2.2.8 Schablonen zur Flugblatt-Herstellung
Die folgenden Details, bezüglich Bearbeitung von Vervielfältigungsschablonen, benötigte der Widerstandskreis Weisse Rose in München als wichtige Anwendungsgrundlage. Ohne diese Kenntnisse wäre kein Flugblatt entstanden. Unklar bleibt geschuldet, woher der Widerstandskreis in München sich ihr Wissen zur Bedienung eines Mimeographen aneignete. Vorstellbar wäre, dass in der Ludwig-Maximilians-Universität in München, wo der Widerstandskreis studierte, ein Mimeograph für den Studienbetrieb zur Verfügung stand und daher das Wissen zur Vervielfältigung von Studiendokumenten grundsätzlich bekannt war. Die Bearbeitung von Schablonen für Mimeographen, sie dienen als Vorlage für den Vervielfältigungsapparat, verlangt konzentrierte Fingerfertigkeit. Ein sehr dünnes präpariertes Spezialpapier wird mit Schreibmaschinenanschlag oder mit speziellen Stiften mit der Hand bearbeitet. Die ersten Schablonenpapiere für Mimeographen waren im 19. Jahrhundert und Anfang des 20. Jahrhundert noch in Bienen- oder Paraffinwachs getränkt.[627] Später wurden die Papiere beispielsweise in eine Caseinalligation oder andere chemische Verbindung getaucht.[628] Casein[629] ist ein Protein das aus Milch gewonnen wird und als hochwertige Natur-Caseinfarbe beispielsweise für die Restauration von Fachwerkhäusern, auch als Innenanstrich von Nichtfachwerkhäusern insbesondere in Feuchträumen zusammen mit Sumpfkalkputz verarbeitet wird.[630] Unterschiedlich chemisch zusammengesetzte Alligationen, die zur Schablonenherstellung verwendet wurden, gehen aus Patentschriften der Greif-Werke,[631] und von anderen Herstellern hervor.
Eine Schablone besteht aus drei verschiedenen Papierlagen und ist oben am Schablonenanfang mit einer Halterung aus Karton verklebt.[632] Das oberste Blatt ist das eigentliche Schablonenpapier das für die Vervielfältigung benötigt wird und zuvor durch Schreibmaschinenanschlag oder von Hand bearbeitet werden muss.
Schablonenpapier besteht aus einem sehr feinen 50 µm dünnem
Flies. Das Rohpapier ist mit ca. 40 µm noch etwas dünner als das
fertige Schablonenflies. In der Mitte befindet sich ein zweiseitig
färbendes Kohlepapier. Nach Bearbeitung der Schablone steht der
geschriebene Text auf der untersten Papierebene eines Schutzkartons
und kann dort nochmals korrekturgelesen werden. Zum Korrekturlesen
wird die Schablone niemals aus der Schreibmaschine genommen,
ansonsten kann sie für Korrekturwünsche nicht mehr
exakt in die Maschine zur Nachbearbeitung eingespannt werden. Die
Typen der Schreibmaschine treffen nicht mehr exakt die gewünschten
Positionen für die Korrektur. Die Schablone wird lediglich bis zu
ihrem Anfang im Wagen zurückgedreht. Durch anheben des unteren
Schutzkartons kann der Text gelesen werden. Ist eine Korrektur
notwendig geworden, konnte die Schablone wieder auf ihre Position
zurückbewegt werden. Dieser Schutzkarton wird nach dem Probelauf an
einer Perforationsstelle abgetrennt, sodass nur ein etwa 5 cm kurzes
Stück zum Schutz des Schablonenpapiers verbleibt. Innerhalb dieser 5
cm kann die Anpressrolle beim Beginn der Vervielfältigung gezielt
aufsetzen.[633]
Auf Dauer würde die Anpressrolle durch das ständige Aufsetzen zu
Beginn jeder Vervielfältigung das Schablonenpapier beschädigen. Der
kurze verbleibende Schutzkarton wirkt diesem Verschleiss entgegen.
