5           Widerstandsgruppe Onkel Emil Berlin

Die Berliner Widerstandsgruppe erhielt das VI. Flugblatt aus München und vervielfältigte dies durch Schreibmaschinendurchschlag mit einer Wanderer Klein-Continental. Aufgrund der genannten Merkmale wurde diese Maschine laut Fabrikationsnummernverzeichnis ziemlich genau um 1930 gebaut.[2230] Der Produktionsbeginn dieser Baureihe war bereits 1929. Über die Seriennummernvergabe lässt sich erahnen, dass im Jahr ungefähr 20000 Maschinen hergestellt worden sein müssen. Das wären am Tag deutlich mehr als 50 Stück. Die hohen Stückzahlen pro Tag scheinen in dieser Branche damals üblich gewesen zu sein. Das zeigen auch ihre Mitbewerber. Die Originalschreibmaschine verwahrt die Weiße Rose Stiftung e. V. in München.[2231] Laut Tagebucheintrag vervielfältigte die Widerstandsgruppe Onkel Emil das VI. Flugblatt mit etwa 50 Abschriften und 5-fachem Durchschlag.[2232] Benötigte Zeit, angenommen ca. 5 Schreibmaschinendurchschläge pro Flugblatt

=> 250 5 = 50 Stück

VI. Flugblatt hatte 4107 Zeichen (Leerzeichen inbegriffen)

Schreibmaschinenanschlag pro Minute 125 Zeichen angenommen:

 

=> 4107 125 = 32,86 Minuten pro Abschrift

 

= 32,86 Minuten 60 * 50 Abschriften = 27,38 Stunden.

Wanderer Klein-Continental, 1929/1936, Seriennummer R014143, Privatbesitz

Abbildung 262: Wanderer Klein-Continental, 1929/1936, Seriennummer R014143, Privatbesitz

  

Würden am Tag à 8 Stunden auf mehrere Personen verteilt die Abschriften vervielfältigt, so würden etwa 3 ½ Tage dafür gebraucht. Aufgerundet, in einer Woche hätten schreibmaschinentechnisch 50 Exemplare mit 5-fachem Durchschlag vervielfältigt werden können. Abbildung 262 zeigt eine baugleiche Originalschreibmaschine Wanderer Klein-Continental mit der Seriennummer R014143. Diese wurde zwischen 1930 und 1932 gebaut.[2233] Sie entspricht exakt der Maschine, die von der Widerstandsgruppe Onkel Emil in Berlin zur Flugblatt-Verbreitung benutzt wurde. Besondere Merkmale der Onkel Emil Schreibmaschine sind: Linke Taste "ß", rechts aussen Taste "+", keine Ziffer "1" und Tasten mit hellem Hintergrund, Gehäusefront steilkantig, keine seitliche Papierführung.

    Wenn auch ungeübte Personen die Flugblätter mit langsamerem Tempo abschrieben, bleiben die Berechnungen immer noch nachvollziehbar. Ruth Andreas-Friedrich, Karin Friedrich, Leo Borchard, Fred Denger, Josef Schunk, Walter Seitz gehörten zu den bekanntesten Personen dieser Widerstandsgruppe. Alle der Widerstandsgruppe Onkel Emil Berlin sollen den Nationalsozialismus überlebt haben.

    Onkel Emil Berlin war keine politisch ausgerichtete Widerstandsgruppe, sondern unterstützte und schützte Menschen, die vom nationalsozialistischen Terrorregime Adolf Hitler verfolgt wurden oder "vernichtet" werden sollten, ohne Gegenleistung. Sie boten Unterschlupf wechselnder und dauerhafter Quartiere, fälschten unterschiedliche Papiere zur Ausweisung und Reise mit gefälschten Stempeln, beschafften Lebensmittel, Lebensmittelkarten, Lebensmittelmarken, traten eigene Karten ab und beschafften "illegal" Karten. Ärzte aus der Widerstandsgruppe erstellten falsche Atteste oder machten falsche Angaben zur Anamnese. Ähnlich wie Partisanen betrieben sie umfangreiche Sabotagen durch Zerstörung strategisch wichtiger Kabelverbindungen und Fernsprechverbindungen nationalsozialistischer Einrichtungen sowie Unbrauchbarmachung kriegswichtiger Maschinen und Rohstoffe. Herstellen von Auslandskontakten zur Weiterleitung von politischen Informationen und Lageberichten, Anbringung von Parolen an Fassaden. Sie kümmerten sich sogar um Familien von Gefangenen und zum Tode Verurteilte. Die Liste ihrer Aktivitäten ist sehr viel umfangreicher als hier dargestellt. Diese ehrerweisende Widerstandsgruppe war unglaublich erfinderisch und wusste sich in schwierigsten Situationen zu helfen. Sie blieben bis zum Kriegsende unerkannt.[2234] Zur Anerkennung ihrer grossartigen und absolut vorbildlichen Lebensleistung seien hier ihre Namen, soweit bekannt, unvergessen genannt.

Widerstandsgruppe Onkel Emil Berlin[2235]:

Andreas-Friedrich Ruth, Schriftstellerin

Bergmann von Fritz, Pharmakologe

Borchard Leo, Dirigent

Denger Fred, Journalist

Eckermann Curt, Vorarbeiter

Friedrich Karin, Schauspielerin

Kaminsky Benno, Kaufmann

Lichtwitz Ludwig, Buchdruckmeister

Meyerowitz Dagmar, Kontoristin

Peters Hans, Prof. öffentliches Recht

Poelchau Harald, Gefängnispfarrer

Reimann Charlotte, Ehefrau

Reimann Walter, Konditormeister

Reuber Ursula, Studentin und Zwangsarbeiterin

Schunk Josef, Arzt

Seitz Walter, Arzt

Zettwitz Joachim Graf von, Arzt, Schriftsteller

Tabelle 85: Erinnerung, Onkel Emil Berlin