4           Weisse Rose Saarbrücken

In der Literatur existieren kaum verlässliche Informationen über eine angebliche Flugblatt-Herstellung durch Willi Bollinger und seinem Umfeld in Saarbrücken. Unklar ist, wer wann angeblich, welchen Vervielfältigungsapparat, unter welchen Bedingungen in Betrieb genommen haben soll. Aus den Gerichtsunterlagen von Willi Bollinger finden sich offensichtlich keine Details.[2187] Damit fehlt ein wichtiger kontemporärer Nachweis. Auch bleibt zum Teil offen, wie ernst eine Beteiligung zum Widerstand detailliert aussah.[2188], [2189] Laut Vernehmungsniederschrift von Willi Graf, bekam Heinz Bollinger von ihm das V. Flugblatt, welcher trotz (erheblicher) Bedenken dieses Helmut Bauer und Rudi Alt in Freiburg zeigte. Vermutlich geschah dies um den 24. Januar 1943.[2190] Heinz Bollinger erschien eine Flugblatt-Verbreitung in Freiburg noch verfrüht.[2191] Hingegen äussert Heinz Bollinger am 15.6.1984, dass Alois Eckert einen Vervielfältigungsapparat, Geld für Papier und Porto für den Freiburger Widerstandskreis zur Verfügung stellte. Warum Geld für eine Flugblatt-Herstellung zur Verfügung stellen, wenn eine Verbreitung von Flugblättern verfrüht sei? Zu diesem Freiburger Widerstandskreis, der sich 1941 entwickelte, gehörten Heinz Bollinger, Helmut Bauer, Rudi Alt, Josef Epp (Dr.), Monsignore Alois Eckert (Dr.)[2192] sowie Karl Färber[2193] und Josef Ruby (Dr.)[2193]. Manche rückerinnerten Details entstanden erst nach dem II. Weltkrieg, 20 und 40 Jahre später.[2194] Neutrale beziehungsweise überprüfbare Belege über einen benutzten Vervielfältigungsapparat und über die Höhe der Flugblattauflage konnte nichts wahrgenommen werden. Die Quellenangaben in der Literatur führen zur Schwester von Willi Graf und Anneliese Knoop-Graf beruft sich auf Nachkriegsbriefe, deren Kontext nicht mit gesicherten bzw. neutralen Quellennachweisen veröffentlicht wurden.2194 Einige aus der Autorenschaft lassen sich auf die Flugblatt-Herstellung nachvollziehbar nur bedingt ein oder gar nicht. Über den angeblich von Willi Bollinger verwendeten Vervielfältigungsapparat konnte technisch bisher nichts in Erfahrung gebracht werden und deshalb besteht für eine Rekonstruktion zur Flugblattproduktion kaum Hoffnung. Auffällig sind die vielen Kontakte in kürzester Zeit. Willi Graf besuchte die Familie Bollinger am 27. Dezember 1942.[2195] Treffen ereigneten sich am 30. Dezember 1942 mit Willi Bollinger und Heinz Bollinger und laut Tagebucheintrag von Willi Graf am 1. Januar 1943 mit Heinz Bollinger und vermutlich mit Willi Bollinger, ebenso am 2. Januar 1943 und am 5. Januar 1943 mit Willi Bollinger.[2196] Am 22. Januar 1943 erneute Anreise von Willi Graf nach Saarbrücken zu Willi Bollinger.[2197] Aus einem Tagebucheintrag von Willi Graf entsteht der Eindruck, dass sich aus den Begegnungen eine Einigung entwickelt haben könnte. Tagebucheintrag Willi Graf, 27. Dezember 1942: «Am Morgen besuche ich Fam. Bollinger. …, dann verstehen wir uns aber rasch, sind uns einig[2198] Vorausgegangen war ein Gespräch sehr wahrscheinlich mit Rudi Alt. 14. November 1942 Tagebucheintrag Willi Graf: «Hier bei uns Zuhause entwickelt sich ein vernünftiges Gespräch, aber ich habe den Eindruck, daß Rudi gut und gerne Soldat ist und auch immer noch von dort eine Möglichkeit sieht[2199] Was das immer für Willi Graf bedeuten mag. Möglicherweise geht er davon aus, dass Rudi Alt ihren Widerstand vorerst nicht unterstützen möchte. 23. Januar 1943: «Am Abend lange ein Gespräch mit Helmut B. Ich schlafe gut in der Nacht[2200] Möglicherweise lagen Gründe für einen guten Schlaf von Willi Graf vor.

