7           Letzte Aktion

Die strikte Trennung in Biographie und Widerstandstechnik kann die Aufarbeitung im Einzelfall zum Widerstandskreis Weisse Rose und ihrem Umfeld in Bedrängnis bringen. Vielversprechender, zumindest an einigen Stellen der Historie, dürfte eine ganzheitliche Betrachtungsweise sein, bei der die Biographien und die Widerstandstechnik zur Klärung von Sachverhalten zusammen einbezogen werden. An verschiedenen Stellen wurde gezeigt, dass Absprachen vorlagen und dass auf eine Eigensicherheit geachtet wurde, wenn am Ende auch nicht mehr so konsequent wie zu Beginn ihres Widerstandes. Hans Scholl äusserte bei seiner Vernehmung, er habe angeblich gegen Ende Januar 1943 einmal "5000" Flugblätter alleine ausgelegt.[2528] Sophie Scholl erwähnte bei ihrer Vernehmung, die Flugblätter seien angeblich von ihr und ihrem Bruder alleine in zwei Nächten hergestellt worden.[2529] Eindeutige Absprachen, die in verschiedenen Kapiteln zum besseren Verständnis detailliert erläutert wurden, siehe beispielsweise Seite 333 "Grundsatzaussage alles alleine bewältigt – Flugblatt V-VI", Seite 352 "Vervielfältigungszyklus pro Flugblattseite – Flugblatt V-VI", Seite 375 "Fehlerbetrachtung Flugblattauflage – Flugblatt V-VI" – Schnittmenge. Diese und weitere Absprachen wurden zum Schutz ihrer Freunde und Unterstützer getroffen und der Geheimen Staatspolizei untergeschoben. Ihr Verhalten bezeugt ein weitsichtiges Handeln durch einen dritten Plan für die absolute Katastrophe, im Falle, dass sie sich den ihnen zur Last gelegten Anschuldigungen nicht mehr erwehren können. Dies wurde zur schwierigsten Herausforderung ihres Widerstands und wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit, durch eine zu Ende geführte Eigensicherung bezüglich ihrer Wohnung, vermeidbar gewesen. Äussere günstig erscheinende Umstände,[2530] die von Hans Scholl und Sophie Scholl zurecht als realistische und vielversprechende Chance wahrgenommen wurden, verlangten von beiden durch das nahende Semesterende und dem Ausbleiben von Reaktionen auf ihren Widerstand, eine aussergewöhnlich geplante Vorgehensweise und durch Absicherung dieser mit Plan B.

 

Günstige Gegebenheiten

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Der Krieg ist bald zu Ende (einige aus ihrem Umfeld teilten diese Einschätzung)

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Vor fünf Wochen prügelten sich Studenten mit Staatsvertretern im Deutschen Museum, bestimmt auch am Donnerstag

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Revolutionäre Stimmung der Studentenschaft, fehlt nur noch der zündende Funke, andere denken Gleiches wie wir

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Niedergang von Stalingrad, der Mehrheit reicht's, "Nieder mit Hitler", "Massenmörder Hitler!", "Freiheit"

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Kommilitonen werden bei der Aktion im Notfall beistehen und uns nicht im Stich lassen

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Effektiv, Aktion direkt in der Höhle des Löwen

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Nachahmung + Anbindung an andere Universitäten + Widerstandsgruppen + Wehrmacht…

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48 Stunden vorher wird ein Teil der Studentenschaft schon mal mit einem exklusiven Flugblatt per Post eingestimmt, damit sich der Protest wie im Deutschen Museum wiederholen lässt, als verdeckte Ankündigung vorweg Wandparolen

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Universitätsaktion als Mittel zur Erhaltung der europäischen Idee

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Zwei Flugblattentwürfe können geliefert werden

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Ausgeklügelter mehrstufiger Plan liegt zur Aktion vor

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Plan B mit Absprachen gegenüber der Geheimen Staatspolizei im Fall einer Festnahme, jeder steckt sich ein Flugblatt in die Tasche

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Absicherung durch Selbstbelastung (Alibi Gisela Schertling, vor der Aktion noch gelesen)

