4.7 Ur-Terminus – Vervielfältigungsvorlage
Metallgiessen ist eine jahrtausendealte Kunst, ehe sie industriell
eingesetzt wurde.[351],
[352]
Aus der Metallverarbeitung sind die Begriffe Matrize (lateinisch
matris = Mutter) und Patrize (lateinisch patris = Vater) bekannt und
wurden vermutlich einst von Entwicklungs-Ingenieuren aus dem
Maschinenbau verwendet. Auch im Druckwesen ist der Begriff Matrize
gebräuchlich und nahm ebenfalls Einzug in die
Vervielfältigungstechnik. Hannelore Rose
erklärt in ihrer Dissertation sehr präzise und anschaulich den
Begriff Matrize: «Um rationell
arbeiten und immer wieder ähnliche Ergebnisse erzielen zu können,
bedienten sich die römischen Töpfer Formen, auch Model und Matrize
genannt, in denen sie die Objekte ausformten. Aus dieser Matrize
wurden die Masken ausgeformt. Bedingt durch den Herstellungsprozess
zeigen alle Masken, die auf dieselbe Patrize zurückgehen,
Übereinstimmungen, aufgrund derer sie zu einer Serie zusammengefasst
werden. Am Ausgangspunkt des Herstellungsprozesses muß ein Urbild,
auch als Patrize oder Archetypus bezeichnet, gestanden haben, von
dem der Model für die weitere Produktion abgeformt wurde.»[353]
Nach der Vorlage
von Hannelore Rose und einer langen ergebnislosen Suche, musste ein
neuer Ansatz zur Klärung des Ur-Terminus mit der Frage gesucht
werden, wie bezeichneten die Hersteller von
Vervielfältigungsapparaten ihre Vervielfältigungsvorlagen?
Einschlägige Literatur aus der Vervielfältigungstechnik beantwortet
im Allgemeinen diese Frage nicht oder nicht differenziert genug. Der
Begriff Matrize findet kaum eine verständliche Erklärung. Viele
behelfen sich zum Teil mit missverständlichen Darstellungen und
Sprachgebrauch. Dies gilt auch für Wörterbücher, Lexika,
Enzyklopädie und Literatur über Vervielfältigungsverfahren. Bei den
Erklärungsversuchen werden Begriffe miteinander vermischt,
kombiniert, verwechselt und gleichgestellt.
In der Literatur über die Weisse Rose entsteht der Eindruck,
alles
ist Hektographie und alles ist irgendwie Matrize. Durch
Entstellung von Sachverhalten ist unter Umständen eine
Rekonstruktion zur Wissenserhaltung nachfolgender Generation nicht
mehr möglich. Seit Jahren versuche ich, die ursprünglichen
Bezeichnungen, die von den damaligen Herstellern verwendet wurden,
wiederherzustellen. Weil die Literatur nicht dienlich ist, erbot
sich erfreulicherweise die Gelegenheit, mit einem sehr erfahrenen Zeitzeugen, der die damalige Vervielfältigungstechnik fast 40
Jahre lang miterlebte, Horst Berkemeyer von der
ORMIG-Organisationsmittel GmbH, zu sprechen. Am 15. November 2017
teilte mir Horst Berkemeyer dankend
mit, «der
Begriff Matrize wurde bei ORMIG nie verwendet».
Die Bezeichnung Matrize wurde von den Kunden bei der Verwendung
eines Matrizendruckers oder auch beim Lithograph eingebracht. Bei
beiden Verfahren galt im Volksmund Matrize. Gleiches zeigt sich auch
für den Mimeograph, Hektograph, Opalograph. Hersteller von
Vervielfältigungsapparaten verwendeten von Beginn an für ihre
Vervielfältigungsvorlagen zur Vervielfältigung von Schriftstücken
eigene Bezeichnungen. Schon sehr früh hat die Kundschaft diese
Begriffe durch eigene verdrängt, was unweigerlich zu Verwechslungen
und Missverständnissen weltweit führte. Die Hersteller selbst
nannten ihre Vervielfältigungsvorlagen in aller Regel nicht Matrize.
Der Begriff Matrize fällt in Gebrauchsanweisungen und in Werbe- und
Patentschriften so gut wie nie. Aus dem einst von der Kundschaft
eingebrachten Modewort, hatte sich im weiteren Geschehen dann der
Begriff Matrize gesellschaftlich etabliert und durch Wortschöpfungen
missverständlich erweitert. Horst Berkemeyer berichtete
über frühere Kundschaft, die beim ORMIG-Vertrieb oder auf Messen
Vervielfältigungsvorlagen käuflich erwerben wollten. Die Kundschaft
sprach bei ihren Bestellungen oft von Matrizen, oder verwendeten
alle möglichen Bezeichnungen für gewünschte
Vervielfältigungsvorlagen. Weil ORMIG keine sogenannten Matrizen
anbot, war klar, was die Kunden wollten. Die
Vervielfältigungstechnik entwickelte sich weiter und die neuen
Vervielfältigungsvorlagen wurden mit weiteren Wortschöpfungen
überhäuft und verniedlicht, bis bald kaum noch jemand die
Unterschiede der verschiedenen Vervielfältigungsverfahren verstand.