   Im Wesentlichen wird eine angebliche Übergabe und Herstellung von Flugblättern durch die Aussagen der Brüder Willi Bollinger und Heinz Bollinger gestützt.[2201] Möglicherweise hatte Willi Bollinger auf dem Militärgelände, auf dem er stationiert war, bereits einen Zugang zu einem Vervielfältigungsapparat. Was nicht ungewöhnlich gewesen wäre, so der Autor Armin Ziegler: «In Reservelazarette wurde nicht direkt von der Front eingeliefert. Das war erst die Endstation des militärischen Sanitätswesens. Zu dem Zeitpunkt war Waffenbesitz von Verwundeten und Patienten unwahrscheinlich. Außerdem: Ihre Pistolen hatten die Sanitätsfeldwebel alle schon spätestens nach Russland. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Willi Graf ein Vervielfältigungsgerät nach Saarbrücken hätte bringen müssen. Das war in der Verwaltung eines Lazaretts auch sicher schon vorhanden.»[2202] Im Raum steht eine Aussage von Heinz Bollinger. Sein Bruder Willi Bollinger soll für Willi Graf Militärfahrscheine und Urlaubsscheine gefälscht und Waffen gesammelt haben. Willi Bollinger nennt Willi Graf nach dem Krieg als Geber eines Vervielfältigungsapparates.[2203], [2204] Willi Bollinger soll einige Exemplare vervielfältigt und in seinem Umfeld, dem er vertraute, gezeigt und über den Postweg in Umlauf gebracht haben. Die Auflage dürfte nicht sehr hoch gewesen sein. Wenn Willi Bollinger seine Postsendungen nur an bekannte nationalsozialistische Gegner zustellte, dann besteht zu den aus München in Umlauf gebrachten Postsendungen ein Unterschied. In München wurden von Bürgern aus unterschiedlichen Gründen massenweise Flugblätter bei der Polizei abgegeben.[2205], [2206]

    Willi Graf soll laut seiner Schwester[2207] bis zur Festnahme einen Vervielfältigungsapparat unter seinem Bett in der Mandlstrasse 1/I aufbewahrt haben, der angeblich im März 1943 in der Isar entsorgt wurde. Die Materialien bestanden aus Metall und Holz.[2208] Ganz typisch wie bei einem Greif-Vervielfältiger. Möglich, dass entweder Willi Bollinger bereits eine Vervielfältigungsapparatur besass und deshalb keine mehr gebraucht wurde, oder die Apparatur sollte erst noch geliefert werden. Letzteres bedeutet, dass in Saarbrücken noch intensiv geplant wurde. So bleibt dieser Umstand völlig ungeklärt, was in der Mandlstrasse 1/I genau aufgefunden worden sein soll. Aus einem anderen Bericht geht hervor, dass Willi Graf einen Vervielfältigungsapparat in Bonn bei sich geführt habe.[2209] Eindeutige Beweise liessen sich bisher nicht finden.[2210]

    Technisch wäre ein Transport quer durch das damalige "Reich" ohne weiteres möglich gewesen. Sicherlich nicht offen, eher in einem Reisekoffer oder Rucksack (Deuter Sack, Modell Tauern) versteckt, den Willi Graf im Zug von sich entfernt und beobachtbar abgestellt hätte. Die Grösse des Vervielfältigungsapparates müsste möglichst klein und flach gewesen sein, um auch in einen üblichen Reisekoffer oder Rucksack zu passen. Ein einfacher Handapparat ohne Komfort und ohne Druckzylinder wäre vorstellbar. Bei einer Maschine ohne Druckzylinder ist ein Rotationsvervielfältigungsapparat als Mimeograph und ein Matrizendrucker weitgehend auszuschliessen. Bezüglich des Gewichtes darf der Apparat kaum Metallteile besitzen und er sollte gut verstaubar sein. Vervielfältigungsapparate im Kofferset bzw. im Holzkastenformat hatten meist auf dem Deckel den Firmennamen und/oder ein Firmenemblem aufgeprägt. Die Holzgehäuse besassen für gewöhnlich einen Tragegriff, manchmal auffällige Verschlussklappen mit Metallbeschlägen an den Ecken zum Schutz vor Beschädigung. Wegen dieser Merkmale musste ein solcher Vervielfältigungsapparat versteckt transportiert werden. Auch industriell gefertigte Vervielfältigungsrahmen kommen in Betracht. Über eine Selbstbaukonstruktion teilen die Konstrukteure mit: «Wir wollen hier zuerst einen Apparat beschreiben, den man sicher mit wenig Geld selbst herstellen kann. Es ist ein ähnlicher Apparat, wie der unter dem Namen Greif bekannte[2211] Jener Hersteller, Greif-Werke Goslar am Harz bei Braunschweig, der auch den Greif-Vervielfältiger herstellte, den der Widerstandskreis Weisse Rose bei den ersten 4 Flugblättern zur Flugblatt-Herstellung einsetzte.[2212] Zeugen sprachen von einem Koffer,2209 den sie bei Willi Graf gesehen haben wollen. Diese Version dürfte naheliegender sein, als ein Transport eines schweren Rotations­vervielfältigers. Ob jemand mit einem Koffer oder Rucksack voller Flugblätter oder mit einem Vervielfältigungsapparat verhaftet wird, macht am Ende keinen Unterschied.