 

Ablauf

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Dienstag. 16. Februar 1943, letzter Postversand, die Aktion beginnt, dem in der Nacht Wandparolen folgen

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Mittwoch, 17. Februar 1943, Reiseplanung, Vorlesung, Besuch, Zeitpuffer gut 24 Stunden

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Fest vereinbarte Terminierung: Donnerstag, 18. Februar 1943, Vormittag Aktion in der Universität, Nachmittag Abreise Sophie Scholl mit Otto Aicher nach Ulm, Anlieferung Vervielfältigungsapparat an Hans Scholl

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Hans Scholl plant zum Samstag 20. oder Sonntag 21. Februar 1943 einen Besuch bei den Eltern in Ulm

 

Ungünstige Gegebenheiten

Semesterende schon am 27. Februar 1943

Sommersemester beginnt erst wieder zum 29. April 1943

Donnerstag, 18. Februar 1943, nur diese eine Möglichkeit, keine Alternative und kein Alternativtermin möglich

Prüfungsvorbereitung ins Kurzzeitgedächtnis, Staatsexamen Hans Scholl, Prüfungen Sophie Scholl

Freitag, 19. Januar 1943, viele gehen schon ins Wochenende zum Lernen und sind für eine Aktion nicht mehr erreichbar

Ab Freitag, 19. Februar 1943 und sicher Montag, 22. Februar 1943, wird wegen bevorstehender Prüfungen die Universität nicht mehr vollbesetzt sein

Keine Aktion kurz vor und nicht während den Prüfungen

Nach den Prüfungen ist die Universität leer

Flugblätter sind nur zum jetzigen Zeitpunkt im Zusammenhang mit Stalingrad passend

Kaum Zeit, kaum Material, kaum Geld

Keine weitere Grossaktion mehr möglich, alternativ nur eine zentrale Aktion inmitten der Universität

Briefsendungen erreichen die eigene Adresse nicht mehr, sie werden abgefangen, eine Frage der Zeit, wann alles abgefangen werden würde, deshalb Aktion in der Universität

Anwerben von Mitunterstützern fast ausgeblieben

Hohe Kosten belasten alle

Widerstandskreis darf sich wegen Erfolglosigkeit nicht verlieren

Hochriskante Aktion in der Universität direkt vor Vorlesungsende, vor allem der Flugblatt-Abwurf von der Balustrade in den Lichthof

Aktion könnte scheitern – Festnahme mit allen Folgen

Konspirative Wohnung voller Beweismittel

Alarm von Hans Hirzel ausgeblieben

Bisher kein Erfolg feststellbar – Enttäuschung, vielleicht tiefe Enttäuschung, WIR brauchen unbedingt einen ERFOLG

Wochenlange Dauerbelastung + Müdigkeit

Jetzt muss eine wirkungsvolle Aktion stattfinden, trotz ungünstiger Gegebenheiten, obwohl vieles dagegenspricht

Während der Aktion müssen zur Not bei einer drohenden Verhaftung die Kommilitonen eingreifen

Plan 3 durch abgesprochene Selbstbelastung zum Schutz der Freunde und Unterstützer

WIR müssen das machen und schaffen

 