Das Kohlepapier vereinfacht die Anfertigung der Schablone und dient
als Ersatzfärbemittel, weil während der Bearbeitung das Farbband der
Schreibmaschine deaktiviert oder herausgenommen werden muss. Wird
diese Massnahme befolgt, kann die ölhaltige Vervielfältigungsfarbe
optimal durch die Schablone hindurchfliesen. Damit der Text dennoch
während der Bearbeitung der Schablone lesbar ist, befindet sich
deshalb unter dem Schablonenpapier eine Zwischenlage aus
Kohlepapier. Nach jedem geschriebenen Buchstaben schimmert an dessen
Stelle die Verfärbung durch das Kohlepapier an der Schablone durch.
Durch die Färbung können Missgeschicke leicht erkannt und
gegebenenfalls korrigiert werden. Auch lässt sich über das
Kohlepapier die Kontinuität des Schreibmaschinenanschlags auf
gleichmässige Intensität kontrollieren, um gegebenenfalls diesen zu
optimieren. Eine erweiterte Kontrolle ist auch durch den
Schutzkarton möglich. Was am Karton nicht lesbar erscheint, wird
auch auf dem Flugblatt so sein. Der mechanisch leicht schwergängige
Tastenweg einer Schreibmaschine, bis der Buchstabe auf die Schablone
einfällt, liegt typischerweise bei ungefähr 2 cm. Beim einfallen
eines Buchstabens wird das Wachs bzw. der Alligationsauftrag auf der
Vorder- und Rückseite des Schablonenpapiers verdrängt und an dieser
Stelle kann ölhaltige Vervielfältigungsfarbe durch die Papierfasern
des Schablonenpapiers maschinell oder mittels Handbedienung durch
die Andruckwalze hindurchgepresst werden, um anschliessend ein
Saugpostpapier zu färben. Buchstaben mit grosser Fläche wie
beispielsweise "W" und "M" brauchten einen beherzigten, sprich
stärkeren Schreibmaschinenanschlag beim Beschreiben der Schablone.
Kleinbuchstaben mit geschlossenem Charakter wie "e", "b" und vor
allem das "o" durften nur leicht getippt werden. Bei ungenügendem
Anschlag wurde der Text nach der Vervielfältigung unvollständig auf
dem Papier wiedergegeben. Für diesen Fall war die
Wagenrücklauftaste der Schreibmaschine eine nützliche Hilfe zur
Nachbearbeitung durch wiederholtes Nachtippen. Die
Wagenrücklauftaste fährt den Wagen, an der die Schablone zur
Bearbeitung durch Schreibmaschinenanschlag eingespannt ist, exakt
einen Buchstaben zurück. So konnte nach jedem geschriebenen
Buchstaben entschieden werden, ob eine Nachbearbeitung notwendig
ist. Dies war insoweit kein Problem. Für das Erkennen derartiger
Situation war das Kohlepapier gedacht. Bei zu hartem Anschlag folgte
meist ein vollständiges Ausstanzen des Buchstabens am
Schablonenpapier. Die Strafe, an dieser Stelle entstand dann auf dem
Flugblatt ein typischer Farbklecks. Zu reparieren war diese Stelle
nicht mehr, wenn sich die Papierfasern vollkommen abtrennten, was
häufig der Fall war. Löste sich nur das Wachs bzw. die
Alligationsschicht, konnte die Stelle mit Korrekturfluid repariert
werden. Ansonsten konnte ein geschultes Auge belustigend das
Missgeschick in Augenschein nehmen. Farbkleckse auf Flugschriften
sind eine typische Erscheinung, die bei Vervielfältigung mit
Mimeographen manchmal zu sehen sind. Ältere Generationen kennen das
noch aus ihrer Schul- oder Studienzeit. Wer mit dem Klecks nicht
leben wollte oder nicht durfte, der musste mit der Erstellung einer
neuen Schablone vorliebnehmen. Bei den Flugblättern des
Widerstandskreises wurden keine Farbkleckse erkannt. Dennoch zeigen
einige Flugblattseiten typische Spuren des Mimeographen.[634]
Der Schutzkarton übernimmt zwei weitere wichtige Aufgaben. Der
Schutzkarton muss das empfindsame Schablonenpapier vor der
Gummiwalze der Schreibmaschine schützen, sodass dieses durch den
Schreibmaschinenanschlag nicht zu tief in die Gummioberfläche durch
Überdehnung hineingedrückt wird. Bei der Überdehnung können bereits
