III. Weisse Rose München


2          Vorgeschichte - Weisse Rose

Bevor Hans Scholl und Alexander Schmorell sich ab etwa Mai 1942 mit Widerstandsgedanken befassten, sollte sich erst ganz anderes ereignen. Vieles wurde aus der Vorgeschichte bereits durch andere Autorinnen und Autoren publiziert, doch noch nicht alles und hier mit einem ganz besonderen Original eines maschinengeschriebenen Flugblatts.

    "Endlösung" beschrieb die fabrikmässige Ermordung von Menschen in Vernichtungslagern durch die Nationalsozialisten. Vor allem betraf dies millionenfach Juden, Sinti und Roma, politisch andersdenkende Bürgerinnen und Bürger, die ihrem Gewissen folgten, wie auch Georg Elser und viele andere. Eine verdeckte Begrifflichkeit war der Ausdruck "planwirtschaftliche Verlegung von Anstaltsinsassen".[40] Unter seinesgleichen wurde von Liquidierung gesprochen, was inhaltlich dem "lebensunwerten Leben" glich und auch unter dem Begriff "Euthanasie" abgehandelt wurde.[41] "T4" war für die Euthanasie eine spezielle interne Codierung und erinnert an einen üblen Dienstsitz der Nationalsozialisten in der Berliner Tiergartenstrasse 4.[42] Von dort aus wurde der Massenmord an arglosen Menschen geplant und organisiert. Literaturquellen belegen die Tragweite deutscher neurologisch, psychiatrisch geführter Kliniken unter der Herrschaft der Nationalsozialisten. Die Rechtfertigung der Euthanasie wurde mit lebensunwertem Leben begründet, Menschen die dem Staat nichts mehr zu bieten hatten und nur Kosten verursachten.[43] Nach dem Krieg wurden diejenigen zur Verantwortung gezogen, die bei der Euthanasie aktiv mitgewirkt hatten oder wenn schwerwiegende Vergehen vorlagen. Hinrichtungen durch die Gerichte der Alliierten ergingen an Ärzte, leitendes Pflegepersonal, Krankenschwestern und Pfleger.[44], [45]

    Die Dissertation der Zahnmedizinerin Anna Radtke (geb. Plezko) führt mit ihrem wissenschaftlichen Thema zur Vorgeschichte des Widerstandskreises Weisse Rose.[46], [47] Als sie ihre damalige Dissertation schrieb, war ihr vermutlich nicht bewusst, dass ihre Doktorarbeit zum Widerstandskreis Weisse Rose führen würde. Sie machte in ihrer Dissertation zumindest keine Anmerkung dazu. Mit ihrer Dissertation tauchte die Frage auf, wer unterrichtete eigentlich Bischof Graf von Galen über die Ereignisse der Euthanasie?

 

   Zur Geschichte:

Die Mediziner der Fakultät Neurologie und Psychiatrie, Hans Roemer, Klinikdirektor in Illenau, Karsten Jaspersen, der psychiatrischen und Nervenabteilung der Westfälischen Diakonissenanstalt aus Bethel und Leiter Gottfried Ewald der Landes-, Heil- und Pflegeanstalt Göttingen,[48] heute Asklepios Fachklinikum für Psychiatrie und Psychotherapie Göttingen, leisteten Widerstand gegen das Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten. Bekannt ist, dass Karsten Jaspersen umliegende Kliniken aufrief, keine Meldebögen auszufüllen.[49] Die Meldebögen dienten zur Klassifizierung von "unwertem" Leben. Hans Roemer wehrte sich unbeugsam als Klinikdirektor in Illenau gegen die Euthanasie. Vorgesehene Patientenabtransporte in Zwischenlager und Tötungsstätten konnte Hans Roemer nur behindern, jedoch wegen starker Gegenwehr nicht unterbinden. Er begab sich am 31. Oktober 1940 in einstweiligen Ruhestand.[50] Gottfried Ewald äusserte sich um 1940 zunächst zum T4-Programm: «Ist das Gesetz Tatsache geworden, so werde ich als Beamter Folge leisten.»[51] Doch als er gefragt wurde, lehnte Gottfried Ewald die Mitarbeit als Gutachter bzw. Obergutachter am T4-Programm mit der Begründung ab: «[E]r könne grundsätzlich nicht seine Hand dafür geben, Kranke, die ihm anvertraut seien, auf diese Weise zu beseitigen[52]

