3          Experimentelle Rekonstruktion

Nichts deutet auf Zeitzeugen hin, die nach dem II. Weltkrieg über die Flugblatt-Herstellung des Widerstandskreises Weisse Rose berichten konnten.[141] Jahrzehntelang galt überwiegend eine feste Vorstellung, wie der Widerstandskreis und das Umfeld ihre Flugblätter vervielfältigt haben sollen. Zur Untersuchung der Flugblatt-Herstellung wurde eine experimentelle Vorgehensweise zugrunde gelegt, wie sie unter anderem auch bei der "Experimentellen Geschichtswissenschaft" eingesetzt wird. Die "Experimentelle Wissenschaft" haben auch andere angewendet, um beispielsweise herauszufinden, wie tonnenschwere Steine beim Pyramidenbau in die Höhe gebracht wurden. Weil keine Zeitzeugenbefragung möglich war, muss eine "Experimentelle Rekonstruktion" diese ersetzen. Die zu erwartenden Resultate zur Arbeitsweise werden weitgehend objektiven Charakter aufweisen, weil von aussen keine Einflussnahme möglich ist, ebenso wenig durch ideologische oder persönliche Gesichtspunkte. Zunächst werden nach einer Bestandsaufnahme nicht zu eng gefasste Hypothesen aufgestellt, die durch experimentell gewonnenes Wissen verworfen, konkretisiert oder durch belegbare Erkenntnisse ersetzt werden. Am Ende der Untersuchung kann eine Einordnung der einzelnen Resultate erfolgen oder ein neuer Ansatz muss gesucht werden. Experimentelle Rekonstruktionen sind für zeitliche, weltliche und soziale Anschauungen nur bedingt einsetzbar.

    Fraglich war von Beginn an, das angewendete Vervielfältigungsverfahren zur Flugblatt-Herstellung. Ist das verwendete Vervielfältigungsverfahren bekannt, kann retrospektiv die damalige Flugblatt-Vervielfältigung realistisch und ohne Zeitzeugen nachgestellt werden. Die Rekonstruktion sollte folgende Fragen klären: Wie entwickelte sich der flugblatttechnische Widerstand und von wem wurde er unterstützt bzw. fortgesetzt? Welche Apparate wurden gekauft oder organisiert? Welches Vervielfältigungsverfahren wurde angewendet? Wie war folglich ihre Arbeitsweise? Was wurde an Zubehörmaterial in welcher Menge wo beschafft? Welche technischen und zeitlichen Komplikationen würden bei der eingesetzten Technik spezifisch auftreten und wie reagierte der studentische Widerstandskreis darauf? Wer übernahm wann welche Aufgaben oder war an welchen Aktionen beteiligt? Wie viele Flugblätter wurden wann und wo mit welchen Personen hergestellt und in welcher Menge gestreut oder zur Post gebracht? Konnte das Arbeitsaufkommen in der zur Verfügung gestandenen Zeit bewältigt werden? Wie finanzierte sich der Widerstand und wie hoch beliefen sich die Kosten? Was war der Auslöser für die extrem lebensgefährliche Flugblattauslegung in ihrer Universität am Donnerstag, den 18. Februar 1943, und lag dafür ein Plan vor?

