4.4.3          Auflage einer Mimeographen-Schablone

Die technische Fachliteratur liefert kaum verlässliche Informationen zur Vervielfältigungsauflage. Mit Verviel­fältigungsauflage ist gemeint, wie viele Flugblattseiten 1942 und 1943 mit einer Schablone vervielfältigt werden konnten. Was die Weisse Rose betrifft, eine grundlegende Frage, die zur Flugblatt-Herstellung geklärt werden muss. Nach langer vergeblicher Suche wurde eine unkonventionelle Möglichkeit herangezogen. Eine sehr gute Orientierungshilfe bieten Reklameschriften aus damaliger Zeit. Sie sind wesentlich genauer als unbefriedigende Mutmassungen und abenteuerliche Behauptungen, die zu keinem brauchbaren Ergebnis führen.

   Aus einer Werbeschrift[280] der A.B. Dick Company, Abbildung 25, und einer Erklärung zur Patentschrift von Thomas Alva Edison vom 8. August 1876, Abbildung 26, und einer externen Werbeanzeige, Abbildung 27, geht hervor, dass die Vervielfältigungsauflage bei einer Schablone, die graphische oder handschriftliche Dar­stellungen enthielt, wie auch Noten, bei 3000 Exemplaren lag und mit Schreibmaschinenanschlag bearbeitete Schablonen, zwischen 1200 und 1500 Vervielfältigungen ermöglichten.[281], [282]

A.B. Dick Company, Werbeschrift spezifiziert, © Eric J. Nordstrom, Urban Remains Location, Chicago

Abbildung 25: A.B. Dick Company, Werbeschrift spezifiziert, © Eric J. Nordstrom, Urban Remains Location, Chicago

Abbildung 26: 1887 veränderte Albert Blake Dick die Ur-Erfindung aus dem Jahr 1876 von Thomas Alva Edison. Angeboten wurde ein Mimeograph-Typewriter, © Rutgers, The State University

Abbildung 26: 1887 veränderte Albert Blake Dick die Ur-Erfindung aus dem Jahr 1876 von Thomas Alva Edison. Angeboten wurde ein Mimeograph-Typewriter, © Rutgers, The State University

Werbeanzeige Sacramento Daily Union, Volume 91, Number 54, 21 April 1896, © California Digital Newspaper Collection, Center for Bibliographic Studies and Research, University of California, Riverside

Abbildung 27: Werbeanzeige Sacramento Daily Union, Volume 91, Number 54, 21 April 1896, © California Digital Newspaper Collection, Center for Bibliographic Studies and Research, University of California, Riverside

EYQUEM, Werbung erschienen 1920, Zeitschrift LECTURE pour TOUS, Privatbesitz

Abbildung 28: EYQUEM, Werbung erschienen 1920, Zeitschrift LECTURE pour TOUS, Privatbesitz

    Der französische Hersteller EYQUEM, Abbildung 28 und Abbildung 29, warb mit 3000 Abzügen, die mit einer Schablone möglich gewesen sein sollen. Der englische Vervielfältigungsapparatehersteller David Gestetner, Abbildung 30, warb mit 2000 Abzügen. Nicht immer spezifizierten weder Gestetner noch EYQUEM und andere Hersteller ihre Inserate in Magazinen bezüglich der Bearbeitungsart handschriftlich oder maschinelle Bearbeitung.

    Aus einer Werbeanzeige in der The Sydney Mail vom 3. September 1892 Seite 545 geht hervor: «The Caligraph is invaluable for municipal councils, bankers, stock and station agents, and storekeepers, for it can be used in conjunction with Edison's Mimeograph, so as to produce 3000 splendid copies from one typewritten stencil.»[283] Eine Caligraph-Schreibmaschine hat für jedes Schreibzeichen eine eigene Taste, besass keine Umschalttaste für die Gross- und Kleinschrift und folglich ist das Tastaturfeld gegenüber herkömmlichen Schreibmaschinen recht gross.

