2           Weisse Rose München – Auflage, Vervielfältigungszyklus

Als eine Herausforderung erwiesen sich die Zahlenangaben in den Vernehmungsniederschriften zur Produktion. Insbesondere betrifft dies die letzten beiden Flugblätter V und VI.[2420]

    Die Flugblattauflage für die ersten vier Flugblätter im Sommer 1942 lag bei etwa 100 Exemplaren pro doppelseitigem Flugblatt. Durch die Doppelseite kommen insgesamt 800 Flugblattseiten per Handabzug mit einem Greif-Vervielfältiger zusammen.[2421] Wegen der manuellen Aufwendung kann sicher davon ausgegangen werden, dass die Flugblattauflage von Hans Scholl und Alexander Schmorell auf jeweils 100 Flugblätter (200 Flugblattseiten) pro Flugblatt-Version reduziert wurde, wenn technisch auch bis zu ± 3000 Flugblattseiten mit der gleichen Schablone möglich gewesen wären.

    Die Herausarbeitung der Flugblatt- und Postversandauflagen gestaltete sich für das V. und VI. Flugblatt schwierig, weil sich die Beteiligten der Produktion bei ihren Vernehmungen alle Mühe gaben, den dazugehörigen Kontext, zum Schutz des Umfeldes, dermassen zu entstellen. Nach Abschluss aller Berechnungen zur gesamten Flugblattauflage stellte sich heraus, dass viele Zahlenangaben, die in den Vernehmungsniederschriften protokolliert wurden, real zutrafen und deshalb nur einige wenige Abweichungen begründet als Zahlenausreiser bei den Berechnungen aussen vor blieben oder eine erweiterte Betrachtung zugrunde gelegt werden musste. Die Vorgehensweise der einzelnen Rekonstruktionsschritte zu verschiedenen Problemkonstellationen mag nach aussen teilweise hypothetisch, konstruiert und zurechtgerückt erscheinen, doch in der Zusammenführung der Einzelergebnisse kann der Eindruck eines ganzheitlichen Bildes durchaus nachempfunden werden. Mehrere Konstellationen stützen die hohe Vervielfältigungsauflage zum V. und VI. Flugblatt. Sophie Scholl bestätigte die Beschaffung von 10000[2422] Blatt Saugpostpapier. Davon wurden 1000 Blatt beschlagnahmt.[2423] Die einzelnen Vervielfältigungsauflagen bezüglich der Verbreitungsorte und in der Addition, der Teilauflagen auf das V. und VI. Flugblatt bezogen, wurden von Sophie Scholl am genauesten wiedergegeben. Die in den Vernehmungsniederschriften grösstenteils exakt angegebenen Flugblattauflagen, abgelesen am Zählwerk des Rotationsvervielfältigers, führten in einem Fall zu einer geschwisterlichen Schnittmenge. Erfüllbar ist diese Konstellation der Geschwister Scholl nur, wenn beide Aussagen zutreffen und diese so die gesamte Flugblattauflage von 15000 Flugblattseiten rechnerisch letztendlich mitbestimmen.[2424] Die Einzelangaben zur Flugblattauflage durch Hans Scholl, Alexander Schmorell und Willi Graf untermauern die angesprochene Konstellation.

    Die Berechnungen zur Flugblattauflage für die Flugblätter V und VI, Adressierung, Kuvertierung, Frankierung der Briefsendungen, die Materialbeschaffung und die finanziellen Möglichkeiten erweisen sich als schlüssig.[2425] Dazu gehören auch die zeitaufwendigen handschriftlichen Adressennotizen zum V. Flugblatt und generell die zeitlichen Aufwendungen zur Produktion der letzten beiden Flugblätter.[2426]

    Würden herausgearbeitete Erkenntnisse grundlegend fehlerbehaftet sein, bezüglich der angeblichen Ausstreuung von 5000 Flugblättern in einer nächtlichen Aktion,[2427] oder den grossen Briefmarkeneinkauf von 4450[2428] Stück durch Hans Scholl betreffend,[2429] oder der Vervielfältigungszyklus von 3 Sekunden und der daraus interpretierten Arbeitsteilung am Rotationsvervielfältiger,[2430] oder der Postversand Stuttgart mit 1300 Briefsendungen, die bereits in München postfertig bearbeitet gewesen sein dürften,[2431] würde sich das enorm auf das Gesamtergebnis auswirken.

