2.2.10           Frisch vervielfältigte Flugblätter

Hat der Widerstandskreis seine Flugblätter nach der Vervielfältigung einzeln getrocknet oder konnte nach der Vervielfältigung der Vorderseite sofort mit der Vervielfältigung der Rückseite begonnen werden? Der Arbeitsaufwand würde durch eine Einzeltrocknung der Flugblätter zu einem erheblichen Zeitaufwand führen und darüber hinaus viel Platz benötigen. Ein Versuch könnte darüber Auskunft geben. Saugpostpapier ist in Europa kaum noch oder als unverhältnismässig teurer Restposten erhältlich. Saugpostpapier ist ein typisches Vervielfältigungspapier für Mimeographen. Für einen Versuch wurde heutiges Werkdruckpapier[654] verwendet, was mit dem Saugpostpapier des 20. Jahrhunderts gleichwertig ist, allerdings sehr teuer. Grotesk ist hierbei, Werkdruckpapier für den Buchdruck im DIN-A4 Format ist sehr preiswert. Aber, kaum jemand ist bereit, unbedrucktes Werkdruckpapier zum Kauf anzubieten. Das verwendete Werkdruckpapier hat die Eigenschaften: Gelblich, weisses Zeichenpapier, meist matt, säurefrei, 80-100 g/m² oder mehr, mit 1,3- bis 2-fachem Volumen und hat vielfach eine raue Oberfläche. Saugpostpapier bzw. Werkdruckpapier ist ein Naturpapier, das entweder keinen oder nur einen sehr geringen Holzanteil aufweist. Werkdruckpapier ist üblicherweise ungestrichen,[655] häufig maschinenglatt, saugfähig,[656] schnell trocknend, Vorder- und Rückseite haben die gleiche Eigenschaft, Licht und alterungsbeständig. Wäre Saugpostpapier gestrichen und zu stark geleimt, verliert das Papier seine Hauptaufgabe, das Öl der Vervielfältigungsfarbe aufzunehmen. Ölhaltige Vervielfältigungsfarbe, wie sie bei Mimeographen verwendet wird, verteilt sich bei Werkdruckpapier durch die innere Oberflächenvergrösserung besser und trocknet deshalb schneller als bei satiniertem[657] Standardpapier. Das haben Experimente gezeigt und eine Gebrauchsanleitung der ROTO-Werke Jahre später bestätigt.[658] Wird ein Flugblatt-Standardpapier nur einseitig vervielfältigt, bleibt bedeutungslos, was sich auf der Rückseite ereignet. Bei einer zweiseitigen Vervielfältigung wie beim V. Flugblatt des Widerstandskreises allerdings nicht. Auf Seite 95 "Mimeograph – Vervielfältigungspapier" wurde bereits die Problematik erläutert. Für die Vervielfältigung der Rückseite muss zuvor die Vorderseite trocken sein. In Abhängigkeit der verwendeten Papiersorte wird nahezu keine oder eine Trockenzeit von etwa 30 Minuten pro Flugblattseite notwendig. Die Einzeltrocknung ist besser als eine Papierstapeltrocknung, weil mehr Luft an die Oberfläche gelangt. Fällt bei der Serienvervielfältigung mit handelsüblichen Standardpapier ein gerade vervielfältigtes Flugblatt in den Auffangkorb des ROTO-PREZIOSA, ist die Papieroberfläche durch die Ölfarbe noch feucht und färbt das nächste darauf fallende Flugblatt auf seiner Rückseite und das darunterliegende wird meist verwischt. Wird im zweiten Vervielfältigungsdurchgang die Rückseite vervielfältigt, ist bereits ein "Textwischer" von der Vorderseite sichtbar und vermindert die Qualität des Flugblattes, siehe Abbildung 152. Auf den gesichteten Original-Flugblättern des Widerstandskreises München wurden keine verwischten Textstellen oder "Textschatten" gefunden.

Handelsübliches Standardpapier mit Vervielfältigungs-Schatten, Privatbesitz

Abbildung 152: Handelsübliches Standardpapier mit Vervielfältigungs-Schatten, Privatbesitz

