4.4.2          Entwicklung Seidengaze – Mimeograph

Die Beweisführung aus dem letzten Kapitel zum Vervielfältigungsverfahren, das zur Flugblatt-Herstellung vom Widerstandskreis Weisse Rose verwendet wurde, wird in diesem Kapitel fortgesetzt.

    Die Gaze eines Mimeographen, in englischsprachigen Räumen als "gauze" bezeichnet, gehört zu den zentralen Merkmalen neben Schablone, ölhaltiger Vervielfältigungsfarbe und Farbverteilungselementen. Mimeographen funktionierten damals nach dem heutigen Prinzip der Siebdrucktechnik. In der Literatur besteht wohl keine Einigkeit darüber, wann und wo sich die Siebdrucktechnik ursprünglich entwickelte. Die Schablonentechnik begann vor etwa 14000 Jahren und diente zunächst der Kunst an Wänden. Farbstoffe wurden mit einem Blasrohr durch Schablonen auf den gewünschten Hintergrund geblasen.[270] Wahrscheinlich entwickelte sich die Siebdrucktechnik in China um 618 nach Christus. Holzrahmen wurden mit Haaren und später mit Seide bespannt, die mit Papier oder Pappe als Abdeckschablone versehen wurden. Nun konnte Farbe an den freien Stellen der "Schablone" auf gewünschte Motive übertragen werden. Diese Technik wurde zunächst zum Färben von Stoffen verwendet.270 Geschlossene Zeichen wie das "O" war bei der Schablonentechnik ein Nachteil, denn anstelle eines "O" folgte ein Farbklecks. Also musste der Innenbereich geschlossener Zeichen mit geeigneter Konstruktion abgedeckt werden.[271] Auch Alexander Schmorell musste sich um diese Problematik bei seinen Schablonen zum Anpinseln der Wandparolen kümmern.[272] Durch Weiterentwicklung der Schablonentechnik wurde Ende des 19. Jahrhunderts auf festen Gegenständen wie Metall, Glas und Holz mit Schablonen gestalterisch gearbeitet. Die Siebdrucktechnik entwickelte sich zu einem erfinderischen Industriezweig.[273] 1874 liess Samuel Reese eine verbesserte Schablone in Plattenform patentieren.[274] Die Mitbewerber Albert Blake Dick und David Gestetner veränderten ihre Schablonen für die Textbearbeitung mit Schreibmaschine. Hierzu wurde ein porig gewachstes Yoshino Papier verwendet, eine Erfindung, die sich John Brodrick 1888 patentieren liess.[275]

