Ukraine: Hilfe des Gewissens!


Die Weisse Rose erkannte die Gefahren des Schweigens und die Notwendigkeit, den Status quo in Frage zu stellen, auch wenn er aussichtslos schien. Ihr Mut und ihre Entschlossenheit dienen heute als Aufruf zum Handeln, sich gegen Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Menschenrechtsverletzungen auszusprechen, sei es in der Ukraine oder anderswo.

     «Das ukrainische Volk musste einen sehr hohen Blutzoll im Zweiten Weltkrieg entrichten. Wir haben mindestens acht Millionen Kriegsopfer zu beklagen, darunter über fünf Millionen Zivilisten, Frauen und Kinder, die im deutschen Vernichtungskrieg von der SS oder Wehrmacht ermordet wurden. Diese schrecklichen Zahlen schließen auch 1,6 Millionen ukrainische Juden ein, die im beinahe vergessenen Holocaust durch Kugeln von den Nazis umgebracht wurden.

     Am 8. Mai gedenken wir auch 2,4 Millionen Frauen und Männer, die als sogenannte Ostarbeiter aus der besetzten Ukraine ins Dritte Reich verschleppt wurden, wo sie, als Untermenschen versklavt, schwerste Arbeit verrichten mussten und sehr oft daran starben. Wir werden auch nie 400.000 Ukrainer vergessen, die als Häftlinge deutscher KZ-Lager erniedrigt und ausgebeutet wurden. Jeder zweite von ihnen wurde hingerichtet. Das gesamte Gebiet der Ukraine, die zwischen 1939 und 1944 von der Wehrmacht okkupiert war, wurde von der Besatzungsherrschaft total verwüstet: 700 Städte, 28.000 Dörfer, 300.000 Fabriken. Die Ukraine verlor im deutschen Vernichtungskrieg ein Viertel ihrer Bevölkerung. Von etwa 40 Millionen Kriegstoten in Europa war jedes fünfte Opfer ein Ukrainer oder eine Ukrainerin.»

(Interview Deutschlandfunk, ukrainischer Botschafter in Deutschland Andrij Melnyk im Gespräch mit Jörg Münchenberg, 8.5.2020)

     Obwohl die meisten von uns die Schrecken des Zweiten Weltkriegs nicht aus eigener Erfahrung kennen, tragen wir die Verantwortung, die Erinnerung an die Taten unserer Vorfahren wachzuhalten und aus ihnen zu lernen. Die Entscheidung der westlichen Alliierten, Nazideutschland nicht zu vernichten, sondern einen Neuanfang zu ermöglichen, war ein Akt der Gnade und Menschlichkeit, der den Weg für eine friedliche Zukunft ebnete. Die Rosinenbomber, die einst Hoffnung und Nahrung brachten, symbolisieren heute diese Grosszügigkeit und den Willen zum Wiederaufbau.

     Wer heute behauptet, der Krieg in der Ukraine habe nichts mit ihm zu tun, weil er die Schrecken des Zweiten Weltkriegs nicht selbst erlebt hat, verkennt die tiefe Verbundenheit unserer Gegenwart mit der Vergangenheit. Unser heutiger Wohlstand in Deutschland ist nur dank der Grosszügigkeit und des Verzichts auf Rache seitens der westlichen Alliierten möglich geworden. Ohne ihre humanitäre Hilfe würden viele Menschen in Deutschland heute nicht leben, viele wären nie geboren worden.

     Die verweigerte NATO-Mitgliedschaft der Ukraine, unter deutscher Beteiligung, war ein folgenschwerer Fehler, der sie nun in eine prekäre Situation zwingt, in der sie auf ständige Hilfsgesuche angewiesen ist. Deutschlands Verhalten in dieser Krise wirft ein beschämendes Licht auf das Land.

     Die Ukraine kämpft nicht nur für ihre eigene Freiheit und Souveränität, sondern auch für die Werte der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der europäischen Wertegemeinschaft, die unsere Zukunft sichern sollen. Angesichts der mörderischen russischen Aggression und der immensen humanitären Katastrophe, die sie in der Ukraine verursacht hat, ist es zwingend erforderlich, dass Deutschland der Ukraine viel entschiedener und umfassender hilft. Selbst wenn dies bedeutet, dass Deutschland sich finanziell höher verschulden muss. Deutschland muss ihnen in dieser Not helfen, ohne dabei stets die eigene Sicherheit bei jeder Gelegenheit zu betonen, denn diese hatte die Ukraine im Zweiten Weltkrieg auch nicht, denn wir waren es, die die Greuel an ihnen verübten.

     Die territoriale Integrität im Völkerrecht schützt Staatsgrenzen vor unrechtmässigen Eingriffen und Ansprüchen anderer Staaten. Sie dient der Stabilität und dem Weltfrieden durch die Achtung und die Anerkennung der internationalen Gemeinschaft für diese Grenzen, unabhängig von militärischer Macht.