6           Hass, Massenmord, Vernichtung, Vertuschung

Am 25. März 1942 schreibt die in Polen lebende Jüdin Renia Spiegel in ihr Tagebuch: «Sie schließen unser Quartier, sie treiben Menschen aus der Stadt. Überall gibt es Verfolgungen, Rechtswidrigkeiten. Und dazu gibt es den Frühling, Küsse, süße Liebkosungen, die mich die ganze Welt vergessen lassen.»[2516], [2517] Bereits im Mai 1942 bittet Sophie Scholl ihren Lebensgefährten Fritz Hartnagel um einen Bezugschein zum Erwerb eines Vervielfältigungsapparates.[2518] Währenddessen versteckt Zygmunt Schwarzer, der beim Polnischen Widerstand aktiv ist, seine verehrte Renia Spiegel, ihre Schwester Ariana Spiegel und seine Eltern vor den deutschen Einsatzkommandos. Im Sommer 1942, als Hans Scholl und Alexander Schmorell ihre letzten Vorbereitungen für die Vervielfältigung ihres ersten Flugblatts treffen,[2519] fliegt ihr Versteck auf. Seine Verehrte und seine Eltern werden um den 25. Juni 1942, sieben Tage nach dem 18. Geburtstag von Renia Spiegel, auf offener Strasse im Ghetto von Przemyśl erschossen. Zygmunt Schwarzer notiert in ihr Tagebuch: «Drei Schüsse! Drei Menschenleben verloren! Alles, was ich hören kann, sind Schüsse, Schüsse.» Weil Ariana Spiegel anderweitig von ihm untergebracht wurde, überlebte sie den Krieg. Kurz vor seinem Ableben schreibt Zygmunt Schwarzer noch ein letztes Mal in ihr Tagebuch: «Ich habe Renias Schwester gesehen. Diese Blutverbindung ist alles, was ich noch habe. Es ist 41 Jahre her, dass ich Renia verloren habe.... ...Dank Renia habe ich mich zum ersten Mal in meinem Leben verliebt, tief und aufrichtig. Und ich wurde von ihr auf eine außergewöhnliche, unheimliche, unglaublich leidenschaftliche Weise geliebt.».2516, 2517 Während Sophie Scholl ab August 1942 Eugen Grimminger zur Mitwirkung im Widerstand näher in Augenschein nimmt, wird Anfang August Janusz Korczak, der seine Rettung mehrfach ablehnte, zusammen mit Stefania Wilczynska und weiterem Personal und etwa 200 ihm anvertrauten Kindern in das Vernichtungslager Treblinka deportiert. Um den 5. August 1942 kamen sie in der Gaskammer durch qualvolle Erstickung zu Tode.[2520] Gleiches widerfuhr der später heiliggesprochenen Edith Stein als Nummer 44074 in Auschwitz-Birkenau am 9. August 1942 ebenfalls durch Gas.[2521] Die Ärztin Johanna Geissmar starb sehr wahrscheinlich in Auschwitz-Birkenau bereits am Ankunftstag, dem 14. August 1942 durch Gas. Oberschwester Pauline Maier wird ebenfalls im August 1942 nach Auschwitz deportiert und wurde vermutlich am gleichen Tag auf die gleiche Weisse in Auschwitz aus dem Leben gerissen.[2522] Widerstandskämpfer Herbert Baum, zugehörig der kommunistisch-jüdischen Gruppe, entschloss sich nach seiner Verhaftung wegen Ausweglosigkeit dazu, sich am 11. Juni 1942 das Leben zu nehmen.[2523], [2524] Fast zwei Jahre später, ergeht der blanke Hass an unzähligen Widerstandskämpfern des 20. Juli 1944, dem ein grauenvolles Foltern und Töten folgt. Die wenigen Genannten stehen für Millionen von Menschen, die durch die gleiche unvorstellbare Grausamkeit zu Tode gebracht oder in den Suizid getrieben wurden. Sophie Scholl, ihr Bruder Hans Scholl und ihre Freunde haben dieses Ausmass von Gräuel zum Teil erfahren und konnten sicherlich Schlimmeres erahnen, einige wenige dürften sie unter den Opfern gekannt haben. Gleiches geht ebenfalls aus ihren Flugblattinhalten hervor.[2525], [2526] Hier wäre die Familie von Eugen Grimminger an erster Stelle zu nennen. Hans Scholl könnte von den menschenverachtenden Drangsalierungen an Juden gewusst haben, durch Eugen Grimminger selbst, von Sophie Scholl oder vom Vater Robert Scholl durch Manfred Eickemeyer und Falk Harnack. In ihren Flugblättern nennen sie das Unrecht, das sie bisher erreichte, beim Namen. Ihre Wandparolen[2527] machen im Februar 1943 mit kurzen Kontexten unmissverständlich in der Innenstadt von München deutlich, wer für den Massenmord verantwortlich ist. «Massenmörder Hitler!»