    Anna Radtke zitiert den Autor Ernst Klee in ihrer Dissertation: «An den Beispielen Hans Roemer, Karsten Jaspersen und Gottfried Ewald lässt sich belegen, dass nicht alle überzeugten Nationalsozialisten unter den Ärzten zu den Befürwortern der Euthanasie zählten, es war gewiss nicht ungefährlich, sich gegen die Euthanasiemaßnahmen aufzulehnen, doch zugleich lässt sich feststellen, dass kein Psychiater wegen Widerstandshandlungen ins Konzentrationslager gekommen ist.»[53] Hans Roemer setzte seine Tätigkeit als Arzt erst wieder ab dem 1. Oktober 1943 in Göppingen in der Privatklinik Christophsbad fort[54] und widersetzte sich dort Behörden und höheren staatlichen Instanzen.[55] Ähnlich gelang dies auch Gottfried Ewald[56], [57] und Karsten Jaspersen[58]. Frühentlassungen, Ignorieren von Patientenmeldebögen, Familienpflege, Hausbehandlung, Patientenunterbringung in Pflegefamilien, Fälschung von Patientendaten und Diagnosen, Patient zu einem wichtigen Demonstrationsfall erklären und andere Patientenmassnahmen, erschwerten die abverlangten Abtransporte durch Dienststellen der Reichsministerien. Privatpatienten waren bei der Euthanasie soweit kein Problem, das belegt ein Fall aus dem Christophsbad in Göppingen an der Fils. Die Kosten eines Privatpatienten wurden aus England beglichen. Nach einer Auseinandersetzung mit den Behörden konnte der Patient im Christophsbad verbleiben.[59]

    Das Euthanasieprogramm sollte die Staatskosten, die durch "Pfleglinge" entstanden, senken. Zumindest war dies eine interne Begründung, neben dem ideologischen Gedankengut des Nationalsozialismus. Kliniken, die Widerstände gegen die Euthanasie leisten wollten, konnten hier ansetzen und unkonventionelle Massnahmen in Erwägung ziehen, bei denen keine Kosten für das "Reich" entstanden. Kostenübernahme durch Angehörige soweit möglich, Kostenübernahme durch die Klinik, Gehaltskürzungen, Spendensammlung usw. Der leitende Arzt Karl J. vom Christophsbad Göppingen hatte, laut Prozessunterlagen Spruchkammer Göppingen 16/1/19225, bis 1944 ein Brutto-Monatseinkommen von 1378,75 Reichsmark (RM). Im Vergleich, Sophie Scholl gab bei ihrer Vernehmung gegenüber der Geheimen Staatspolizei München an, ihr Vater Robert Scholl habe ein monatliches Einkommen von mehr als 1500[60] RM, Professor Kurt Hubers monatliches Einkommen betrug 300[61] RM, Eugen Grimminger hatte im Monat 666 RM.[62] Demnach hätten leitende Ärzte in der Zeit zwischen 1940 und 1941 mit ihrem Gehalt Leben retten können.

