9           Quintessenz

Was hat die "Experimentelle Rekonstruktion" zur Flugblatt-Herstellung gebracht?

    Vom geschichtlichen Hintergrund und dem technischen Wissen einmal abgesehen. Die technische Detailvorarbeit und das eingearbeitete Bewegungsprofil erreichten für den Donnerstag, den 18. Februar 1943, eine besondere Bedeutung. Ursprünglich wollte ich mich zum Donnerstag und zur Märtyrerfrage nicht äussern, weil beide Themen eher zu den Biographien gehören. Doch die Erkenntnisse aus dem Bewegungsprofil sind alles andere als nebulös. Indizien und einige wenige Hypothesen waren ausschlaggebend, das Thema aufzugreifen, auch weil viele Menschen nach dem warum fragen und dabei jenen unglücksbringenden Donnerstag meinen. Ich habe zum Teil über verschiedene Sachverhalte sehr lange nachdenken müssen, verbunden mit vielen nächtlichen Friedhofsbesuchen.[2537] Erst mit der Zeit, während der Rekonstruktion, entstand allmählich ein Bild zu den damals stattgefundenen Ereignissen. Massgebend war die Mitteilung durch Gisela Schertling zum 15. Februar 1943, als der Widerstandskreis für ein paar Stunden die Bearbeitung des Postversands wegen eines Besuches durch Otto Aicher ins Atelier verlagerte. Parallel fiel dann sofort produktionstechnisch der Vortag auf, als Sophie Scholl, Hans Scholl und Alexander Schmorell noch in der Nacht zum 14. Februar 1943 zum Adressieren übergingen. Ab diesem Zeitpunkt wurde deutlich, wie früh die Aktion in der Universität bereits geplant sein musste. Einst ein Indiz, das sich zwischenzeitlich als Fakt herausstellt, lässt am Ende nicht den geringsten Zweifel aufkommen, dass ein famoses Notfallszenario einen vielversprechenden und zugleich extrem lebensgefährlichen Plan absicherte. Deckungsgleiche Absprachen gegenüber der Geheimen Staatspolizei sollten sie im Fall einer Festnahme retten. Ihre ausgetüftelte Planung überschattete lediglich eine nicht zu Ende geführte Eigensicherung ihrer gemeinsamen Wohnung in der Franz-Joseph-Strasse 13b. Sophie Scholl in ihrer Vernehmung: «Mein Bruder, der über die Flugblätter lachte, steckte seines in die Tasche, während ich meines in meine Mappe oder meine Manteltasche eingesteckt habe.»[2538] Hans Scholl antwortet zum gleichen Sachverhalt: «Von diesen Flugblättern habe ich auch eines aufgehoben und in die innere Rocktasche gesteckt, ohne es zu lesen. Erst später, und zwar solange ich nach meiner Festnahme heim Syndikus warten musste, habe ich dieses Flugblatt gelesen.»[2539]

    Nichts deutet darauf hin, dass eine äussere Ursache den Anlass für einen kurzfristigen oder gar sofortigen Aufbruch zur Auslegung von Flugblättern in der Ludwig-Maximilians-Universität gab. Die Aussage ihres Professors Kurt Huber bekräftigt, dass schon vor dem 8. Februar 1943 ein Gespräch mit Hans Scholl stattfand, möglicherweise im Zusammenwirken mit Sophie Scholl vor ihrer Abreise am 5. Februar 1943. Hans Scholl bat seinen Professor, er möge einen Flugblatttext im Stil eines jungen Studenten aufsetzen. Alleine die Formulierung "im Stil eines jungen Studenten" lässt erahnen, was da kommen soll. Und ihr Professor nahm die Bitte wortwörtlich: «…Gauleiter greifen mit geilen Spässen den Studentinnen an die Ehre…».[2540]

