3.4           Weitere Hintergrunddetails

Als Hans Scholl in seiner Vernehmung von 2000 Briefsendungen spricht, versuchte er gleichzeitig Alexander Schmorell zu entlasten.[2150] Warum sollten im Vergleich zu Augsburg (250), Stuttgart (bisher 700), Salzburg (150), Linz/D (200), Wien (1000) und Frankfurt (300) für die Ulmer Schüler 1300 + 700 = 2000 Briefsendungen geplant gewesen sein?[2151] Das wäre der grösste Einzelposten mit Schülern ohne Einkommen und von Geldgebern ist nichts bekannt. In München wurden ganz sicher Überlegungen angestellt, mit wie vielen Personen, Schreibmaschinen, in welcher Zeit, wie viele Briefe in Ulm durch Schüler adressiert, kuvertiert, frankiert werden können und wie der Postversand finanziert werden soll und das Ganze zwischen dem 25. abends und 27. Januar 1943 abends. In München verfügte der Freundeskreis über Erfahrung bezüglich des Adressieraufwands. Zum Einsatz kam in Ulm eine Schreibmaschine, die erst noch beschafft werden musste.[2152] Wie hätten die Ulmer Schüler zwischen 1000 und 1200 Briefsendungen mit einer Schreibmaschine und zwei Personen in 4 + 9 = 13 Arbeitsstunden neben Schulbesuch und Organisation dieses Arbeitspensum bewältigen und finanzieren sollen? Welcher Sinn liegt zugrunde, 2000 Flugblätter für den Postversand zu übergeben, wenn der grösste Teil im Ofen landen würde. Aufgrund dieser Betrachtung wird die Angabe durch Hans Hirzel mit 1000 und Franz-Josef Müller mit 1200 Briefsendungen ausgeschlossen und der Mittelwert von Sophie Scholl und Hans Scholl mit 700 posttechnisch unbearbeiteter Flugblätter, die Hans Hirzel zusammen mit 1300 postfertigen Briefsendungen aus München erhalten haben muss, für den Postversand in Stuttgart für am wahrscheinlichsten betrachtet. Dieser Wert wurde auf Seite 330 "Stuttgart Postversand – Flugblatt V Charge-1" übernommen. Weil nicht in jeden Briefumschlag der bis zu 500 Briefsendungen zwei Flugblätter eingelegt wurden und die Finanzierung durch die Beteiligten nicht geklärt werden konnte, dürfte von 700 Flugblättern tatsächlich ein Teil im Ofen verbrannt worden sein.[2153] Als grobe Orientierung grösser 200[2154] und deutlich weniger als 700. Die Geheime Staatspolizei ging zunächst davon aus, dass für Stuttgart 500 Briefsendungen verbreitet wurden.[2155] Weil insgesamt bis zu 1300 + 500 = 1800 Briefsendungen in Stuttgart in Umlauf gekommen sein dürften, müssen folglich bei der Geheimen Staatspolizei mehr Briefe abgefangen worden sein. Dies bestätigte sich nachvollziehbar durch einen weiteren Bericht durch die Geheime Staatspolizei, von 800 Briefsendungen seien 670 Briefe beschlagnahmt worden.[2156] Die Geheime Staatspolizei in Stuttgart dürfte auf einen solchen Postversand nicht vorbereitet gewesen sein. In München lag eine andere Situation als in Stuttgart vor, denn dort wurde die Situation seit Monaten mit Unterbrechung zwischen Sommer 1942 und Januar und Februar 1943 sehr genau beobachtet. In München ist möglicherweise mit einer hohen Erfolgsquote, was die abgefangenen Flugblätter und Briefsendungen betrifft, zu rechnen. Die Beschaffung von Briefumschlägen war schwierig, weil diese rationiert waren. Doch konnte das V. Flugblatt wegen der Doppelseite nicht zu einem Briefumschlag wie beim VI. in München gefaltet werden.[2157] Ganz offensichtlich war darunter ein grosser Posten, der in München verarbeitet wurde und nicht in Ulm. Bisher blieb für München eine Postversandauflage von