    Besondere Art von Rettungsmassnahmen gehen aus den Urteilsbegründungen der Göppinger Prozesse gegen das Christophsbad nicht hervor. Oskar Schindler kaufte mit seinem Vermögen über 1000 Leben frei, Menschen, die den sicheren Gastod vor Augen hatten.[63], [64] Das Christophbad kannte in der Zeit zwischen 1939 und 1941 keinen Oskar Schindler. Doch Karl J., andere Ärzte und Bedienstete der Klinik, unternahmen vor der Zeit von Hans Roemer nichts Erkennbares, was Menschen hätte retten können. Deutlich wurden hingegen Massnahmen, die für die Privatklinik von wirtschaftlichen Interessen waren.[65] Nach dem Krieg folgten für das Christophsbad im Jahre 1946 Gerichtsurteile mit Freisprüchen. Jene traten ihren Klinikdienst wieder an, die ohne nachweisbare Gegenwehr, die Patienten für die Euthanasieabtransporte auslieferten. Die zuvor sich selbst Überlassenen stiegen in bereitgestellte graue Omnibusse mit milchtrüben Fensterscheiben, die meisten fuhren nach einer abschliessenden medizinischen Untersuchung direkt in den Tod. Diejenigen, die nicht zur Abholung auf den Listen standen, wurden nach dem Krieg vom gleichen Klinikpersonal wieder behandelt, als ob nichts geschehen wäre. Darunter auch der leitende Oberpfleger Richard K..[66] Auch bei ihm ist nichts feststellbar, dass durch besondere Massnahmen die ihm anvertrauten Menschen geschützt wurden.[67] Der ärztliche Eid des Hippokrates beschrieb schon damals eine grundlegende Ethik eines jeden Arztes.[68] Dies gilt auch für das Pflegepersonal, insbesondere für leitendes als Vorbild. Nichts von dem ist erkennbar. Das Unfassbare ist lautlos ohne Widerstand unwiderruflich über die Schwächsten ergangen. Merkwürdige Gerichtskonstellation: Im Prozess gegen Karl J. wurde ein Gerichtsgutachter zugelassen, der den Angeklagten aus Studienzeiten kannte.[69] Im Verfahren wurde die Unwissenheit zum T4 Programm beteuert.[70] Klinikdirektor Fritz G. sagte als Zeuge bei einem anderen Prozess vor Gericht: «[A]n die Möglichkeit einer Euthanasie dachte ich nur ganz entfernt[71] Wusste die Klinik über das Euthanasieprogramm doch mehr als vor Gericht eingestanden?[72] Der Chefarzt bezog sich auf einen Vorgang vom Oktober 1939. Obwohl im Christophsbad ein Reichspräzedenzfall bezüglich Kostenübernahme durch einen englischen Geldgeber vorlag, setzten die Klinikverantwortlichen hier nicht weiter an. Über Richard K. wurde in den 70er Jahren familiär berichtet, vereinzelte Patienten hätten ihn um Verschonung gebeten. Demnach seien Patienten für die Abtransporte ausgesucht worden, die aufgrund ihrer neurologischen Erkrankung nicht mehr bei vollem Bewusstsein gewesen sein sollen.[73] So muss die Aussage des Klinikdirektors Fritz G. in Zweifel gezogen werden. Eine eidesstattliche Aussage durch Oberpfleger Richard K. entlastete Karl J., die das Gericht an zwei verschiedenen Stellen seiner Urteilsbegründung aufführt.[74]

    Am Beispiel Christophsbad Göppingen zeigt sich, was neurologisch-psychiatrische Kliniken hätten tun können, um ihre Patienten vor dem Euthanasieprogramm besser zu schützen. Bisher sah die deutsche Rechtsprechung vor, dass NS-Tätern eine direkte Beteiligung am Morden nachgewiesen werden musste. Das Landgericht München II sprach in seinem Urteil aus dem Jahre 2011, einen zunächst mutmasslich beschuldigten KZ-Wächter wegen Beihilfe zum Mord ohne Nachweis einer Tatbeteiligung für schuldig.[75] Nach diesem Urteil werden mittlerweile auch Buchhalter, die in den Konzentrationslagern den Ankömmlingen Wertgegenstände abnahmen, zur Verantwortung gezogen und nicht nur jene, die auf den Rampen entschieden, wer von den Verhassten rechts oder links gehen musste. Eine Entscheidung, die Familien voneinander trennte und eine Entscheidung, wer direkt ins Gas ging oder erst noch schuften musste, bis er nicht mehr konnte, um dann ins Gas zu kommen. Millionen dieser Menschen erstickten qualvoll. Erhaltene Fotoaufnahmen bezeugen Kratzspuren an Wänden der Gaskammern, die von Menschenhand herrühren, die sich im Todeskampf befanden.[76] Wäre die Rechtsprechung frühzeitig reformiert worden, hätten sich Millionen ihrer Situation verantworten müssen, jede noch so kleine Hilfskraft, die angeblich nichts vom Massenmord in den Konzentrationslagern gewusst haben wollte und doch mittendrin mitwirkte und jene, die in Kliniken entschieden, "wer den Bus nimmt"![77] Aus heutiger Sicht muss die deutsche Justiz sich den Vorwurf gefallen lassen, in der Vergangenheit massiv versagt zu haben.

