7           Weisse Rose München – Angeblicher Vervielfältiger

Im Internet und in Büchern wird manchmal bekundet: «Mit dieser Maschine wurden die Flugblätter der Widerstandsgruppe Weisse Rose gedruckt». Gezeigt wird ein Vervielfältigungsapparat, der exakt Abbildung 273 entspricht, ein Mimeograph des Herstellers David Gestetner aus London, Typ Rotary Cyclostyle, vermutlich Version No. 6 oder Cyclostyle Works. Auf dem Gehäuse befindet sich für gewöhnlich der Schriftzug "Gestetner". Alle Typen dieser Baureihe haben üblicherweise am Gehäuse ein aus Metall angebrachtes Typenschild, das den Herstellernamen trägt. An dem in der Literatur vermeintlich gezeigten Vervielfältigungsapparat, den der Widerstandskreis angeblich verwendet haben soll, ist der Firmenname Gestetner deutlich erkennbar. In der Literatur erhalten die Abbildungen des David Gestetners häufig die Anmerkung: "Hektographiergerät" oder "Hektographiergerät zur Vervielfältigung der Flugblätter" und in englischer Literatur "Hectograph for the duplication of the leaflets". Gleiche Maschine wurde in einem Weisse Rose Film gezeigt, der Schriftzug des Herstellers Gestetner ist deutlich und klar erkennbar. Bei dieser Maschine wird das Saugpostpapier vollautomatisch eingezogen. Das konnte beim ROTO-PREZIOSA nicht der Fall gewesen sein, da dieser Typ Rotationsvervielfältiger halbautomatisch ausgelegt zum Verkauf angeboten wurde. Das Papier musste von Hand einzeln in den Vervielfältigungsapparat bis zu einem Papieranschlag herangeführt werden.[2271] Hans Scholl gibt bei seiner Vernehmung gegenüber der Geheimen Staatspolizei München zu Protokoll, dass ein Greif-Vervielfältiger mit Handabzug und ein ROTO-PREZIOSA zur Vervielfältigung der Flugblätter verwendet wurden.[2272] Wortlaut der Geheimen Staatspolizei aus der Vernehmungsniederschrift vom 20. Februar 1943 über Hans Scholl: «Bei dem Vervielfältigungsapparat den ich bei der Aktion im Januar und Februar 1943 im Dezember 1942 bei der Fa. Bayerle gekauft habe, handelt es sich um einen gebrauchten Roto Preziosa- Apparat, Fabr. Nr. 13101. Er kostete 240.- RM. Er wurde zusammen von Schmorell und mir bezahlt, da mir Schmorell etwa 500.- RM zur Verfügung stellte.

Vollautomat Gestetner Rotary Cyclostyle Model 6, Privatedition

Abbildung 273: Vollautomat Gestetner Rotary Cyclostyle Model 6, Privatedition

Beim Einkauf desselben befand ich mich in Uniform (Feldwebel) und auf die Frage des Geschäftsinhabers, zu welchem Zweck ich diesen benötige, erklärte ich kurz für studentische Zwecke[2273]

   Im Suchungsbericht vom 21. Januar 1943 wurde festgehalten:[2274]

Auszug aus dem Suchungsbericht 21.2.1943

Abbildung 274: Auszug aus dem Suchungsbericht 21.2.1943[2274]

…1 Vervielfältigungsapparat Marke ROTO-PREZIOSA Nr. 13101 mit Wachsüberzug, 1 Fangkorb für Abzüge…