Sensator-VIII, (Mimeograph) mit Roll-ab¬zug, Privatbesitz

Abbildung 261: Sensator-VIII, (Mimeograph) mit Roll-abzug, Privatbesitz

Aufgrund einer angeblichen Entsorgung eines Vervielfälti­gungsapparates und Gummihandschuhen[2213], [2214] durch Willi Bollinger an seiner Dienststelle in Saarbrücken[2215] besteht die Möglichkeit, dass die Handschuhe zur Vervielfältigung mit einem einfachen Mimeographen, der mit ölhaltiger Vervielfältigungsfarbe betrieben wird, verwendet wurden. Warum Handschuhe heimlich beseitigen, wenn sie in Notzeiten des Krieges noch nützlich für etwas anderes sein könnten? Gummihandschuhe machen einen nicht verdächtig. Die Fir­ma Greif in Goslar am Harz stellte auch kleinere Vervielfältigungsapparate her, die in einen üblichen Reisekoffer passten. Ein Greif-Vervielfältiger hat ein Gewicht von ca. 6 kg. Eine volle Tube Vervielfältigungsfarbe wiegt etwa 400 Gramm. Noch weniger Gewicht hatten Mimeographen-Vervielfältigungsrahmen. Diese konnten die Grösse 41 x 28 x 6 cm haben oder ein Greif-Vervielfältigungsrahmen Greif-JUNIOR 83 P/ mit 40 x 33 x 6,5 cm und ein Koffer-Set Greif-Jup 47 x 33 x 9 cm. Auch andere Hersteller im In- und Ausland verkauften kleine Vervielfältigungsgeräte.[2216], [2217], [2218], [2219] Weil über den verwendeten Vervielfältigungsapparat nichts bekannt ist, müsste durch eine Analyse zunächst das Vervielfältigungsverfahren an originalerhaltenen Flugschriften festgestellt werden. Hinweise über die Existenz von Flugschriften aus Saarbrücken scheinen unbekannt zu sein. Matrizendrucker nach Wilhelm Ritzerfeld wurden aus Vollmetallkonstruktionen gebaut. Die Apparate hatten eine Drucktrommel, auf der das beschriebene Umdruckoriginal aufgespannt wurde. Durch die Drucktrommel hat der Apparat ein gewisses Maschinenvolumen und passt damit nicht in jeden Koffer. Andere Hersteller boten flache Druckapparate mit manuellem Rollabzug als Mimeograph[2220] und auch als Matrizendrucker[2221] an. Willi Bollinger soll bis zu 200 Vervielfältigungen des V. Flugblattes vervielfältigt haben.[2222] Die Angabe ist jedoch sehr unsicher. Das bedeutet bis zu 400 Vervielfältigungen, weil das V. Flugblatt eine Vorder- und eine Rückseite hatte. Gleiches gilt wie bei den ersten vier Flugblättern des Widerstandskreises in München 1942. Wie bereits bekannt, wurden diese ebenfalls mit einem einfachen Abzugsapparat vervielfältigt, einem Greif-Vervielfältiger. Das würde die kleine Auflage erklären. Auch hier würden 2 Schablonen benötigt, eine für die Vorder- und eine für die Rückseite. Willi Bollinger hätte für seine kleine Flugblattauflage auch einen Matrizendrucker verwenden können. Der benötigt für 400 Flugblattseiten 4 Umdruckoriginale. Dieser wird wegen der Drucktrommel, bezüglich Transport, ausgeschlossen. Als Maschine, die bereits vor Ort vorgelegen haben könnte, wäre durchaus ein Matrizendrucker vorstellbar. Allerdings werden bei einem Matrizendrucker keine Gummihandschuhe benötigt, denn bei diesem Apparatetyp wird nicht wie bei einem Mimeographen explizit ölhaltige Vervielfältigungsfarbe aufgetragen. Möglicherweise sollten die Handschuhe die Übertragung von Fingerabdrücken unterbinden. Ein Vervielfältigungsapparat, wie ein ROTO-PREZIOSA oder vergleichbares Gerät, ist aufgrund seiner Grösse kaum und vor allem nicht unauffällig unter einem Bett aufzubewahren. Möglicherweise befand sich unter dem Bett ebenfalls ein Greif oder ein Greif ähnliches Handabzugsgerät. Willi Bollinger berichtete, dass die Flugblätter an ausgesuchte oppositionelle Gegner des Nationalsozialismus innerhalb Saarbrückens per Post zugesendet wurden.[2223] Eine Aussage zur Flugblattauflage durch Willi Bollinger konnte nicht festgestellt werden, vielmehr wird die Zahl 200 von Werner Reichert genannt. Unklar bleibt, wie Werner Reichert zu seinen Informationen gelangte und inwieweit er selbst Kenntnisse von der angeblichen Flugblatt-Herstellung hatte. Zweihundert Briefsendungen wären dann schon sehr viel, die Willi Bollinger hergestellt haben soll. Keiner der Empfänger soll ein Flugblatt bei der Polizei abgegeben haben.[2224] Die Frage stellt sich, wer kannte aus dem Stegreif 200 nationalsozialistische Gegner, um diese mit Flugblättern zu bedienen? Das war selbst in München nicht einfach. Werner Reichert könnte als einziger Zeitzeuge in Betracht kommen, der halbwegs Details zu den Ausführungen von Willi Bollinger und Heinz Bollinger bestätigen könnte. Werner Reichert habe Willi Bollinger von der Festnahme seines Bruders Heinz Bollinger unterrichtet. Daraufhin habe Willi Bollinger den Vervielfältigungsapparat vernichtet. Hat Werner Reichert die Zerstörung der Vervielfältigungsapparatur selbst erlebt?[2225] Willi Bollinger, Bruder Heinz Bollinger und Helmut Bauer werden wegen Mitwisserschaft und Hören von Feindsendern zu sieben Jahren Haft verurteilt und verlieren für diese Zeit ihre Bürgerrechte.[2226], [2227] Weil angeblich keine Flugblätter von den Adressaten abgegeben wurden, die Geheime Staatspolizei angeblich keine Postsendungen abfangen konnte, liegt folglich keine Anklage wegen Flugblatt-Verbreitung vor. Tabelle 22 auf Seite 337 zeigt zum Vergleich, die Geheime Staatspolizei ist genau im Bilde wo und wann Flugblätter verbreitet wurden.