    Zwischen Januar und Februar 1943 vervielfältigte der Widerstandskreis etwa 6000 Flugblätter des doppelseitigen V. und etwa 3000 Exemplare des letzten VI. Flugblatts mit einer Seite und verbreiten beide Versionen in Teilauflagen in München und verschiedenen Städten durch Kurierfahrten. In der Summe ergeben sich 15000 Flugblattseiten.[2432] Nichts deutet darauf hin, dass mehr als 9000 Flugblätter bzw. 15000 Flugblattseiten vervielfältigt wurden. Das entsprach einer Grossauflage, denn der Widerstandskreis konnte solch gewaltige Mengen an Saugpostpapier nur unter erheblichem Risiko beschaffen bzw. käuflich erwerben, vor allem in Zeiten als Papierwaren nur rationiert zum Verkauf ausgegeben wurden, oder Briefumschläge zeitweilig nicht erhältlich waren. Die Addition der einzelnen Herstellungsauflagen bestätigen in der Summe etwa 15000 Flugblattseiten. Das Ergebnis bedarf keiner gesonderten Erklärung bezüglich einer Abnormität. Die Briefsendungen belaufen sich, abgezogen der 140[2433] Briefmarken, auf etwa 4310 Stück.[2434] Fast die Hälfte der hergestellten Flugblätter V und VI kamen zur Post, der Rest von 3990[2435], [2436] Flugblättern wurde fast ausschliesslich in München verbreitet. Sophie Scholl teilte gegenüber der Geheimen Staatspolizei mit, dass 3000 bis 4000 Briefsendungen[2437] in Umlauf gebracht wurden. Zur Verfügung seien 2000 Briefumschläge gestanden.[2437] Dass nur ca. 10[2438] bis 20[2439] Schablonen als Vervielfältigungsvorlage für die Vervielfältigung ihrer Flugblätter notwendig wurden und eine weitere Anzahl an Schablonen, die Alexander Schmorell am 28. Januar 1943 kaufte,[2440] liegt am angewendeten Vervielfältigungsverfahren mittels Mimeograph. Eine damalige Standardschablone konnte 1943 bis zu ± 3000 vervielfältigte Flugblattseiten und teilweise auch mehr erreichen, andere Schablonen sogar bis 5000, 10000 und 20000.[2441] Die drei zuletzt genannten Schablonentypen standen dem Widerstandskreis sehr wahrscheinlich nicht zur Verfügung, bzw. die letztgenannte definitiv nicht, weil diese erst ab etwa 1965 erhältlich war. Technisch und rechnerisch ergaben sich keine Hinweise, dass der Widerstandskreis Spezialschablonen zur Vervielfältigung verwendete. Solche Schablonen wurden sicherlich nicht ohne Bezugsschein im Handel angeboten. Schwierig gestaltete sich, glaubwürdige Details über Schablonen zu erlangen, aus denen hervorgeht, wie viele Flugblattseiten mit einer Schablone vervielfältigt werden können. Deshalb wurde auf Werbeschriften zurückgegriffen. Bei so hohen Auflagen wie sie der Widerstandskreis mit Hilfe von Schablonen in Umlauf brachte, scheiden Hektograph und Matrizendrucker definitiv aus. Letzteres gilt auch heute noch, denn in kleinen Auflagen werden Matrizendrucker und Mimeographen ausserhalb Europas einschliesslich Zubehörmaterial, wegen der geringen Anschaffungs- und Verbrauchskosten, noch gebaut.[2442]

    Für 15000[2443] Flugblattseiten hätte der Widerstandskreis weit mehr als 100 Umdruckoriginale[2444] bei der Anwendung eines Matrizendruckers und mehr als 150 "Mastervorlagen"[2445] für den Hektographen schreibmaschinentechnisch bearbeiten müssen. Ein sehr grosser Arbeits- und Stundenaufwand wäre vom Widerstandskreis abzuleisten gewesen. Beides wird ganz sicher verneint und deshalb ausgeschlossen.

    Bei ihren Vernehmungen verwendeten Hans Scholl und Alexander Schmorell einen speziellen Begriff, der typischerweise beim Vervielfältigen mit Mimeographen verwendet wird. Das verwendete Papier kann durch die Eigenschaft voluminös und saugfähig ölhaltige Vervielfältigungsfarbe sehr gut aufnehmen und wird deshalb definitiv nicht bei Hektograph und auch nicht beim Matrizendrucker eingesetzt. Das Vervielfältigungspapier nannten Hans Scholl und Alexander Schmorell Saugpapier (Saugpostpapier).[2446] Die letzten beiden Flugblätter wurden mit einem Rotationsvervielfältiger ROTO-PREZIOSA aus dem Hause ROTO und Debego Werke aus Königslutter am Elm hergestellt. Weil dem Rotationsvervielfältiger als Edelversion mit Staubschutzabdeckung aus Holz kein automatischer Papiereinzug zur Verfügung gestanden haben kann, spricht aufgrund der Berechnungen, Aussagen bei den Vernehmungen und zeitlicher Konstellationen alles dafür, dass der Widerstandskreis die Flugblattseiten zu zweit vervielfältigte. Durch diese Massnahme verkürzt sich der Vervielfältigungszyklus einer Flugblattseite von ungefähr 6 auf etwa 3 Sekunden.[2447] Dies dürfte die Erklärung sein, warum der Widerstandskreis die vielen Flugblattseiten trotz Erschwernissen unter zum Teil erheblichem Zeitdruck herstellen konnte. Interesse bekam in diesem Zusammenhang der Vervielfältigungszyklus, weil aus ihm hervorgeht, warum dem Widerstandskreis eine Vervielfältigung von 15000 Flugblattseiten in 11 Arbeitsstunden, also an einem Nachmittag, nicht möglich war und warum Hans Scholl bei Eugen Grimminger um einen leistungsfähigeren Vervielfältigungsapparat bat.[2447] Dies wurde durch Berechnungen ausgiebig dargestellt. Mit Mimeographen vervielfältigte Schriften gelten als besonders langlebig mit auffällig scharfem Charakter. Dabei zeigen die Schriften die typischen Spuren, die durch die Veränderung mit Mimeographen-Schablone während der Vervielfältigung entstehen.[2448] Der Begriff Matrize sollte in heutigen Publikationen bezüglich Vervielfältigungstechnik wegen irreführender Mehrdeutigkeit nicht mehr verwendet werden, besser ist der neutrale Begriff Vervielfältigungsvorlage oder noch besser die korrekte Bezeichnung passend zum Vervielfältigungsverfahren.[2449] Spirit Carbon Umdruck-Farbsätze, die gelegentlich mit der Weisse Rose in Zusammenhang gebracht werden, wurden erst in den 50er/60er Jahren entwickelt und standen deshalb dem Widerstandskreis in München nicht zur Verfügung.[2450] Ebenso wenig sind hektographische Wortschöpfungen hilfreich und im Zusammenhang mit dem Widerstandskreis Weisse Rose München auszuschliessen.