    Die Autorin Mirica Kordis schreibt über einen parallel gelagerten Fall, der sich in der Kreispflegeanstalt Freiburg ereignet hat. Die Patienten erfuhren bei Erledigungen in der Stadt über das Euthanasieprogramm und wussten mehr als das Klinikpersonal. Alsbald durchschaute die Klinik, was mit den abgeholten Patienten geschah. Die Patienten hatten recht behalten. «Wir Schwestern sprachen dann bei Tisch darüber und hielten das für unsinnige Gerüchte, bis dann nach dem 1. Transport die 1. Todesnachrichten kamen... ...Als wir das sahen, packte uns ein Grauen[78] Auf ähnliche Weise mussten die Patienten vom Christophbad erfahren haben, was die Abtransporte durch Omnibusse für sie bedeuten würden. Das Landgericht Tübingen verwendete den juristischen Begriff "Nötigungsnotstand": «Hätten Angeklagte ihre Mitwirkung versagt, so hätten sie das Euthanasieprogramm in keiner Weise dadurch verhindert oder eingeschränkt, sondern sie hätten im Gegenteil nur anderen wahrscheinlich gefügigeren Ärzten Platz gemacht, die rücksichtsloser vorgegangen wären[79]

    Karsten Jaspersen liess der Geheimen Staatspolizei Berlin und dem Reichsgesundheitsführer durch die Staatspolizei-Leitstelle Bielefeld mitteilen, dass die Krankentötung für ihn als nationalsozialistischer Arzt gegen jede ärztliche Berufsauffassung verstiesse.[80] Karsten Jaspersen unterrichtete im Juli/August 1940 den Bischof Graf von Galen in Münster über die Euthanasie.[80] Der Bischof übergab die schlechten Nachrichten an die Kirchenleitung, jedoch geschah nichts. Ein Jahr später, am 3. August 1941, reagierte der Bischof mit einer Predigt zur Euthanasie. Bischof Graf von Galen gilt als erste Person, die öffentlich das Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten in einer nicht zu überbietenden Deutlichkeit kritisierte und durch ein Beispiel aus Münster belegte.[81] Wie der Bischof zur Judenfrage und zum Russlandfeldzug im Zusammenhang zu den Bolschewisten stand, dazu suchen Forscher noch nach Antworten.[82]

   Treue Bürger von Bischof Graf von Galen und Mönche vervielfältigen seine Predigten auf Schreibmaschine und Vervielfältigungsapparaten. Auf Seite 2 der siebenseitigen Euthanasie-Predigt einer Originalflugschrift vom 3. August 1941 ist zu lesen: «[M]an dürfe sogenanntes lebensunwertes Leben vernichten, also unschuldige Menschen töten, wenn man meint, ihr Leben sei für Volk und Staat nichts mehr wert. Eine Lehre, die furchtbar ist, die die Ermordung Unschuldiger rechtfertigen will, die die gewaltsame Tötung der nicht mehr arbeitsfähigen Invaliden, Krüppel, unheilbar Kranken, Altersschwachen grundsätzlich frei gibt[83]