    Willi Graf hielt in seinem Tagebuch eine Einigkeit mit der Familie Bollinger fest, sodass möglicherweise eine Widerstandsabsicht vorgelegen haben könnte. Eine Flugblatt-Herstellung ist durchaus denkbar, bewiesen werden konnte sie nicht zweifelsfrei. Klassische Nachweise aus dem Umfeld von Willi Bollinger, wie beispielsweise durch Offiziere und Kameraden, konnten aus bisher veröffentlichten Publikationsschriften nicht entdeckt werden. Die Namen von Mitwissern sind entweder nicht bekannt, oder wurden nie veröffentlicht. So hängt alles von einem bisher unentdeckten Schriftstück ab, aus dem Nachweise zur Flugblattproduktion in Saarbrücken hervorgehen könnten. Unmittelbar mit Kriegsende, so stellt sich das heute dar, konnten keine umfassenden Aussagen von Zeitzeugen gesichert werden. Nach so vielen Jahren bleibt nur noch die Hoffnung glücklicher Umstände. Anneliese Knoop-Graf berichtete über ihren Bruder: Willi Graf suchte in Gesprächen mit seinen Mitmenschen Tiefgang, keine nichtssagende Konversation.[2228] Im Vergleich mit seinem Tagebuch wirken die Schilderungen von seiner Schwester zutreffend. Aus dieser Betrachtung heraus wäre kaum vorstellbar, dass Willi Graf seine knapp bemessene Zeit, neben Widerstand und Studium, in Saarbrücken und Umfeld ergebnislos verstreichen hätte lassen. Grundlos wären so viele Gespräche in Saarbrücken bei Familie Bollinger sicherlich nicht zustande gekommen, dem auch ein Plan zu einer Widerstandshandlung gefolgt sein dürfte. Inwieweit dies bereits in die Tat umgesetzt wurde, lässt sich derzeit nicht feststellen.[2229]