Briefmarkenkauf – (beschlagnahmte Briefmarken) –

(Postversand Seite 331 Tabelle 20) =

4450[2158] – 140[2159] 3010[2160] = 1300

Briefsendungen ungeklärt.[2161] Dieser Posten, davon darf ausgegangen werden, muss zu einem Postversand geführt haben. Die Geschwister Scholl machten folgende Angaben bezüglich dem V. Flugblatt zum Postversand für Augsburg, Stuttgart und dem Postversand von Alexander Schmorell und einer Streuaktion in München mit 2000 Flugblättern:

(Augsburg)+(Stuttgart postfertig)+(Stuttgart postunfertig)+

(Kurierfahrt Alexander Schmorell)+(Streuaktion in München)+

[(Streuung in München)+(Streuung in der Universität)]

(250) + (1300) +(700) + (1650) + (2000) + [(50) + (50)] = 6000[2162].

Die in Klammern gesetzten 1300 Flugblätter wurden in den Gerichtsakten so nicht genannt, sondern liegen im Verbund mit 2000 Exemplaren für den Postversand Stuttgart vor. Dieser Betrag von 6000 Flugblättern entspricht der Kernaussage von Sophie Scholl. Ohne diesen Posten von 1300 käme die Flugblattauflage beim V. Flugblatt nur auf 4700 Flugblätter.[2163] Demnach wurden die Kosten für 1300 postversandfertige Briefsendungen von München aus finanziert.[2164] Sophie Scholl fuhr nicht selbst nach Stuttgart,[2165], [2166] auch wenn Hans Scholl in seiner Vernehmung angab, dass seine Schwester Sophie Scholl über Augsburg Flugschriften nach Stuttgart brachte.[2167] Die Geheime Staatspolizei war genau im Bilde wo und wann Flugblätter gestreut oder zur Post kamen. Viele Flugblätter und Briefsendungen erreichten ihre Ziele nicht.[2168] Hätte der Widerstandskreis eine weitere Flugblattauflage von 1300 Briefsendungen anderenorts als Stuttgart verbreitet, wäre dieser durch die Geheime Staatspolizei in München als Verbreitungsort mit Datum dokumentiert worden. Sophie Scholl wird sich sicherlich um ihre Schwester Elisabeth Scholl[2169] gekümmert haben, als diese zu Besuch nach München kam. Wie hätten Hans Scholl und Sophie Scholl sich gegenüber Elisabeth Scholl erklären sollen, dass ihre Schwester Sophie für 2 ½ Tage verreisen muss. Elisabeth Scholl sollte ganz gewiss nichts von den Aktivitäten ihrer Geschwister erfahren. Also mussten die Aktionen in der Franz-Joseph-Strasse solange angehalten werden. Am Abend des 27. Januar 1943 werden die Geschwister Scholl bei einer Ateliersveranstaltung in München gesehen.[2170] Auch Elisabeth Scholl ist unter den Gästen. Weder Hans Scholl noch Sophie Scholl machten in ihren Vernehmungen Angaben über Hans Hirzel noch über Franz-Josef Müller und auch nicht über Susanne Hirzel, um sie so vor der Staatspolizei zu schützen. Hätte die Geheime Staatspolizei vor der Gerichtsverhandlung konkrete Details durch die Geschwister Scholl in Erfahrung gebracht, wäre die Situation für Hans Hirzel, Susanne Hirzel und Franz-Josef Müller vielleicht nicht mehr so glimpflich ausgegangen, weil sie sich schon bei der ersten Verhandlung wie Christoph Probst verantworten hätten müssen. In der Vernehmung von Willi Graf fiel erst am 27. Februar 1943 der Name Hans Hirzel, nachdem er durch seinen Vernehmer mit seinem Namen konfrontiert wurde.[2171] Gleiches geschah Alexander Schmorell, der erst am 13. März 1943 auf den Namen Hans Hirzel angesprochen wurde.[2172]

    Sophie Scholl gab in ihrer Vernehmung an, dass in einem Zeitraum von etwa 14 Tagen die Flugblätter und Briefe versandfertig gemacht und erst dann in den jeweiligen Orten ausserhalb von München zur Post gebracht wurden. In dieser Zeit konnten

(Augsburg)+(Kurierfahrt Alexander Schmorell)+

(Postversand Stuttgart in München bearbeitet)

(250) + (1650) + (1300) = 3200

Briefsendungen verarbeitet werden.