Predigt Bischof Graf von Galen, 1/7, Original, keine Archivkopie, Privatbesitz

Abbildung 1: Predigt Bischof Graf von Galen, 1/7, Original, keine Archivkopie, Privatbesitz

Predigt Bischof Graf von Galen, 2/7, Original, keine Archivkopie, Privatbesitz

Abbildung 2: Predigt Bischof Graf von Galen, 2/7, Original, keine Archivkopie, Privatbesitz

Predigt Bischof Graf von Galen, 3/7, Original, keine Archivkopie, Privatbesitz

Abbildung 3: Predigt Bischof Graf von Galen, 3/7, Original, keine Archivkopie, Privatbesitz

Predigt Bischof Graf von Galen, 4/7, Original, keine Archivkopie, Privatbesitz

Abbildung 4: Predigt Bischof Graf von Galen, 4/7, Original, keine Archivkopie, Privatbesitz

Predigt Bischof Graf von Galen, 5/7, Original, keine Archivkopie, Privatbesitz

Abbildung 5: Predigt Bischof Graf von Galen, 5/7, Original, keine Archivkopie, Privatbesitz

Predigt Bischof Graf von Galen, 6/7, Original, keine Archivkopie, Privatbesitz

Abbildung 6: Predigt Bischof Graf von Galen, 6/7, Original, keine Archivkopie, Privatbesitz

Predigt Bischof Graf von Galen, 7/7, Original, keine Archivkopie, Privatbesitz

Abbildung 7: Predigt Bischof Graf von Galen, 7/7, Original, keine Archivkopie, Privatbesitz

 Der Bischof brachte sich mit dieser öffentlichen Predigt von vielen, die an die Adresse der Nationalsozialisten gerichtet waren, in höchste Lebensgefahr. Der Reichsleiter Martin Bormann und andere forderten beim Führer Adolf Hitler den Prozess mit Hinrichtung. Dieser und Propagandaminister Josef Goebbels lehnten wegen der möglichen Folgen ab.[84] Nach dem Krieg bedankte sich der Löwe von Münster, wie ihn viele seiner Gläubigen nannten, am 16. März 1946 bei seinen Treuen in Münster. An diesem Tag kam er aus Rom zurück, wo er zum Kardinal geweiht wurde.

    Mit welchem Typ von Schreibmaschine wurde damals die gezeigte Predigt von Bischof Graf von Galen mittels sehr dünnem Durchschlagpapier vervielfältigt? Der Experte für Urkunden und Maschinenschriften Bernhard Haas teilte mir dankend nach seiner Schriftanalyse das Ergebnis mit. Zuvor musste ich unter dem Mikroskop mit einer digitalen Schieblehre die Buchstabenhöhe mitteilen. Höhe des grössten Zeichens betrug 2,74 mm. Daraufhin konnte der Experte folgende Feststellung machen: «…der Messwert (2,74 mm) entspricht der Pica-Schriftgröße, die ich vermutet habe. Der exakte Messwert (Abstandsmessung Profilmitte der Fuß- und Kopfstriche bei den Majuskeln) unter Berücksichtigung der Farbbandeinfärbung ist bei der klassifizierten Schrift etwa 2,45 mm. Der Typensatz stammt von der Herstellerfirma Underwood in New York und wurde in Underwood-Standardschreibmaschinen mit deutscher Tastatur eingebaut. Die verwendete Schreibmaschine besitzt ein Baujahr zwischen 1924 und 1928. Diese Systembestimmung war etwas zeitaufwendiger, da bei der Pica-Schrift von Underwood 24 verschiedene Grundmuster existieren.»[85] Auch Experten vom Landeskriminalamt (LKA) haben ihre eigene Amtssprache. Majuskeln bedeutet Grossbuchstaben, analog Minuskel als Begriff für Kleinbuchstaben. Die Underwood-Standard wurde in der Version 3, 4, 5 und Unterversionen der jeweiligen Nummer angeboten. Generell sind die Unterschiede der Maschinen nicht sehr gross, nur kleine Optionsabweichungen. Problematisch kann sich die Suche nach einer solchen Vergleichs-Maschine gestalten, wenn auch noch der Schrifttyp exakt zutreffen soll. Eigentlich fast unmöglich.