    In einer weiteren Werbeanzeige vom 21. April 1896 in der Sacramento Daily Union, Volume 91, Number 54 gab der Hersteller an: «Edison‘s Mimeograph It will give 1,500 copies of a typewritten letter or circular, all perfect, it will give 3,000 copies of an autographic letter or circular, all facsimiles.»[284]

EYQUEM, Werbeschrift von 1899, gemalt 1855 von Jean-Louis Paléologue

Abbildung 29: EYQUEM, Werbeschrift von 1899, gemalt 1855 von Jean-Louis Paléologue

    Der Brockhaus überliefert zwischen 1894 und 1896: 3000 Schablonen-Abzüge handschriftlich und 1500 mit Schreibmaschine beschrieben.[285]

    Vermutlich wegen des kontinuierlichen Rundlaufs konnten mit Elektromotor angetriebene Rotationsvervielfältigungsapparate eine Vervielfältigungsauflage von bis zu 5000 Exemplare mit einer Schablone erreichen. Der Hersteller wirbt 1954 über seine Schablonen: «The upper limit of production on one make of stencil duplicator is about 5,000 copies per stencil, clearly high enough to be of no controlling significance in the preparation of most reports.»[286]

   Auch Thomas Alva Edison gab 1880 bereits eine Auflage von 5000 Exemplaren mit einer Schablone bekannt.[287]

    Eine weitere Werbeanzeige, Abbildung 32, von 1922 macht erkenntlich: «1922 British Industries Fair Advert for Rotary Cyclostyle "The World's Premier Duplicator". Notice at foot of page: "Important - D Gestetner's latest invention, the "Durotype" Stencil enables you to obtain 10,000 copies from one original if desired. It contains no wax of any description, is indestructible, can be stored indefinitely and printed from as required. Manufacturer of Duplicating Machines and Accessories».[288] Das würde bedeuten, dass bereits ab 1922 mit Gestetner Durotype Schablonen 10000 Vervielfältigungsseiten eines Originals möglich gewesen sein sollen.[289] Unklar ist, wie Mitbewerber darauf reagierten.

David Gestetner, Werbeschrift von 1899, © Early Office Museum

Abbildung 30: David Gestetner, Werbeschrift von 1899, © Early Office Museum

Die Entwicklung der Schablone blieb bis heute nicht stehen.[290] Aus Werbeanzeigen der 60er und Ende der 70er Jahre konnte allerdings nicht entnommen werden, ob Gestetner die Vervielfältigungsauflage mit weiterentwickelten Schablonen steigern konnte.[291], [292], [293] Ansonsten wurde auf viel Werbung mit bunter Vervielfältigungsfarbe gesetzt. Auch andere Hersteller wie beispielsweise REX-ROTARY[294] konnten in den 60er Jahren mit elektrisch betriebenen Vervielfältigern bis zu 10000 Vervielfältigungen bieten, sicherlich auch weitere Hersteller wie Gestetner.294, [295] Nachweislich auch die ROTO-Werke Königslutter. Aus einem Werbebrief der Firma FRIEDMANN & SEUMER aus Mannheim vom 7. November 1924 geht eine Vervielfältigungsauflage mit einer Schablone von ebenfalls 10000 Seiten hervor, siehe Abbildung 31.

ROTO-Werbebrief der Firma FRIEDMANN & SEUMER aus Mannheim, vom 7. November 1924 – 10000 Abzüge von einer Schablone

Abbildung 31: ROTO-Werbebrief der Firma FRIEDMANN & SEUMER aus Mannheim, vom 7. November 1924 – 10000 Abzüge von einer Schablone