    Der Intension für den Stuttgarter Postversand muss ein realistischer und praktischer Plan vorgelegen haben.[2173] Nirgends hätten 1300 offene Briefsendungen so in eine Lücke gepasst, wie für den Postversand in Stuttgart, zumal Hans Hirzel und seine Schwester Susanne Hirzel mitteilten, dass sie von Sophie Scholl 2000[2174] Flugblätter erhalten hätten. In München hätte sicher keiner 1300 Adressen aus den ausliegenden Listen im Münchner Museum grundlos handschriftlich herausgeschrieben. Sophie Scholl berichtet nach ihrer Festnahme: «Die notwendigen Adressen von Wien, Salzburg, Linz, Augsburg, Stuttgart und Frankfurt haben in der Hauptsache mein Bruder und ich im Deutschen Museum aus dem dort aufliegenden Adressbüchern der Städte, Jahrgänge 39-41 herausgeschrieben. Einmal hat auch "Alex" solche Adressen mit herausgeschrieben. Die Briefe mit Flugblätter zur Verbreitung in den Städten ausserhalb Münchens, haben wir in einem Zeitraum von etwa 14 Tagen postversandfertig gemacht und erst dann die Briefe an den einzelnen Orten aufgegeben.»[2175] In Ulm wurde für Stuttgarter Adressen ein Telefonbuch verwendet.[2176] Warum dann Adressennotizen aus dem Münchner Museum? Parallel berichtet ihr Bruder Hans Scholl bei der Geheimen Staatspolizei: «Wir gingen schliesslich gemeinschaftlich in das Deutsche Museum und schrieben dort Adressen von auswärtigen Städten wie Salzburg, Linz /D., Wien, Frankfurt/M., Augsburg und Stuttgart heraus. Diese Adressen haben wir dann auf Briefumschläge geschrieben[2177] Willi Graf beschreibt die Situation aus seiner Erinnerung: «Ich habe bereits angegeben, dass ich mich in der Zeit vom 21. bis 24.1.43 in Bonn aufhielt. Während dieser Zeit sind meines Wissens die Propagandabriefe für die Städte Salzburg, Linz, Wien, Augsburg, Stuttgart und Frankfurt/Main in der Wohnung Scholl vorbereitet worden. Davon erfuhr ich erst nachträglich durch Hans Scholl. Ich habe also davon gewusst, aber in keiner Weise bei Bearbeitung dieser Sache mitgewirkt.»[2178]

    Verständlich und nachvollziehbar wäre, wenn die Ulmer Schüler untereinander vereinbarten, im Falle, dass etwas schiefgehen sollte, nicht einzugestehen, dass bis zu 1300 + 500 = 1800 Briefsendungen zur Post in Stuttgart aufgegeben wurden. Susanne Hirzel könnte eine solche weitsichtige Vorgehensweise eingebracht haben. Das würde zu ihrem Wesen passen. Vor allem nach den ersten Verhaftungen in München dürfte dies von Wichtigkeit gewesen sein. Dem Anschein nach glaubten die Beamten anfangs, die Ulmer Schüler hätten nur 500 Briefsendungen verarbeitet.

    Hans Hirzel hätte für die Fahrt von Ulm nach Stuttgart mit ungefähr 1800 postfertigen Briefsendungen ein Gewicht bei sich gehabt von

3,14 g * 1800 (Briefumschläge)+4,94 g * 1800 (Papier)= 14,54 kg

plus ca. 2 kg für einen Koffer.[2179] Die Masse für 1800 postfertige Briefe beläuft sich auf:

Breite x Länge x (Höhe) [mm] =

113 x 163 x (1800 * ((2*0,1) + (4 * 0,192))) mm³

= 11,3 x 16,3 x 174,2 cm³ = 32,09 l Packvolumen

Stapelhöhe mit 174,2 Briefumschläge auf 9 Stapeln aufgeteilt: 174,2 9 = 19,36   cm

Die Packgrösse kann beispielsweise auf die Masse 33,9 x 48,9 cm mit einer Höhe von 19,4 cm eingerichtet werden. Die Stapelhöhe ergibt sich durch die Dicke eines Briefumschlages mit Vorder- und Rückseite mit 2 x 0,1 mm und eines gefalteten Flugblatts mit 4 x 0,192 mm und multipliziert mit 1800 Postsendungen

((2 * 0,1) + (4 * 0,192)) * 1800 = 1742,4 mm = 174,2 cm.