    Interessante Antworten finden sich in den Vernehmungsniederschriften, insbesondere von Sophie Scholl, von ihrem Bruder Hans Scholl, von Gisela Schertling, die Lebensgefährtin von Hans Scholl, von ihren Freunden Alexander Schmorell und Willi Graf.[142] Fragestellungen zur Flugblatt-Herstellung deuten darauf hin, dass die Vernehmungsbeamten der Geheimen Staatspolizei Münchens diese rational auf die Beschuldigten aufteilten. Die Beamten, die dem Volksgerichtshof im ersten Weisse Rose Prozess zuarbeiteten, hatten für die Vernehmungen lediglich die Zeit vom 18. bis 21. Februar 1943 für ihre Ermittlungsarbeit zur Verfügung. Am 22. Februar 1943 folgte Prozess, Urteilsverkündung und Vollstreckung der ersten Todesurteile.[143] Sophie Scholl bekam überraschenderweise Fragen zur Flugblatt-Herstellung und daraus resultierenden Problemen zur Technik gestellt. Zur damaliger Zeit waren bei politischen und technischen Themen Frauen unter Männern gesellschaftlich eher unerwünscht.[144], [145], [146] Das müsste sicherlich auch, durch die Mitarbeit von Sophie Scholl, Auswirkung im Widerstandskreis gehabt haben. Ob innerhalb des Freundeskreises darüber gesprochen oder gar diskutiert wurde, scheint unbekannt zu sein. Die im Kontext betrachteten technischen Aussagen durch Sophie Scholl zeigen, wie tief sie in die Flugblatt-Herstellung involviert gewesen sein muss, tiefer als dies nach 1943 jemals wahrgenommen wurde. Ihr Bruder Hans Scholl beantwortete Fragen tendenziell zur Beschaffung von Materialien. Christoph Probst war Familienvater, das dritte Kind unterwegs und deshalb bei den riskanten Aktivitäten überwiegend aussen vor gelassen.[147] Alexander Schmorell bestätigte der Geheimen Staatspolizei im Wesentlichen bereits bekannte Sachverhalte und präzisierte diese. Da die Flugblatt-Vervielfältigung Aufgabe der Studierenden war, hatte der Lieblingsprofessor und Mentor der Studenten, Kurt Huber, keinen Anteil an der Flugblatt-Herstellung und deshalb ist in seiner Vernehmungsniederschrift und bei Christoph Probst nur sehr wenig darüber zu finden. Willi Graf erinnerte sich in den Phasen, in denen er die Produktion unterstützte, punktuell an sehr wichtige Details. Insbesondere konnten durch ihn die genauen Produktionstermine erfasst werden. In einem Fall ergab sich zur Produktion durch Willi Graf sogar ein wichtiger Berechnungsansatz zur Frage, wie die Studierenden am Rotationsvervielfältiger gearbeitet haben. Gisela Schertling lieferte ein wichtiges Schlüsselereignis mit Auswirkung auf den Donnerstag, den 18. Februar 1943. Professor Kurt Huber hinterliess eine wichtige Mitteilung zur Vorbereitungszeit der letzten Flugblatt-Auslegung, die sich unmittelbar um seinen Arbeitsplatz am 18. Februar 1943 ereignete. Ebenfalls fällt auf, dass keine konkreten Fragen zu den Flugblattinhalten gestellt wurden, zur Judenfrage oder was die Beschuldigten über Adolf Hitler dachten. Selbst in den Vernehmungen wird kein Bezug genommen als beispielsweise Hans Scholl auf eine Frage erwähnte: «Andererseits war mir die Behandlung der von uns besetzten Gebiete und Völker ein Greuel[148] Mag sein, dass die Beamten hin und wieder einen Tobsuchtsanfall erlitten, aus den gerichtlichen Schriftsätzen ist so gut wie keine persönliche Stellungnahme von ihnen feststellbar. Hingegen war ihnen wichtig, die Auflage der hergestellten Flugblätter zu kennen und wie viele davon über den Postweg verbreitet wurden. Alexander Schmorell wurde beim VI. Flugblatt regelrecht bedrängt. «Ich glaube mit ruhigem Gewissen angeben zu können, dass wir von diesem Flugblatt etwa 3000 Stück hergestellt haben.»[149] Durch die Fragen sollte vermutlich eine Überprüfung der hergestellten Flugschriften feststellbar werden und ob vielleicht wesentlich mehr Personen beteiligt waren. Möglich, dass die Befragung auch dazu diente, Mengenangaben beschlagnahmter Flugblätter und Postsendungen innerhalb der Dienststelle zu beschönigen.[150] Wer die Vernehmungsniederschriften auch in technischer Hinsicht aufmerksam liest, wird überrascht sein, welche Spezialität seit Jahrzehnten vor sich hin schlummern. Allerdings sind die Vernehmungsniederschriften hinsichtlich des Wahrheitsgehalts nur schwer zu erfassen. Insbesondere versuchten die Geschwister Scholl ihre Mitteilungen vor der Geheimen Staatspolizei in München umzudeuten, um auf diese Weise ihr Umfeld zu schützen. Dadurch ergeben sich teilweise erhebliche Komplikationen, die herausgearbeitet werden müssen. Auch Alexander Schmorell und Willi Graf machten die Aufarbeitung nicht leichter. Das Tagebuch von Willi Graf füllte manche wichtige Lücke. In der Vernehmungsniederschrift von Hans Scholl finden sich die verwendeten Vervielfältigungsapparate Greif- Vervielfältiger und ROTO-PREZIOSA protokolliert. Die Schreibmaschine Remington Portable 2 geht aus der Vernehmungsniederschrift der Geschwister Scholl und Alexander Schmorell hervor. Erika 6 durch die Geschwister Scholl und Alexander Schmorell.[151], [152], [153] Ein Verzeichnis der Beweisgegenstände vom 20. Februar 1943 führt ebenfalls die Remington Portable 2, Seriennummer NL82533, Erika 6, Seriennummer 507540/6, einen ROTO-PREZIOSA, Seriennummer 13101 mit Wachstuch und Fangkorb für Abzüge[154] sowie ein Suchungsbericht vom 21. Februar 1943, der nochmals die Remington Portable 2 und ROTO-PREZIOSA aufführt, beide mit identischer Seriennummer.[155]

    Wer nun die Vervielfältigungsapparate in Betrieb nehmen möchte, muss wissen wie die Apparate funktionieren. Deshalb muss als erstes ein Grundlagenverständnis für die Vervielfältigungstechnik von Hektograph, Matrizendrucker, Mimeograph und Opalograph herausgearbeitet werden. Die ersten drei genannten Vervielfältigungsverfahren haben sich im 19./20. Jahrhundert im Wesentlichen weltweit, neben anderen hochinteressanten Vervielfältigungstechniken, wie auch teilweise der Opalograph, durchgesetzt.[156] So der nicht repräsentative Eindruck meiner Recherche. Ist das verwendete Vervielfältigungsverfahren von 1942/1943 bekannt, wird deutlich, welches Wissen in München für die Herstellung von Flugblättern vorlag. Ungeklärt bleibt, woher der Studentenkreis seine Kenntnisse zur Flugblatt-Herstellung hatte. Die Vernehmungsniederschriften vermitteln den Eindruck, dass sich die Kommilitonin und ihre Kommilitonen auskannten.