2.2.9 Spurensuche am Saugpostpapier
Spuren an Flugblättern können Hinweise auf das angewendete Vervielfältigungsverfahren geben. Mit zunehmender Anzahl von Vervielfältigungen streckt sich allmählich die aufgelegte Schablone, insbesondere vom Einspannpunkt aus, da hier die Zugkraft am grössten ist. Mit der Zeit werden sich die oberen Zeilen durch den Zug zeilenweise nach unten schwächer werdend verschieben. Vervielfältigungen eines Mimeographen können an den Buchstabenrändern auf der Vervielfältigung typische feine Farbverdickungen aufweisen. Insbesondere kann innerhalb einer Charge der zeitliche Verfall einer Schablone beobachtet werden. Farbverdickungen an Konturen der Buchstaben und Ziffern nehmen zu, die Linientreue unterhalb der Schablonen-Aufhängung zeigt Auffälligkeiten, die Zeilen sacken ein wenig ab. All dieses Verhalten kennen Hektograph und der Matrizendrucker nicht.
Abbildung 151: Mimeographen-Schablone mit typischen Spuren der ersten Zeile, Rückseite Flugblatt V
Hätte der Widerstandskreis Weisse Rose ihre Flugblätter mit einem Hektographen oder Matrizendrucker vervielfältigt, wären solche markanten Merkmale bei ihren Flugblättern definitiv nicht aufgetreten.[652] Die Farbsättigung auf Saugpostpapieren eines Mimeographen ist höher, die Text-Konturen sind rauschfrei und klarer als bei einem Hektographen oder Matrizendrucker. Die Zusammensetzung der Vervielfältigungsfarbe kann einen Nachweis zum angewendeten Vervielfältigungsverfahren liefern. Typische Veränderung des Schablonenpapiers zeigt Abbildung 151 am V. Flugblatt. Obiger Schriftzug "nationalsozialistischen Propaganda" bekam zu grosse Zugkraft und weitet sich zunehmend. Diese Veränderung ist mir bei meinen Experimenten mehrfach begegnet. Abrisse dieser Art sind das markanteste Anzeichen einer Vervielfältigung mit Mimeographen. Ein Schablonenabriss folgt. Ein beginnender Abriss des Schablonenpapiers kündigt sich an. Typisch tritt dieser unangenehme Effekt in den obersten Zeilen auf. Die Rückseite eines V. Flugblatts zeigt einen schräg liegenden Textrand. Entweder wurde das Schablonenpapier nicht gerade, sondern schräg befestigt, oder der Vervielfältigungsapparat hat ein horizontales Drehmoment. Drehmomente auf den Druckzylindern verschieben das Seidengaze und das Schablonenpapier nach rechts oder links zum Gussgehäuse. Das Schablonenpapier kann sich auch alleine verschieben, wenn sie zwischen rechtem und linkem Rand ein Längenunterschied aufweist. Der Vervielfältigungsapparat ROTO-PREZIOSA verfügt am oberen Druckzylinder über zwei Stellglieder. Verrutschen diese, entsteht ebenfalls ein unerwünschtes Drehmoment entlang der Druckzylinderachsen.[653] Eine weitere Möglichkeit bestünde, die Schablone wurde in die Schreibmaschine zur Bearbeitung nicht exakt gerade eingespannt.