    Nun könnte die Originalschreibmaschine noch irgendwo stehen. Vielleicht sogar in Münster? Wer benutzte ab dem 3. August 1941 eine solche Underwood-Standardschreibmaschine mit deutscher Tastatur mit Baujahr zwischen 1924 und 1928? Die dazugehörige Fabrikationsliste gibt Auskunft über die Schreibmaschinen.[86] Für die Modelle 3 bis 4 kommen zwischen Baujahr 1924 und 1928 in Betracht:

Modell Baujahr Seriennummer
No. 3-12, 3-14 and 3-16 • 12", 14" and 16" carriages an. 1924 - Apr. 1928 465000-746000
No. 3-18, 3-20 and 3-26 • 18", 20" and 26" carriages Jan. 1924 – Feb. 1928 97000-145000
No. 3-11 • 11" carriage an. 1928 - März 1928 718000-732000
No. 4 and No. 5 • all carriage sizes Jan. 1924 - März 1928 1780000-2370000
Tabelle 1: Underwood Schreibmaschinen mit Baujahr zwischen 1924-1928 

    Eine Untersuchung der Schreibmaschinenschrift sollte wenigstens der unbekannten Person, von der die Predigt mühsam abgeschrieben wurde, mehr "Gesicht" verleihen. Auch dieser Mensch brachte sich mit der Verbreitung der Euthanasie-Predigt in höchste Lebensgefahr und soll wie alle anderen ebenso eine anerkennende Ehrerweisung erfahren.

    Die letzte Ansprache von Kardinal Graf von Galen wurde film- und fototechnisch festgehalten. Wenige Tage später, am 22. März 1946, entschlief der Geistliche für immer.[87] Sein letzter öffentlicher Auftritt des Dankes wirkte, als ob ihm sehr bewusst gewesen sein musste, dass sein Leben nach seiner Euthanasie-Predigt ein unnatürliches Ende hätte nehmen können. Der Propagandaminister reagierte auf die Predigt des Bischof Graf von Galen vom 3. August 1941, dem am 14. August 1941 ein perfider Tagebucheintrag folgte. Der Bischof sei unverschämt und provozierend, stelle Behauptungen auf, als ob schwerverwundete Frontsoldaten durch das Euthanasieprogramm umgebracht würden, spricht von Dolchstoss gegen die kämpfende Front, titelt den Geistlichen als Zutreiber des Feindes, wünscht sich ein Exempel am Bischof. Der Tagebucheintrag bleibt unvollendet: «Aber ein Exempel statuieren ist wohl im Augenblick psychologisch kaum tragbar. Man muß warten, bis der Krieg zu Ende ist; dann werden wir mit diesem politisierenden katholischen Klerus aufrechnen[88], [89]