   Ein Experiment zeigte, Vervielfältigungen durch Werkdruckpapier mit wenig Farbauftrag und erhöhtem An­pressdruck ergaben eine bessere Vervielfältigungsqualität als mit handelsüblichen Standardpapier. Abbildung 153 zeigt das Fliessverhalten bei der Vervielfältigung eines Flugblatts mit einem sehr saugfähigen Flies aus dem Haushaltsbereich. Die grauen Stellen um den Text zeigen das Öl der Vervielfältigungsfarbe. Das Papier zeigt Saugcharakter und gleichzeitig zu viel Fliesseigenschaft. Zwischen den Zeilen befinden sich helle Stellen. Flies ist deshalb zur Vervielfältigung ungeeignet, weil sich Ölschatten um die Textkonturen bilden. Einleuchtend, warum Hersteller von Vervielfältigungsapparaten den Hinweis zur Reinigung der Schablonen gaben, diese mit Löschpapier vorzunehmen. Dies war insbesondere, wenn der Farbauftrag auf die Drucktrommeln und Schablone zu hoch war, sehr hilfreich. Der Weg bis das frisch vervielfältigte Flugblatt in den Auffangkorb fällt, ist beim ROTO-PREZIOSA recht lang. Jedes frisch vervielfältigte Flugblatt schlittert einige Zentimeter in den handgeflochtenen Korb. Experimente mit unterschiedlichen Papieren zeigten, mit dem "richtigen" Papier entstehen keine Textverwischungen auf Vorder- und Rückseite. Beim Entlangrutschen mit Werkdruckpapier bleiben Verwischungen, im Vergleich mit Standardpapier, gänzlich aus. Andere Vervielfältigungsapparate als der ROTO-PREZIOSA haben für gewöhnlich einen kurzen Weg in eine Auffangschale aus Blech und das vervielfältigte Blatt fällt häufig fast senkrecht herab, wodurch weniger Probleme in Bezug auf mögliche Verwischungen an der Papieroberfläche entstehen. Durch die leicht raue Papieroberfläche fliesst die Vervielfältigungsfarbe durch den Druck der Anpresswalze tiefer in die Papiersubstanz. Danach entspannt sich das voluminöse Papier und gelangt in den Auffangkorb. Allerdings wenn zu viel Vervielfältigungsfarbe beim Vervielfältigen auf die Drucktrommeln gegeben wird, bleiben auch bei Werkdruckpapier Ver­wischungen der Flugblatttexte nicht aus. Zu wenig Vervielfältigungsfarbe ist ebenfalls nicht dienlich, weil an vielen Stellen die Vervielfältigungsfarbe möglicherweise nicht auf das Flugblatt gelangt.

Saugfliess im Test, V. Flugblatt, Privatbesitz

Abbildung 153: Saugfliess im Test, V. Flugblatt, Privatbesitz

    Wie ein weiteres Experiment zeigte, wird zur Vervielfältigung Saugpostpapier (Werk­druck­papier) und eine nicht zu pastöse Vervielfältigungsfarbe verwendet, so sind ebenfalls keine Verwischungen auf den Flugblättern feststellbar. Das Ergebnis entspricht dann den Flugblättern des Widerstandskreises in München. Mit entsprechend verwendeter Vervielfältigungsfarbe konnte der Widerstandskreis die Vervielfältigung nach der Vorderseite des V. Flugblattes fast bündig mit der Rückseite fortsetzen. Weitere Hinweise finden sich auf Seite 176 "Gebrauchsanweisung". Die Vervielfältigungsfarbe muss so beschaffen sein, dass die Farbe in ihrer Konsistenz nicht zu dünn ist und im Saugpapier absackt und sie darf nicht zu pastöse Eigenschaft aufweisen, weil sonst die Farbe auf das Saugpapier aufträgt. Saugpostpapier und Vervielfältigungsfarbe brauchen für beste Qualitäts-Ergebnisse deshalb eine optimale Abstimmung. In diesem Fall waren die Angaben richtig, wenn Hersteller empfahlen, nur ihre Papier- und Farbsorten zu verwenden. Der Hintergrund war nicht nur im Geschäftssinn zu verstehen, wie vermuten lässt. Nach diesem Verständnis könnte Papier zusammen mit der Vervielfältigungsfarbe von einem x-beliebigen Hersteller, sofern er Qualitätsware lieferte,bezogen werden. Der Test mit Haushaltsküchentüchern, Abbildung 153, zeigte, die verwendete Vervielfältigungsfarbe und das saugfähige Haushaltspapier passten nicht zusammen.

ROTO-Zubehör, Privatbesitz

Abbildung 154: ROTO-Zubehör, Privatbesitz

Die Farbe sackte ab und der flüssige Ölanteil der Farbe floss gräulich schattiert um die Konturen der Buchstaben, weil sich feste von den flüssigen Komponenten durch Diffusion trennen. Abbildung 154 stammte aus einer Werbeschrift der ROTO- und Debego-Werke über das im Buch erwähnte Zubehör.

    Fazit: Der Widerstandskreis dürfte aufgrund der perfekten Vervielfältigung ihrer Flugblätter kein Standardpapier verwendet haben, sondern typisch zum Mimeographen, das empfohlene Saugpostpapier. Die verwendete Verviel­fältigungsfarbe muss passend zum Saugpostpapier gewesen sein, nur leicht pastöse bis leicht flüssige Eigenschaft, für eine übliche Vervielfältigung im Halbautomatikbetrieb.[659] Die Vernehmungsniederschriften bestätigen die Verwendung von Saugpostpapier.[660] Zu einem späteren Zeitpunkt wird sich Hans Scholl zum Thema Vervielfältigungspapier noch konkretisieren.[661], [662]