    Am Ende meiner Aufarbeitung fiel mir auf, dass neue Erkenntnisse aus den Untersuchungen einigen bereits bekannten Indizien, die bisher eher isoliert wahrgenommen wurden, einen neuen Bezug in der Form verleihen, dass sie durch eine Vernetzung untereinander einen Sinn zum grossen Ganzen erfahren. Nach 1943 erfuhr die Flugblatt-Herstellung kaum an Bedeutung. Manches Detail erhielt folglich nur geringfügig oder keine Beachtung. Wie die Ärztin Traute Lafrenz-Page mitteilte: «Es hatte sich alles so etwas sehr zugespitzt…». Tatsächlich hat sich zum Donnerstag, dem 18. Februar 1943, ein wohldurchdachter, mehrstufiger Plan in seiner Art der Ausführung zugespitzt, das auch die Flugblatt-Herstellung durch das eingearbeitete Bewegungsprofil aufzeigt.

    Ich hatte mir für meine Rekonstruktion ein wichtiges Anliegen vorgenommen, möglichst allen gleichmässig Ausdruck zu verleihen. Hans Scholl und Sophie Scholl bildeten in der zweiten Phase ab Sommer 1942, zusammen mit ihren Freunden Alexander Schmorell und Willi Graf die zentrale Rolle des Widerstandskreises, unterstützt von ihrem Professor Kurt Huber und gegen Ende durch Christoph Probst. Auf besondere Weise prägten Hans Scholl und Sophie Scholl diesen Widerstandskreis bis zum tragischen Ende. An dieser Tatsache führt kein Weg vorbei. Sie ergänzten sich in idealer Weise durch das Schmieden von zahlreichen Ideen und unerschrockener Ausführung. In der ersten Phase trifft dies für Hans Scholl und Alexander Schmorell ab etwa Mai 1942 zu, wenn auch Sophie Scholl möglicherweise im Mai 1942[2541] den Anlass für ihr Handeln gegeben haben dürfte. Meine ursprüngliche Intension, neben der Rekonstruktion, ist mir nicht gelungen. Für alle Mitbeteiligten tut mir das aufrichtig leid. Ich habe dennoch versucht, bestmöglich jedem, um die Geschwister Scholl, einen angemessenen Raum der Würde, für ihre ebenso wichtige Beteiligung am Widerstand zu geben.

    Ich hätte gerne mehr für das Gesamtergebnis erreicht und muss gleichzeitig anfügen, der bisher erreichte Stand der Rekonstruktion war nur möglich, weil permanent am Limit gearbeitet wurde.

    Die meisten Erkenntnisse liessen sich durch Quellen belegen. Zur Rekonstruktion wurde insbesondere bei den Hypothesen eine Technik der Gegenübertragung angewendet. Die Gegenübertragung beschreibt eine gefühlsmässige Reaktion, die wir subjektiv wahrnehmen und überprüfen, differenziert ihre Wirkungsweise auf uns und ist nicht die Ursache der Quelle. Zur subjektiven Wahrnehmung gehören beispielsweise Situationen und Ereignisse in Form von Verhalten eines Menschen oder einer Gruppe oder wie wir Kunst erleben usw. Ein als schlecht empfundenes Kunstwerk kann zur Erkenntnis führen, nicht das Werk ist schlecht und schon gar nicht der Mensch, der das Werk erstellte. Dann folgt die Frage, wo liegt dann das Problem? Mit dieser Methode lassen sich viele Fehleinschätzungen unterbinden.

    Ich hoffe, ich habe ihr Sinnen bestmöglich, dennoch wertneutral und würdig zur Wissenserhaltung und zur weiteren Überlieferung der Nachwelt wiedergegeben, so wie das Willi Graf wünschte.

 

Willi Graf 1943

 

«Sie sollen weitertragen,

was wir begonnen haben»[2542], [2543]

 

   Hans Scholl 1943 mit letzten Worten seines kurzen Daseins, einen kurzen Augenblick vor seinem Tod, an die Nachwelt:

 

«Es lebe die Freiheit!»[2544]