8.5           Josef Söhngen, Lieselotte Berndl, Wilhelm Geyer

Einen Aufbewahrungsort für Apparate und Materialien soll der Buchhändler Josef Söhngen in München, Maximiliansplatz 13, bereitgestellt haben.[2303] Dies konnte bisher nicht zweifelsfrei belegt werden. Der Autor Armin Ziegler untersuchte die Ausführungen von Josef Söhngen.[2304] Inge Scholl veröffentlichte 1992 Briefe von Josef Söhngen, die er bereits 1945 an Inge Scholl schrieb.[2305] Für die Aufarbeitung der Flugblatt-Herstellung sind einige Passagen seiner Ausführungen von 1945 interessant. Josef Söhngen berichtet über Druckstöcke für die Anbringung der Wandparolen und dass im Keller der Buchhandlung, die Apparaturen und später auch die Druckstöcke dort aufbewahrt wurden. Insgesamt seien die Exponate viermal in die Buchhandlung gebracht worden.[2306] Aus den Vernehmungsniederschriften geht durch Sophie Scholl und Alexander Schmorell hervor, dass der Widerstandskreis den Vervielfältigungsapparat ROTO-PREZIOSA und die Schreibmaschine Remington Portable 2 nach der Fertigstellung des VI. Flugblatts aus Sicherheitsgründen in den Keller des Ateliers in der Leopoldstrasse einlagerten.[2307], [2308] Dies dürfte nach dem 15. Februar 1943 stattgefunden haben, weil bis zu diesem Zeitpunkt noch beide Schreibmaschinen zur Adressierung gebraucht wurden. Möglicherweise wurde der Keller von Wilhelm Geyer nicht regelmässig verwendet. Gisela Schertling berichtete, Wilhelm Geyer würde sich zeitweise nicht in München aufhalten.[2309] Zumindest frühstückt Wilhelm Geyer regelmässig morgens bis Mitte Februar 1943, wenn er sich in München aufhielt, in der Franz-Joseph-Strasse.[2310] Tatsächlich wurden die Druckstöcke (Schablonen für Wandparolen) erst ab dem 3./4. Februar 1943[2311] vom Widerstandskreis eingesetzt und nachweislich ergaben sich im Januar und Februar 1943 drei Produktionstermine,[2312], [2313], [2314] an denen das V. und VI. Flugblatt hergestellt wurde. Möglich, dass der Rotationsvervielfältiger vor Produktionsbeginn zunächst im Dezember 1942 bei Josef Söhngen untergebracht war und dann jeweils nach Produktionsende bis zum Ende des V. Flugblatts (nach dem 23. Januar 1943, nach dem 27. Januar 1943). Das wären drei mögliche Einlagerungen bei Josef Söhngen. Allerdings berichtet Lieselotte Fürst-Ramdohr (geb. Berndl) nach dem Krieg, dass auch Alexander Schmorell einen Vervielfältigungsapparat, gepackt im Rucksack, bei ihr einmal unterstellte[2315] und dass ständig Flugblätter bei ihr verwahrt wurden.[2316] Einen Transport mittels Rucksack konnte nur eine Zeitzeugin wissen, denn ein solcher wurde beschlagnahmt.[2317] Der Weg von der Franz-Joseph-Strasse bis zur Prinzenstrasse 30,[2318] wo Lieselotte Berndl wohnte, beträgt immerhin 5 km. Die vierte Einlagerung bei Josef Söhngen könnte sich mit den Druckstöcken nach der Anbringung von Wandparolen vom 4./5. Februar 1943 zugetragen haben. Die fünfte und letzte Einlagerung fand dann im Atelier nach dem 15. Februar 1943 statt.[2319], [2320] Ganz ungefährlich ist der ständige Transport des 18 kg schweren Rotationsvervielfältigers der ROTO-Werke Königslutter nicht gewesen. Die Wegstrecke zwischen Franz-Joseph-Strasse 13 und Maximiliansplatz 13 beträgt etwa 2,2 km, ein Fussweg von ca. 30 Minuten. Unabhängig davon betrachtet, derart detaillierte Angaben konnte Josef Söhngen eigentlich nur als Zeitzeuge so präzise angeben und nicht vom Hören und Sagen. «Um ihm und der ganzen Bewegung besser helfen zu können, hatten wir vereinbart, daß ich in keiner Besprechung mit den anderen – er nannte mir auch hier keine Namen – teilnehmen sollte, damit eben, wie es mehrfach geschah, die Druckapparate und Druckstöcke bei mir im Falle einer Haussuchung in seiner Wohnung oder im Atelier Eickemeyer in ziemlicher Sicherheit sein konnten.»