V-Breite
33,9
        V-Länge
48,9
V-Höhe
19,4
16,3 16,3 16,3  
11,3  
               
11,3   V-Gesamt
32,1 Liter
 
11,3  

Abbildung 257: Koffer-Packgrösse in Ulm, alle Wertangaben in cm gerechnet

Mit 3 x 3 Umschlagreihen bei einer Höhe von 20 cm, passt ein solches Volumen gut in einen mittelgrossen Koffer. Susanne Hirzel machte in der gleichen Dokumentation von Katrin Seybold[2180] die Angabe, sie habe drei oder viermal eine Schulmappe gepackt, um die Briefsendungen in Umlauf zu bringen. Ein Schulranzen hat etwa 20,6 Litervolumen, eine angenommene Schulmappe ungefähr 10 Liter.

Umschlag vom 27.1.1943, geschrieben in Ulm, für Stuttgart auf Schreibmaschine Olympia, © Katrin Seybold, Dokumentations-DVD

Abbildung 258: Umschlag vom 27.1.1943, geschrieben in Ulm, für Stuttgart auf Schreibmaschine Olympia, © Katrin Seybold, Dokumentations-DVD

    Abbildung 258 zeigt einen adressierten und frankierten Briefumschlag mit Poststempel Stuttgart, Stadt der Ausländerdeutschen, vom 27. Januar 1943 mit einer 8 Pfennig Briefmarke. Der Umschlag wurde aufgrund des Schriftbildes vermutlich mit einer Olympia Schreibmaschine in Ulm adressiert und in Stuttgart bei der Post zum Versand aufgegeben, jedoch kann Letzteres nicht durch Sophie Scholl geschehen sein.

    Der Bruder von Katrin Seybold, Darsteller und Produzent Lutz Seybold, gab mir dankend den Hinweis, dass weiteres Postmaterial und Dokumente im Archiv von Katrin Seybold vorliegen und dass ich mir das gerne ansehen dürfe. Im Dokumentationsfilm von Katrin Seybold "Zeitzeugen der Weißen Rose", "Die Widerständigen" wurden die hier gezeigten Briefumschläge veröffentlicht. Der Dokumentationsfilm ist von hohem Wert, weil einige sehr konkrete Details für die Aufarbeitung damaliger Sachverhalte genannt werden. "Stadt der Auslandsdeutschen" ist ein nationalsozialistischer Ehrentitel, den die Stadt Stuttgart verliehen bekam. Für eine Schriftanalyse wurde mit einer Erika 6 ein Vergleichs-Briefumschlag erstellt.[2181] Die Analyse ergab, dass der Briefumschlag Abbildung 258 mit einer Olympia Schreibmaschine adressiert worden sein dürfte. Modelle Olympia Progress und Olympia Robust kommen derzeit in Betracht, möglicherweise noch weitere. Der handschriftliche Vermerk auf dem Umschlag ist nur schwerlich zu entziffern und dabei dürfte es sich um einen Hinweis durch die Post oder durch die Polizei handeln. Zur Nummer 27515 konnte keine Erklärung gefunden werden. Die Zahl wurde zweimal von der gleichen Person geschrieben. Der Briefumschlag dürfte in der Nacht zum Mittwoch, den 27. Januar 1943, bei einem Postamt in den Briefkasten eingeworfen und noch in der Nacht abgestempelt worden sein. Vermutlich erhält die Polizei den Brief am Freitag, den 29. Januar 1943. In Ulm wurde für den Stuttgarter Postversand eine Olympia[2182] Schreibmaschine verwendet, die zwar ein ähnliches Schriftbild aufweist wie eine Erika 6, doch ergab sich beim Buchstaben r eine deutliche, wenn auch sehr unscheinbare Differenz. Als Referenz die Adresse mit einer Vergleichsmaschine Erika 6 geschrieben, siehe Abbildung 259.