Auch die Mitbewerber wie ROTO (Farbpapier), Geha (50er Jahre
Originalblatt, 50er/60er Jahre Geha Spirit Carbon
Schreibsätze[354]),
Pelikan (1938: Kohlepapier für Umdruck-Apparate wie ORMIG und
ähnliche. Ab den 50er Jahren verwendeten SPIRIT CARBON[355]
oder Renaplan (Schriftträger-Blatt)[356]
eigene Bezeichnungen für ihre Vervielfältigungsvorlagen.
Matrize könnte als Synonym für eine beliebige Vervielfältigungsvorlage einer beliebigen Vervielfältigungstechnik verstanden werden. Warum dann einen Oberbegriff mit anderen untergeordneten Begriffen kombinieren. Aus den Begriffen Apfel, Obst und Gemüse würde niemand Apfelobst machen oder noch schlimmer Apfelgemüse. Matrize wurde als ein möglicher Oberbegriff über Jahrzehnte hinweg kaputt geredet und führte zu einer unverständlichen Mehrdeutigkeit. Junge Menschen können bei einem solchen Durcheinander nicht mehr nachvollziehen, wie diese Technik damals funktionierte. Plötzlich wird der Hektograph mit Spiritus betrieben und aus dem Mimeograph und Opalograph wird ein Hektograph. In heutigen Publikationen sollte möglichst nicht mehr der Begriff, zumindest die Vervielfältigungstechnik betreffend, "Matrize" fallen. Viel besser wäre, wenn wieder die Begriffe der Hersteller verwendet werden würden. Notfalls die neutrale Bezeichnung "Vervielfältigungsvorlage", wenn das Vervielfältigungsverfahren unbekannt ist.
Ansonsten hört das Durcheinander nie auf, weil viele meinen, den Begriff Matrize genau in seiner Bedeutung zu kennen. Für nachkommende Generationen soll zum besseren Verständnis und für eigene Untersuchungen bzw. Aufarbeitungsprojekte der Ur-Terminus wiederhergestellt werden. Die Ur-Bezeichnungen sind für alle verständlich und damit eindeutig. Der Hersteller ORMIG-Organisationsmittel GmbH in Berlin nannte seine Vervielfältigungsvorlagen für den Matrizendrucker als Umdruckoriginal.[357] Vervielfältigungsapparate-Hersteller von Mimeographen bezeichneten ihre Vervielfältigungsvorlagen als Schablone, Dauerschablone, Stencil oder anfangs Wachsschablone, weil die ersten Schablonen[358] in Wachs bzw. Paraffin getränkt waren. Dies betrifft auch die Hersteller Pelikan[359] und Geha[360]. Beim Hektograph galt der technische Begriff Master[361] oder Mastervorlage. Für die alten Bezeichnungen konnte ich herausfinden, dass Wachsmatrize und Wachsschablone gerne im Zusammenhang mit Schablonenverfahren wie Mimeograph, Opalograph[362] und Tausendstempel verwendet wird und Matrize sowie auch Wachsmatrize beim Matrizendrucker oder Matrize beim Hektograph. Der Begriff Wachsmatrize entstand irrtümlich im Zusammenhang mit Matrizendrucker, weil eine weiterentwickelte Vervielfältigungsvorlage (Umdruckoriginal) während der Herstellung auf der Farbschichtseite eine dünne Wachsschicht[363] aufgesprüht bekam.