[2321] Hinzu kommt, dass sich Wilhelm Geyer von Mittwoch bis Samstag für gewöhnlich in München aufhielt.[2322] Die Flugblatt-Herstellung fand ab Mittwoch, den 20. Januar 1943, bis Freitag, den 22. Januar 1943, statt, eine Woche später Mittwoch, den 27. Januar 1943, und am Freitag, den 12. Februar 1943.[2323] In dieser Zeit konnte das Atelier nicht als Produktionsstätte dienen. Josef Söhngen schreibt an Inge Scholl im Weiteren, dass bei der letzten Unterbringung der Gerätschaften Druckstöcke, Druckmaschinen in Handkoffern und Rucksäcken und fertige Flugblätter vorbeigebracht wurden.[2321] Das konnte kaum jemand, eigentlich keiner so genau wissen, wie eben bereits erwähnt, ein Zeitzeuge. Josef Söhngen könnte die Kofferschreibmaschine, die sich Alexander Schmorell bei Michael Pötzl[2324] auslieh, erkannt haben. Die Maschinen mussten mit dem Besuch von Elisabeth Scholl[2325] aus der gemeinsamen Wohnung der Geschwister Scholl ausser Hause geschafft werden, so bot sich der Keller von Josef Söhngen an und aus gutem Grund nicht das Atelier. Auf Seite 478 zeigt Tabelle 63, dass der Rotationsvervielfältiger 15 Tage lang nicht benutzt wurde. Die Maschine über 2 Wochen lang im Atelier einzulagern wäre hochriskant gewesen. Aus einem Interview mit Wilhelm Geyer ist zu erfahren, dass ihm die beiden vertrauten Geschwister, Sophie Scholl und Hans Scholl, nichts von ihren Aktivitäten mitteilten, obwohl sie den Professor sehr schätzten.[2326], [2327] Warum die Geschwister Scholl Wilhelm Geyer nicht ins Vertrauen zogen wie Eugen Grimminger, kann vielleicht nicht mehr geklärt werden.

    Interessant ist auch die Bestätigung von Josef Söhngen, dass nicht alle um den Widerstandskreis in alles eingeweiht waren. Das deckt sich mit anderen Schilderungen über Hans Scholl. Beispielsweise sagte Jürgen Wittenstein in einem Interview: «[I]ch kannte natürlich nicht alle, wir haben versucht, dass möglichst wenige von uns andere kannten.»[2328] 1960 bat Robert Scholl in einem Brief den regierenden Berliner Oberbürgermeister Willy Brandt um Auskunft nach dem Verbleib der Gerichtsunterlagen seiner Kinder von 1943. Willy Brandt konnte hierzu keine Angaben machen.[2329] Auch Josef Söhngen konnte sein Wissen nach 1945 nicht aus den Prozessakten beziehen, lediglich von Mitstreitern des Widerstandsumfeldes. Doch diese konnten historische Feinheiten kaum wissen. Ohnehin konnten bis heute keine Zeitzeugen etwas über die Flugblatt-Herstellung mitteilen. Josef Söhngen berichtet von Rucksäcken, mit denen das Widerstandequipment transportiert worden sein soll. Das findet sich auch bestätigend in einem Bericht der Geheimen Staatspolizei München vom 21. Februar 1943: «1 Rucksack Marke "Tauern". In diesem war der Vervielfältigungsapparat verpackt aufbewahrt.» Marke «ROTO-Präziosa Nr. 13 101 mit Wachsüberzug».[2330] Die Angaben sprechen für Josef Söhngen, weil sie sich mit anderen Gegebenheiten decken und dies noch vor Kriegsende oder kurz nach Kriegsende ergaben. Einen Teil des genannten Sachverhalts bestätigte ebenso Lieselotte Fürst-Ramdohr. Josef Söhngen konnte sich deshalb Jahrzehnte später keine persönliche Version zurechtlegen.

