tiefer beginnt. Durch diese Massnahme werden unerwünschte Anomalien nicht auf das Flugblatt übertragen. Unter anderem ein Grund, warum Schablonen eine Überlänge aufweisen. Das Widerstandskollektiv wird entschieden haben, den Textanfang auf der Schablone einige Zentimeter weiter unten beginnen zu lassen. Über die Kurvenscheibe muss dann die Position für den Textbeginn auf dem Flugblatt neu eingestellt werden. Durch ein Experiment wurde die Situation, die von Alexander Schmorell beschrieben wurde, nachgestellt. Der Sachverhalt ereignete sich am 12. Februar 1943.[738], [739]

    Aus den Gerichtsakten ist bekannt, dass der Widerstandskreis von verschiedenen Herstellern Schablonen zur Vervielfältigung verwendete, möglicherweise resultierten daraus die Probleme.[740] Schablonenhersteller verwendeten bei ihren Schablonen unter­schiedliche Skalierungen, sodass eine weitere Schwierigkeit daraus resultiert haben könnte. Skalierungen markieren den Bereich, der für die Bearbeitung einer Schablone vorgesehen ist und sie sind herstellerspezifisch. Vielleicht musste auch die Aufnahme der Schablone mit einer Schere angepasst werden. Hier hatte jeder Hersteller seine eigene Version, passend zum jeweiligen Vervielfältigungsapparat und zur Papiergrösse. Ab dem V. Flugblatt wurde ein anderer Vervielfältigungsapparat verwendet als noch für die ersten vier Flugblätter. Beim V. Flugblatt mit 12000 Flugblattseiten ergaben sich weniger Probleme mit Schablonen, als beim VI. Flugblatt mit 3000 Flugblattseiten. Anzunehmen, dass sie unter grossem Zeitdruck arbeiteten.[741] In dieser Phase haben sich die drei Kommilitonen Hans Scholl, Alexander Schmorell und Willi Graf am 12. Februar 1943 an die Vervielfältigung des VI. Flugblatts gemacht und während der Feststellung der vorliegenden Problematik eine Korrektur durch eine neue und deshalb weitere Version von Schablone vorgenommen.