Gestetner Durotype, © Grace's Guide to British Industrial History

Abbildung 32: Gestetner Durotype, © Grace's Guide to British Industrial History

    Das Unternehmen Sears Roebuck & Co warb in ihrem Bestellkatalog 1969 oder in der Tageszeitung St. Louis Post-Dispatch am 2. März 1966 oder am 10. Februar 1965 mit einem "Electric Self-inking Mimeo". Ein Mimeograph mit automatischem Papiereinzug für eine Betriebsspannung zwischen 110 und 120 Volt bei 60 Hz Netzfrequenz. Mit einer Schablone konnten laut Herstelleraussage bis zu 20000 Vervielfältigungen erreicht werden, davon in einer Minute 60 Exemplare.[296], [297] Die Maschine wirkt elegant, gediegen und formschön. Derartige Leistungen waren 1943 mit 20000 Vervielfältigungen nicht vorstellbar. Ich fand trotz tagelanger Suche keine Hinweise darauf. Ob dann jede Schablone tatsächlich die vollmundige Werbeaussage erfüllte, sei dahingestellt. Vereinzelt war eine solch hohe Auflage bestimmt zutreffend, ganz sicher erfolgten ebenso sehr frühe Schablonenabrisse wie bei Standardschablonen. Eine ähnliche Situation dürfte wie beim Hektographen vorgelegen haben, bei dem Anwender rückmelden, dass oft schon nach 80 Vervielfältigungen eine neue Mastervorlage erstellt werden musste, eben­so betraf das den Matrizendrucker, der auch nicht immer die maximal mögliche Anzahl von 150 Duplikaten erreichte. Die Herstellerangaben beschrieben tendenziell ein Ideal, das manchmal, vielleicht auch öfter erreichbar war und im Prinzip auch zutraf. Der grosse Vorteil für Mimeographen dürfte der gleichmässige Rotationsbetrieb mit Elektromotor sein. Der kontinuierliche Gleichlauf strapaziert die Schablonen geringer als ein stop-and-go-Betrieb, mal schneller, mal langsamer, mal abrupt.

Schablone Robertine für ROTO-Vervielfältiger mit Flugblatt V, Vorderseite, Privatbesitz

Abbildung 33: Schablone Robertine für ROTO-Vervielfältiger mit Flugblatt V, Vorderseite, Privatbesitz

Das ständige Anfahren mit der Handkurbel zermürbt die Schablone am Einhängepunkt, bis sie typischerweise oben abreisst. Der optimale Farbauftrag spielt hier gewiss eine Rolle. Alle Faktoren müssen bis zum absoluten Optimum austariert sein.

    Ein Experiment zeigte mit einem ROTO-PREZIOSA und mit dem V. Flugblatt schreibmaschinengeschriebener Schablonen aus den 50er bis 80er Jahren, dass mit einer Standard-Schablone deutlich mehr als 3000 Vervielfältigungen möglich sind. Eine weitere Patentschrift vom 13. November 1944 eines namentlich nicht genannten Unternehmens verdeutlicht den Zusammenhang von Vervielfältigungsauflage und langen Papierfasern, die bei der Herstellung von Schablonen entscheidend sind.[298] Ergo, längere Papierfasern des Maulbeerbaumpapiers erreichen höhere Vervielfältigungsauflagen als kürzere Fasern. Praktisch bedeutet dies, Schablonen reissen wegen der mechanischen Belastung im Anfangsbereich der Schablone in Abhängigkeit des verwendeten Materials früher oder später ab.[299] Je länger die Fasern sind, umso höhere Kräfte kann das Papier in sich aufnehmen und umso grösser wird die Vervielfältigungsauflage mit einer Schablone sein.

Werbeschrift, Kölnische Zeitung 1943, © DuMont Service GmbH, Neven DuMont Haus, Köln

Abbildung 34: Werbeschrift, Kölnische Zeitung 1943, © DuMont Service GmbH, Neven DuMont Haus, Köln

    Neue, im 21. Jahrhundert aus Maulbeerbaumpapier hergestellte Schablonen, können laut Herstellerangaben über 1000 Vervielfältigungszyklen mit einer Schablone erreichen.[300] Als Farbe wird eine wasserbasierende Farbe verwendet. Aus der Patentschrift DE748895C[301] geht hervor, dass bis 1943/1944 Schablonen angeblich nur aus Maulbeerbaumpapier hergestellt wurden.[302] Möglicherweise kamen erst nach dem II. Weltkrieg auch Schablonenpapiere aus japanischem Reisstroh zur Verwendung.

    Die in Abbildung 34 gezeigte Werbung der Greif-Werke Goslar am Harz entstand Anfang 1943 nach der Kapitulation an der Ostfront in Russland. Der Firmengründer Carl Bruer lebte zu dieser Zeit nicht mehr.[303] Offensichtlich bestand eine gewisse Nähe zum Nationalsozialismus. Weitere Werbeschriften wurden aus Königslutter von den ROTO-Werken zuvor geschaltet. In den Werbeschriften wird 1941 noch vom Sieg gesprochen. Insgesamt tragen die Anzeigen der Greif- und ROTO-Werke einen unterschwelligen linientreuen, versteckten Unterton der nationalsozialistischen Sprache.