    Sophie Scholl und Hans Scholl mussten spätestens am 15./16. Februar 1943 mit dem abgehenden Postversand an ihre Kommilitoninnen und vermutlich vorwiegend Kommilitonen entscheiden, ob sie diese extrem lebensgefährliche Aktion durchführen. Viele gute Einzelgründe lagen vor, die dazu bewogen, diesen Weg mit hohem Risiko dennoch zu gehen. Etwa 1110 Kommilitoninnen und Kommilitonen ihrer Universität waren ein bis zwei Tage zuvor anonym durch die Post vorab informiert, dem die eigentliche Hauptaktion folgt. Die zuvor an Hausfassaden angebrachten Parolen dienten zur Fokussierung der Hauptaktion. Für eine weitere grosse Aktion wie sie zu Beginn des 20. Januar 1943 stattfand, bot sich bis zum 18. Februar 1943 nicht mehr. Dafür war in ihrer Widerstandkasse zu wenig Geld und zu wenig Zeit für die Vorbereitungen eines grossangelegten Vorhabens. Der Donnerstag des 18. Februar 1943 dürfte mit dem extrem hohen Lebensrisiko so angenommen worden sein, wie er sich für Hans Scholl und Sophie Scholl anbot. Noch nie wurde zuvor ein so grosses Risiko für eine Aktion auf sich genommen, wie am 18. Februar 1943. Ihnen muss bewusst gewesen sein, dass bei ihrer letzten Aktion etwas misslingen könnte und sie folgten dennoch ihren Überzeugungen und ihrem Gewissen. Diese einzige Möglichkeit sollte wahrgenommen werden. Anders ist das emphatisch "kaum" erklärbar. Drei Hauptprobleme belasteten das hohe Risiko der Flugblattauslegung in der Universität: Zurückgebliebene Beweismittel in ihrer Wohnung, zu wenige Studentinnen und Studenten, die bei der bevorstehenden Verhaftung protestieren hätten können, die Mehrheit der Studentenschaft dürfte für einen solchen Widerstand sehr wahrscheinlich noch nicht soweit gewesen sein, wenn überhaupt jemals.

    Durch ihre Vorgehensweise könnte der Eindruck entstehen, als ob keiner sie von ihrem letzten Plan abbringen konnte und ein solcher muss vorgelegen haben. Dies machen zu viele Indizien deutlich. Dass sie andere damit ebenfalls in höchste Lebensgefahr brachten, war ganz sicher nicht beabsichtigt. Das dürfte nicht zu ihrem Naturell gepasst haben. Dies belegen die gesamten Vernehmungsniederschriften, Briefe, Tagebucheinträge und persönliche Notizen. Für die Todesurteile und drohenden Urteile für ihr Umfeld sind sie ganz gewiss nicht verantwortlich, das haben andere entschieden und von wieder anderen die "Angelegenheit"[2531] erledigen lassen. Sie waren jung und ehrgeizig, wollten die Weltkatastrophe nicht länger hinnehmen. Davon darf heute ziemlich sicher ausgegangen werden, sie glaubten unbedingt an sich, an ihre Aufgabe, an ein Gelingen, das deshalb keine Rückmeldung an die Freunde bedurfte, vielleicht auch, um diese nicht zu verunsichern. Der Verführer muss endlich weg, so lauteten Wandparolen «Nieder mit Hitler», «Massenmörder Hitler! », «Freiheit».

    Massgeblich zum tragischen und bitteren Ausgang am Donnerstag beigetragen haben, dürfte nach eigenen Worten durch Hans Scholl die Tatsache: «Ich habe von keiner Seite zu dieser Aktion einen Widerhall gefunden.»[2532] Dies war seine Erkenntnis nach der Flugblattauslegung in München, die am 28./29. Januar 1943 von Hans Scholl, Alexander Schmorell und Willi Graf durchgeführt wurde. Realistisch bot sich nur noch der Donnerstag an und auch ausschliesslich nur noch in der Universität. Sie mussten etwas Neues versuchen. Mit dem Flugblatt-Text war die Zielgruppe inhaltlich bereits vorgegeben und machte ein anderes Vorhaben in der zur Verfügung stehenden Zeit neben den anstehenden Prüfungen tendenziell unmöglich. Ihre Persönlichkeit dürfte deshalb im Zusammenhang mit der Flugblattauslegung in der Universität in Einklang stehen. Sie bleibt als Tatsache in aussergewöhnlicher Weise der Nachwelt erhalten.

    Auch wenn manches nicht mehr nachweisbar ist, suchen Menschen verständlicherweise nach Antworten, insbesondere weil viele schon so lange darauf warten. Wo sich habhaft Antworten aufgrund von Gegebenheiten anboten, wurden wertneutrale und zugleich naheliegende, jedoch unerwiesene genannt. Dies betrifft nur ganz wenige Stellen im Gedenkbuch und diese wurden im Kontext kenntlich wiedergegeben.