    Eine interessante Ausnahme ist aus den Vernehmungsniederschriften ersichtlich. Gisela Schertling teilte der Geheimen Staatspolizei München mit, dass am Montag, den 15. Februar 1943, die Geschwister Scholl morgens ins Atelier von Manfred Eickemeyer gingen und erst am Mittag wieder zurückkamen. Anschliessend sei Hans Scholl mit Alexander Schmorell nochmals dort gewesen.[2331] Sophie Scholl war mit Otto Aicher verabredet und holte ihn am Bahnhof ab.[2332] Damit die Bearbeitung des Postversands unbemerkt weiterlaufen konnte, wurde die weitere Bearbeitung der Postsendungen temporär ins Atelier verlegt und am Abend wieder in die Franz-Joseph-Strasse zurückgeholt, um die Bearbeitung des Postversands dort abschliessen zu können.[2333] Die Flugblatt-Herstellung wurde bereits am 12. Februar 1943 abgeschlossen.[2334], [2335] Die Postverarbeitung konnte ohnehin nicht länger im Atelier ausgeweitet werden, denn am nächsten Tag wäre gewohnheitsmässig Wilhelm Geyer aus Ulm ins Atelier gekommen, der um diese Zeit einen Auftrag für die Firma Mauer Glasfenster in München zu erledigen hatte.[2336] Denkbar wäre, dass eine kurzfristige Unterbringung möglich war, weil Wilhelm Geyer sich zeitweise in Stuttgart bei einer Projektstelle befunden haben könnte.[2337] Ausserdem war generell eine solche Unternehmung im Atelier riskant, denn unverhofft hätten der Besitzer des Ateliers, Manfred Eickemeyer, oder der zur Miete wohnende Professor Wilhelm Geyer unangemeldet auftauchen können. Eine solche Situation war nicht abzusehen. Ein Daueraufenthalt, um im Atelier Flugblätter herzustellen, ist deshalb tendenziell wenig vorstellbar. Die Geheime Staatspolizei übernimmt die Aussage von Alexander Schmorell bei seiner Vernehmung: «Als wir mit dem Abziehen unserer Flugblätter fertig waren, haben wir den Vervielfältigungsapparat aus reinen Sicherheitsgründen in das Anwesen Leopoldstr. 38, Ateliergebäude, in den Keller verbracht.»[2338] Manfred Eickemeyer befand sich ab dem 12. Januar 1943 für 2 Monate in Polen.[2339] Die Unterstellung der Gerätschaften war nur relativ sicher, denn Manfred Eickemeyer hätte dennoch unverhoffter Dinge plötzlich im Atelier erscheinen können. So ist anzunehmen, dass Professor Wilhelm Geyer ebenfalls für ein paar Tage verreiste, sonst hätte die kurzfristige Unterbringung der Gerätschaften im Atelier keinen Sinn gemacht. Wie bereits bekannt, erwähnte Gisela Schertling bei ihrer Vernehmung, dass sich Wilhelm Geyer in dieser Zeit nicht regelmässig in München aufgehalten habe.[2340] Eine Durchsicht aller Vernehmungsniederschriften gibt Auskunft darüber, an welchen Orten die Flugblätter vervielfältigt wurden. Die Vernehmungsniederschriften bekräftigen keine Flugblatt-Herstellung im Atelier.[2341] Manfred Eickemeyer und Wilhelm Geyer waren durch den Kontakt mit Personen aus dem Widerstandskreis verdächtig geworden. In den Vernehmungen fallen viele und nachvollziehbare Details zur Flugblatt-Herstellung, an welchen Tagen, zu welcher Zeit, wer gerade kommt, anwesend ist oder geht, sich in München oder anderen Orts aufhält oder auf Kurierfahrt ist.[2342]