erste Fasern des Maulbeerbaumpapiers anreissen oder gar abgetrennt
werden. Der zunächst unsichtbare Schaden reduziert die gewünschte
Anzahl von Vervielfältigungen. Das Schablonenpapier reist an dieser
Stelle verfrüht ab. Durch die harte Kartonoberfläche kann beim
Schreibmaschinenanschlag die Alligationsschicht auf der Vorder- und
Rückseite des Schablonenpapiers besser verdrängt werden. Wie bereits
erwähnt, wird der Schutzkarton für den ersten Probelauf bei Beginn
der Vervielfältigung verwendet.[635]
Aufgrund der ständigen Kontrolle, ob während der Bearbeitung der
Schablone auch optimal der Schreibmaschinenanschlag erfolgte, kann
der Schreibmaschinenanschlag nicht so hoch sein, wie bei einem
üblichen Schreibpapier bei dem ein gleichmässiger
Schreibmaschinenanschlag genügt. Schablonen[636]
bestehen überwiegend aus feinem Seidenmaulbeerbaumpapier oder aus
Yoshino, eine spezielle Baumart aus der Papier und Lack gewonnen
wird. Auch preiswerte Alternativen von Schablonen waren käuflich zu
erwerben, bei denen das Trägermaterial für den Wachsauftrag aus
einem Kunstmaterial z. B. Nitrozellulose bestand. Ob diese so
strapazierfähig waren wie die handgeschöpften Naturpapiere[637]
für hohe Vervielfältigungszyklen, konnte nicht geklärt werden. Ab
April 1943 wurde laut Patentschrift die erste Kunstschablone, die
denen auf Naturbasis nichts nachgestanden haben soll, angeboten.[638]
Der Hersteller gab bei der Patentierung seinen Firmennamen nicht öffentlich an. Angeblich sollen Schablonenvarianten aus Reispapier,[639] eventuell aus Bananenpapier oder auch aus Bambuspapier[640] erhältlich gewesen sein. Heutige hochmoderne Schablonen verwenden sogar Hanf.[641]
Eine gute Sortierung für die Bearbeitung von Schablonen für Mimeographen, wie sie ein Greif-Vervielfältiger oder ein ROTO-PREZIOSA benötigt, brauchte neben Vervielfältigungsschablone, ölhaltiger Vervielfältigungsfarbe, Korrekturfluid um Fehler zu beheben, Vervielfältigungspapier als Saugpostpapier, auch spezielles Schreibwerkzeug wie Metallschreibstifte und Linierrädchen für langgezogene Linien oder Schreibgriffel für Unterschriften. Korrekturfluid bestand aus Alkohol mit aufgelöstem Wachs und weiteren Zusätzen. Sinnvoll konnte das Korrekturfluid bei Tippfehlern einzelner Zeichen eingesetzt werden. Wenig geeignet war das Fluid, um eine ganze Zeile zu korrigieren.[642] Das Papier war nach dem Überschreiben des alten Textes so geschwächt, dass die Schablone frühzeitig an der Korrekturstelle reissen konnte, insbesondere wenn die Korrektur sehr weit oben an der Aufhängung des Schablonenanfangs stattfand.[643] Bei den Weisse Rose Flugblättern konnte nicht zweifelsfrei festgestellt werden, ob der Widerstandskreis einen Korrekturlack verwendete. Maulbeerbaumpapier wird auch heute noch mühevoll und zeitaufwendig in Handarbeit aus der Bastfaser des Maulbeerbaumes hergestellt.
Auf Seite 236, Abbildung 140 und Seite 243, Abbildung 145 zeigen eine beschriebene Schablone mit dem Text des V. Flugblatts. Die schwarze Färbung ist keine Vervielfältigungsfarbe, sondern rührt vom Kohlepapier her. Die hellen Stellen der Vergrösserung zeigen das filigrane Papier. Die gräulichen Flächen enthalten die unbearbeitete Alligationsschicht, die beim Schreibmaschinenanschlag verdrängt wird. Zur Zeit des Widerstandskreises in München dürfte mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit das Füllmaterial bereits aus Caseinalligation oder einer anderen chemischen Masse bestanden haben. Wachs ist mechanisch anfällig und verträgt keine übermässigen Temperaturen. Dies bestätigt sich 1925 durch die Günther Wagner-Werke Hannover, Abbildung 147, und 1926 durch ein Schreiben der Roto-Werke Königslutter an einen Kunden, Abbildung 148.