    1907 meldete Samuel Simon eine verbesserte Schablone für die Siebdrucktechnik in London beim Patentamt an.[276] Der Rahmen war erstmals mit Seidenfäden bespannt und Stellen, die für Farbe undurchlässig sein sollten, wurden mit Flüssigkeiten ausgemalt. Die Farbe musste zunächst mit einer Bürste durch die Schablone gerieben werden. Als nächstes wurden zur Farbübertragung in Farbe getränkte Filzrollen verwendet.[277] Mit in Farbe getränkten Filzrollen hat sich einst auch Thomas Alva Edison bei seinen Versuchen beholfen.[278] Was die Vervielfältigungstechnik zum Ende des 19. Jahrhunderts betrifft, waren die Grundlagen der Siebdruck- und Schablonentechnik bereits seit Jahrhunderten bekannt. In der Literatur besteht Ungewissheit, ob aus den vorausgegangenen Entwicklungen die Schablonenvervielfältigung hervorging oder ob die Schablonenvervielfältigung eine Folge für die spätere industrialisierte Siebtechnologie darstellt. Inwieweit die Entwickler zu Themen wie Siebdruck, Schablonieren belesen waren, muss so stehen bleiben. Die Seidengaze konnte demnach eine Ableitung bereits bekannter Grundlagen gewesen sein und wurde für die Vervielfältigungstechnik für den Mimeographen als Vorteil erkannt und entsprechend für Flachbettvervielfältiger und dann kurze Zeit später auch für den Rotationsvervielfältiger eingesetzt. Mehr und mehr wird nachvollziehbar, warum ein Hektograph und ein Matrizendrucker keine Seidengaze und keine Schablone zur Vervielfältigung verwenden. Hingegen wird beim Mimeograph ölhaltiger Farbstoff durch ein perforiertes Medium hindurchgepresst. Sie unterscheiden sich, was das Vervielfältigungsverfahren betrifft, grundlegend. Weil der Greif-Vervielfältiger und der ROTO-PREZIOSA zum Vervielfältigungsverfahren Mimeograph gehört, beide eine Seidengaze für die Aufnahme der Schablone benötigen, kann die Weisse Rose aufgrund dieser Gegebenheit nur ein Schablonenverfahren, also einen Mimeographen zur Flugblatt-Herstellung verwendet haben. Umso wichtiger ist die Einhaltung eines korrekten Terminus[279]. Mimeographen sind leicht an ihrer Seidengaze erkennbar und während der Drehvervielfältiger in Betrieb ist, liegt die Schablone auf der Gaze. Die Gaze befindet sich entweder beim Flachbettvervielfältiger in einem klappbaren Rahmen oder über den Drucktrommeln eines Rotationsvervielfältigers gespannt. In beiden Varianten nimmt die Seidengaze die Schablonen für die Vervielfältigung auf. Am Drehvervielfältiger als Ausführung Mimeograph sind rechts und links um die Drucktrommeln am äussersten Rand dünne Metallbänder erkennbar, mit denen die Seidengaze transportiert wird. Ähnlich zeigt sich dies bei den Schablonen selbst. Diese werden vor Beginn der eigentlichen Vervielfältigung mit Schreibmaschinenanschlag für Farbe durchlässig geschrieben. Sie werden zwar als Schablone bezeichnet, bei näherer Betrachtung werden jedoch die filigranen Fasern des Papiers bei Durchsicht der geschriebenen Zeichen sichtbar. Letztendlich ist eine Schablone auch ein Sieb durch die Vervielfältigungsfarbe während des Vervielfältigungsvorgangs hindurchgepresst wird. Dieses "Sieb" ist jedoch so empfindsam auf Zug und Druck, dass ein weiteres stabileres "Sieb", also eine Seidengaze, die nichts anderes ist als ein Textiltuch, die Schablone schützen muss. Die empfindsame Schablone, die den Text per Schreibmaschinenanschlag enthält, wird zum Schutz und zur Führung auf die stabile und gespannte Seidengaze aufgelegt und am Anfang der Gaze fixiert. Das Ende des Schablonenpapiers hängt lose über das Ende der Gaze herunter. Die Fläche der Schablone, die den Text enthält, haftet durch Adhäsionskräfte, die zwischen Schablone und Seidengaze durch die Vervielfältigungsfarbe einhergeht. Zahlreiche Patente folgten und verbesserte Apparate damaliger namhafter Hersteller von Vervielfältigungsapparaten. Hierzu finden sich bei den Patentämtern lange Listen mit Dokumenten grossartiger Ideen. Auf ihr Schaffen konnte die Weisse Rose ab 1942 zur Flugblatt-Herstellung zurückgreifen. Viele etablierte Unternehmen, deren hochqualitative Produkte weltbekannt und beliebt waren, deren Waren lebenslang hielten, gingen vielfach im 20. Jahrhundert Konkurs. Das betraf Hersteller von Vervielfältigungsapparaten, Nähmaschinen, Grammophonen, Fahrrädern, Schreibmaschinen, Automobilen, Traktoren, Textilhersteller usw. Vermutlich erkannten die Firmenlenker zu spät, dass der rasante Fortschritt sie überholte. Sicherlich waren Deflation, Weltwirtschaftskrise, Weltkriege, Fehlinvestition, Misswirtschaft, falscher Stolz und falsche Einschätzung Ursachen für den Untergang. Wer seine Situation zu spät erkannte, kam aus dem Strudel roter Zahlen kaum noch heraus. Nur wenige Unternehmen von damals existieren heute noch. Wie immer verlieren Menschen in solchen Situationen ihren Arbeitsplatz und nicht selten auch ihre Würde und ihr Lebensglück und am Ende ihre Gesundheit, allzu oft ihr Leben.