Oft wird nur von Matrize gesprochen. In diesem Fall ist entweder Matrizendrucker gemeint oder die Vervielfältigungsvorlage eines Schablonenverfahrens wie sie Mimeograph, Opalograph oder auch der Tausendstempel verwendet. Mit zunehmender Industrialisierung wurde weltweit erkannt, wie wichtig eindeutige Begriffe, Symbole und Normen sind. Ausbildung und Studium prägen frühzeitig junge Menschen zur Einhaltung internationaler Standards. Wenn medizinischem Fachpersonal der Unterschied zwischen Apoplex und Appendix nicht geläufig ist, wie soll dann eine sinnvolle Behandlung mit Genesung erfolgen. Die Problematik dürfte klargeworden sein. Um Gewissheit über den missverständlichen Begriff Matrize zu bekommen, sind weitere Details unabdingbar, ansonsten kann keine Aussage über das zugrundeliegende Vervielfältigungsverfahren getroffen werden. In den Vernehmungsniederschriften von Willi Graf wurde nur einmal der Begriff Wachsmatrize (Schablone gemeint) verwendet.[364] In den Vernehmungsniederschriften fallen Begriffe wie Saugpapier (Saugpostpapier), Wachstuch und Matrizenabrisse (Schablonenabrisse gemeint). Abrisse kennt der Matrizendrucker und der Hektograph nicht und Saugpostpapier wird üblicherweise bei einem Schablonenverfahren eingesetzt. Folglich verwendete die Weisse Rose in München einen Mimeographen[365] und keinen Hektographen und keinen Matrizendrucker[366]. Durch Schablonen wird Farbstoff hindurchgepresst, durch ein Umdruckoriginal oder eine Mastervorlage kann keine Farbe hindurchgepresst werden. Ein ganz wesentlicher Unterschied. Für die Rekonstruktion der Weisse Rose Flugblatt-Herstellung ist die Frage zur Begrifflichkeit der Vervielfältigungsvorlagen von grundlegender Bedeutung. Mit der Klärung steht oder fällt die gesamte Rekonstruktion. Insbesondere betrifft das alle Berechnungen, die in anderen Kapiteln zur Klärung von offenen Fragen Erkenntnisse liefern. In den Vernehmungsniederschriften fällt fast ausschliesslich der Begriff Matrize und führt zur Irritation, was das Vervielfältigungsverfahren der Weisse Rose betrifft. Eine Schablone ist ein Muster zur Fertigung gleich gestalteter Gebilde und im Speziellen in der Vervielfältigungstechnik eine ausgeschnittene vorgeprägte Vorlage zur Vervielfältigung von Informationen.
Im Textilhandwerk werden Vorlagen auch als
Schnittmuster bezeichnet. Provokant zur Schablone formuliert, eine
geistlose Nachahmung nach "Schema F…". Der bekannte Topfschnitt wäre
auch ein sinnbildliches Beispiel.
Hans Scholl bzw. Alexander Schmorell die Marke und den Hersteller des Rotationsvervielfältigers oder den Begriff Wachsschablonen. Mit dem Begriff Matrize kann eine Verkäuferin bzw. Verkäufer nicht viel anfangen, wenn im Geschäft Schablonen, Umdruckoriginale und Master zum Verkauf angeboten werden. Spätestens danach war dem Widerstandskreis bekannt, was sie zukünftig beim Kauf ihrer Vervielfältigungsvorlagen mitteilen mussten, um die richtigen Vervielfältigungsvorlagen zu erhalten und jeder Diskussion zur Flugblatt-Herstellung aus dem Weg zu gehen. Weil Hans Scholl und Alexander Schmorell bereits im Juni 1942 Schablonen für ihren Greif-Vervielfältiger käuflich erwarben, müsste ihnen bereits der Begriff Schablone bekannt gewesen sein, zumal auf der Verpackung Schablone oder Dauerschablone gestanden haben dürfte.
Obwohl die Geheime
Staatspolizei diese im Februar 1943 beschlagnahmte, liessen
die Beamten in den Vernehmungsniederschriften und im Schriftverkehr
Matrizen[370]
niederschreiben. Hier einige Beispiele wie Hersteller von Schablonen
ihre Vervielfältigungsvorlagen für Mimeographen bezeichneten. QUILL:
MIMEOGRAPH STENCILS; RONEO ALCATEL: Stencils; Gestetner: 100
Stencils; Rex Rotary:
STENCIL, ROTO
Rototyp-ultra 4000 SCHABLONEN-STENCILS;
Geha Primat: Hochleistungs-Schablonen; Gestetner: DUROTYPE
62, 48 STENCILS; Pelikan·O·typ
Dauerschablone;
robertine: SCHABLONE, STENCIL. Greif-Werke: Greif-REKORD
Dauerschablonen.[371],
[372]
Eugenio de Zuccato umschreibt
1874 in seinem Patent US157161A[381]
"Improvement in processes of
producing facsimile copies of writings"
vom 24. November 1874 den Begriff Schablone.[382]
Eugenio de Zuccato spricht in
einem weiteren Patent vom 12. August 1879 mit der Patentnummer
USRE8853E[383]
"Improvement in processes for producing copies of writings"
von "stencil",
"wax-paper"
und "gauze" und in einer weiteren Patentschrift
GB189817412A[384]
vom 1. Oktober 1898 "Improvements in Perforators
for Producing Stencils"
wird über eine Seidengaze aus Messingdrähten berichtet.
Verständlich, warum in englischsprachigen Räumen über "duplicating stencil paper"
oder nur von "stencils"
und "gauze" gesprochen
wird und sich diese Fachbezeichnungen durchgesetzt haben bzw. diese
von den jeweiligen Schablonen-Herstellern Verwendung fanden.
Abbildung 44 auf Seite 111 zeigt eine Verpackung für Greif REKORD Dauer-Schablonen, der üblicherweise im Werk Goslar ein Kontrollblatt wie Abbildung 49 zeigt, beigefügt war.