Am Maulbeerbaumpapier wird die damalige Verarbeitung kurz erläutert. An dicken Ästen des Maulbeerbaumes wird die Rinde abgezogen und der feuchten Rinde danach die Bastfaser herausgelöst. Der Bast wird aufgehängt, an der Luft getrocknet und später zu einem Papierbrei verarbeitet. Viele Menschen verdienen so ihren Lebensunterhalt. Leider arbeiten nicht selten Kinder bei der Herstellung des Maulbeerbaumpapiers mit.[644] Hochwertige Schablonen werden heute noch industriell hergestellt.[645] Auch Lampenschirme werden aus Reispapier filigran produziert. Für das leibliche Wohl gilt Frühlingsrolle aus Reispapier als Delikatesse. Das Grundmaterial von Schablonenpapieren, die aus Reispapier gefertigt wurden, war Reisstroh.[646] Das zugrundeliegende Herstellungsverfahren ist ähnlich wie beim Maulbeerbaumpapier. Reispapier wird ebenfalls handgeschöpft, ein Seidenpapier, das auch sehr reissfest ist wie Maulbeerbaumpapier. Reispapier hat eine jahrhundertelange Tradition hinter sich und wird in Ländern wie China, Japan, Vietnam und Korea hergestellt.
Abbildung 146 enthält interessante Anregungen von den ROTO-Werken rund um die Dauerschablone. Wie bereits erwähnt, haben Schablonen am oberen Rand eine herstellerspezifische Schablonenaufnahme aus Karton. Die Schablonen werden an einer quer liegenden Aufnahmevorrichtung aus Metall am Seidengaze des Vervielfältigungsapparates befestigt.[647] Die Gaze befindet sich gespannt über den Drucktrommeln. Die Greif-Werke konnten an die 50 verschiedene Aufnahmevorrichtungen speziell für die Seidengaze ihrer Mitbewerber bereitstellen.[648] Zur Vermeidung von Ausschuss und daraus resultierenden Kosten sollte laut Hersteller der Text nicht gleich auf die Schablone, sondern zuerst auf ein handelsübliches Schreibpapier übertragen werden. Auf diese Weise konnte eine optimale Textgestaltung in aller Ruhe vorgenommen und als Musterabschrift bei der Bearbeitung einer neuen Schablone als Referenz verwendet werden. Bleistiftmarkierungen auf Schablonen zur Orientierung, wo welches Textelement oder Zeichnung niedergeschrieben werden soll, waren damals übliche Praxis.[649] Derartige Kennzeichnung durfte nur leicht angewendet werden, ansonsten wurde die Alligationsschicht beschädigt und an jenen Stellen für Vervielfältigungsfarbe durchlässig. Für derartige Malheure diente ebenfalls der Korrekturlack. Ob der Widerstandskreis ebenfalls vor der Vervielfältigung Probeexemplare erstellte, ist aus den Vernehmungsniederschriften nicht erkennbar. Ich vermute ja, weil ich einigen Ausschuss bei meinen Experimenten verursachte. Auch wegen des damaligen Preises, in Abhängigkeit des jeweiligen Herstellers von ca. 50 Reichspfennige pro Schablone,[650], [651] ist das anzunehmen.
Abbildung 149 zeigt einen Korrekturlack der Firma Pelikan, der etwa zwischen 1950 und 1970 hergestellt wurde. Der obere Schraubverschluss enthält einen Stiel mit Pinsel zum Auftragen des Korrekturlacks auf eine schadhafte Stelle der Schablone. Zum Gebrauch des Lacks schreibt Pelikan: "Korrekturlack für Schablonen, Lack dünn auftragen, Flasche sofort nach Gebrauch schließen.»
Der Flakon, Abbildung 150, zeigt einen sehr alten Greif-Korrektur-Lack. Dieser hatte ursprünglich einen Korken als Verschluss für das Glas. Die Beschreibung enthält folgenden Hinweis zur Bedienung: «Greif-Korrektur-Lack - Zeigen sich im Wachspapier Stellen, welche die Farbe durchlassen, so werden diese mit Lack vorsichtig unterstrichen und läßt denselben eine Minute trocknen, um mit der Vervielfältigung fortzufahren»