Werbeschrift ROTO-Werke Königslutter, Privatbesitz

Abbildung 35: Werbeschrift ROTO-Werke Königslutter, Privatbesitz

    Die Kontexte der gesichteten Annoncen aus dieser Zeit enthalten Passagen über "Sieg", "guter Kamerad" und "Pflicht". Sie sind rhetorisch geschickt verwoben mit dem eigenen Marketing, das die Produkte unter die Leute bringen soll. Das Unterbewusstsein wird suggestiv zum Eigennutz ohne Skrupel benutzt. Sie bedienen sich der eingebläuten Siegesparolen, die sich über das verhetzte Volk ergoss. Von Unrechtsempfinden, gegenüber dem begangenen Unrecht des Terrorstaates, keine Spur erkennbar. Abbildung 36 zeigt links unten an Position 22 ein weiteres Merkmal, was nicht weiter kommentiert werden muss. Auch die Greif-Werke waren als Unternehmen auf Linie der Nationalsozialisten. Dies muss nicht zwangsläufig auch für die Belegschaft gelten. Nicht alle Menschen dieses Unrechtsstaates liefen mit. Nach dem Krieg konnte der Eindruck aufkommen, kaum jemand hat irgendetwas gemacht.[304] Hohe Sozialkompetenz war notwendig, um dem nationalsozialistischen Hass, der sich gegen den Rest der Welt richtete, insbesondere gegen Juden und Andersdenkende, zu widerstehen. Robert Scholl hatte sehr früh eine zweifelsfreie Position vertreten, die er letztendlich bitter durch den Verlust seiner Kinder zu spüren bekam. Erick Kästner fasst diese Schreckenszeit in einer öffentlichen Rede prägnant zusammen: «Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen. Später war es zu spät. Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird. Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muss den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf.»[305]

Werbeschrift ROTO-Werke Königslutter, Privatbesitz

Werbeschrift ROTO-Werke Königslutter, Privatbesitz

Abbildung 36: Werbeschrift ROTO-Werke Königslutter, Privatbesitz

    Die in Abbildung 33 auf Seite 90, Abbildung 34 auf Seite 91 und Abbildung 37 zu sehenden trapezförmigen Aussparungen am oberen Rand der Schablone sind passend für die Rotationsvervielfältiger, die im Tochterunternehmen ROTO und Debego Werke in Königslutter am Elm hergestellt wurden.[306] Dort wo sich die trapezförmigen Aussparungen befinden, wird die Schablone an der Seidengaze zur Vervielfältigung eingehängt.[307] Wie schon beschrieben, das Ende der Schablone hängt lose herunter.

    Aus den Vernehmungsniederschriften wurde bekannt, dass beim Widerstandskreis Weisse Rose, bei der Flugblatt-Herstellung beim V. und insbesondere beim VI. Flugblatt, mehrere Schablonenabrisse auftraten.[308] Leider sind die Hersteller der Schablonen, die der Widerstandskreis in München zur Verfügung hatte, nicht bekannt. Lediglich, dass verschiedene Marken beschlagnahmt wurden.[309] Die Frage stellt sich auch, ob ein Verkäufer Schablonen mit hoher Vervielfältigungsauflage von bis zu 10000 Abzügen ohne Bezugschein in München verkauft hätte. Das Vorhaben wäre doch zu offensiv.

Schablonenbefestigung am Seidengaze eines ROTO-PREZIOSA, Privatbesitz

Abbildung 37: Schablonenbefestigung am Seidengaze eines ROTO-PREZIOSA, Privatbesitz

    Als Orientierung und in Anlehnung an die Gerichtsakten kann davon ausgegangen werden, dass der Widerstandskreis Weisse Rose in München mit einer Standardschablone 1942/1943 bis zu ± 3000 Flugblattseiten herstellen konnte. Diesen Eindruck lieferten auch quantitativ meine Berechnungen. So rissen die eingesetzten Standardschablonen typischerweise nach etwa ± 3000 Flugblattseiten ab, einige Schablonen auch wesentlich früher.