   Der Fangkorb des ROTO-PREZIOSA ist handgeflochten aus Draht.[2275] Nicht grundlos wurde von der Geheimen Staatspolizei München der Begriff KORB gewählt und nicht BLECH. Der Vervielfältigungsapparat David Gestetner Rotary Cyclostyle hat jedoch rechtsseitig ein lochfreies Auffangblech, in das die vervielfältigten Flugblätter hineinfallen. Sehr deutlich zeigt das Abbildung 273. Auf der rechten Seite ist das Blech sehr gut erkennbar und am unteren Rand des Metallgehäuses der Herstellername "Gestetner". Der Gestetner Rotationsvervielfältiger ist ein sehr hochwertiger Vervielfältigungsapparat, mit dessen automechanischer Papierzuführung in einer Sekunde eine Flugblattseite vervielfältigt werden kann. Mit einem solchen Vervielfältigungsapparat können mehrere Tausend Flugblattseiten an einem Mittag hergestellt werden. Die grosse Flugblattauflage vom 20./21./22. Januar 1943 mit 8000 Flugblattseiten wäre rechnerisch ermittelt von einer Person mit einem Vervielfältigungszyklus von 1 Sekunde pro Flugblattseite in 4,48 Arbeitsstunden erledigt gewesen inklusive aller Nebentätigkeiten wie das Bearbeiten der Schablonen.[2276]

Typenschild ROTO-PREZIOSA, Privatbesitz

Abbildung 275: Typenschild ROTO-PREZIOSA, Privatbesitz

    Mit einem ROTO-PREZIOSA fallen für die gleiche Arbeit, wenn zwei Personen den Rotationsvervielfältiger mit einem Vervielfältigungszyklus von 3 Sekunden bedienen, rechnerisch ungefähr 8,92 Arbeitsstunden an.[2277] Würde eine Person diese Auflage alleine bewerkstelligen, muss ein rechnerisch ermittelter Zeitaufwand von 15,59 Arbeitsstunden mit einem Vervielfältigungszyklus von 6 Sekunden aufgebracht werden.[2278] Tatsächlich war der Widerstandskreis mit der Vervielfältigung zwischen 10 und 11 Stunden beschäftigt.[2279] Aus den bisher dargestellten Berechnungen geht hervor, wäre dem Widerstandskreis ein leistungsfähiger Vervielfältigungsapparat wie vergleichsweise ein Gestetner Rotary Cyclostyle vorgelegen, wären die Flugblätter in einer wesentlich kürzeren Arbeitszeit von einer Person zu erledigen gewesen. Willi Graf hätte am 27. Januar 1943 zur Flugblatt-Herstellung nicht extra zur Mithilfe kommen müssen.[2280] Willi Graf hätte bei Hans Scholl nichts zu tun gehabt. Das bedeutet auch, dass der Widerstandskreis eine so moderne Maschine zur Flugblatt-Herstellung nicht verwendet haben konnte. Das belegen auch die Zeitberechnungen.[2281] Wie bereits erwähnt, mit einem Rotationsvervielfältiger, der in einer Sekunde eine Flugblattseite vervielfältigen kann, wären an einem ausgiebigen Nachmittag in 11 Arbeitsstunden alle 15000 Flugblattseiten für Flugblatt V und VI vervielfältigt worden.[2282]

   Die mechanische Verarbeitung des Gestetner Modells ist sehr edel. Der Preis dürfte um einiges höher gewesen sein als beim ROTO-PREZIOSA. Der gekaufte ROTO-PREZIOSA, den der Widerstandskreis gebraucht kaufte, war bereits etwa 20 Jahre alt und kostete immer noch ca. 230-240 RM.[2283] Hans Scholl bat Eugen Grimminger um einen weiteren Vervielfältigungsapparat. Dieser sollte zum 18. Februar 1943 geliefert werden.[2284] Jener Tag, an dem die ersten Verhaftungen des Widerstandskreises Weisse Rose folgten. Warum hätte Hans Scholl sonst um einen leistungsfähigeren Vervielfältigungsapparat bitten sollen? Keiner hatte damals Geld im Überfluss, Eugen Grimminger nicht und die Studierenden erst recht nicht. In der Literatur wird darüber berichtet, dass der Widerstandskreis angeblich mit einem Vervielfältigungsapparat des Herstellers Geha seine Flugschriften vervielfältigt haben soll. Dieser Sachverhalt wird nur vollständigkeitshalber erwähnt und wegen fehlender Details, Nachweisen und mangels Übereinstimmung ausgeschlossen.