    Karsten Jaspersen, Arzt der Geistesheilkunde der Klinik Bethel, heute Bodelschwinghsche Stiftungen Bethel, und andere leisteten Widerstand gegen die Euthanasie wie beispielsweise Heinrich Herrmann,[90] oder der Landesbischof von Baden-Württemberg Theophil Wurm.[91] Wegen Bürgerempörung wurde das Euthanasieprogramm noch im August 1941 eingestellt. Die Kriegsführung sollte unter allen Umständen nicht durch Bürgertumulte in Gefahr gebracht werden, insbesondere dürfte das den Russlandfeldzug betroffen haben. Jedoch kurze Zeit später wurde die Euthanasie unauffälliger und in veränderter Form wiederaufgenommen. Die "lebensunwerten" Lebenden kamen weiter zur "Selektion" und "Endlösung".[92], [93] Der Literatur ist zu entnehmen, auf welche unvorstellbare Grausamkeit Leben beendet wurde, fettfreie und proteinfreie Nahrung, direktes Verhungern, Injektionen mit Luminal, Morphium-Skopolamin oder Luftinjektionen und Vergasung.[94] Euthanasie war vorsätzlicher Massenmord, bei der Mitgefühl, Menschlichkeit, Würdigung der Menschenrechte geleugnet wurde. Euthanasie war "Niemandsland", "Willkür", nichts konnte das tief Böse aufhalten oder gar verhindern. Erst nach etwa 60 bis 70 Millionen Toten, die der II. Weltkrieg forderte, wurde die unvorstellbare Grausamkeit vollständig für alle sichtbar und durch die alliierten Streitkräfte gewaltsam beendet. Am 7. Mai wurde die bedingungslose Kapitulation unterzeichnet, am 8. Mai war der Krieg offiziell beendet.[95] Doch das Euthanasieprogramm wurde in Lüneburg bis Ende Juni 1945 an arglosen Kindern fortgesetzt. Erst Jahrzehnte später sollten Eltern die Wahrheit über den tatsächlichen Verbleib ihrer Kinder erfahren.[96]

    Zwei gegensätzliche Gemeinsamkeiten lassen sich bei den drei Medizinern, Hans Roemer, Gottfried Ewald und Karsten Jaspersen feststellen. Alle drei standen in Kontakt mit theologisch gebildeten Mitmenschen aus ihrem familiären oder sozialen Umfeld.[97] Karsten Jaspersen und Hans Roemer waren Mitglieder der NSDAP,[98], [99] wofür sich Hans Roemer nach dem Krieg durch ein Gerichtsverfahren verantworten musste. Bezüglich eines Entnazifizierungsverfahrens wurde Hans Roemer freigesprochen,[100] dennoch wurden 15 % seiner Pension ohne erkennbare Gründe[101] einbehalten. Gottfried Ewald war förderndes Mitglied der SS[102] und ab 1937 Parteianwärter der NSDAP.[103] Eine Mitgliedschaft bei der NSDAP musst nicht zwangsläufig eine Katastrophe bedeuten. Eine Beurteilung der Mitgliedschaft sollte eine Differenzierung erfahren. Das trifft für Professor Kurt Huber[104] zu und auch für Jürgen Wittenstein.[105] Grundsätzlich sind Entscheidungen vorstellbar, die mit dem geringsten Übel getroffen wurden oder durch Zwangsmassnahmen staatlicher Stellen.

   Die Predigten von Bischof Graf von Galen gelangten auch zu Pater Adolf Eisele nach Ulm. Er pflegte Kontakt zu einer kleinen Schülergruppe, die gegen den Nationalsozialismus eingestellt war.[106] Der 17-jährige Abiturient Heinz Brenner gehörte ebenfalls dieser Gruppe an. Er vervielfältigte mit Unterstützung aus seinem sozialen Umfeld, durch die Brüder Heinrich Heidler und Fridolin Heidler und andere unbekannte Schüler, mit einem Opalographen unter anderem die bischöfliche Predigt über die Euthanasie.[107] Die Flugblätter erreichten in Ulm Friseure, Pädagogen, Juristen und stadtbekannte Leute, wie auch die Familie Scholl. Hans Scholl soll die anonym zugestellte Flugschriftpredigt über die Euthanasie gelesen haben.[108] Dies bestätigte Hans Scholl insoweit bei seiner Vernehmung am 20. Februar 1943 vor der Geheimen Staatspolizei in München, er habe davon erfahren.[109] Durch die relativierte Aussage nimmt Hans Scholl möglicherweise sein Elternhaus in Schutz. Wenige Monate später vervielfältigten Hans Scholl und sein treuer[110], [111] Freund Alexander Schmorell im Juni/Juli 1942 ihre eigenen ersten vier Flugblätter und unterzeichneten diese mit «Weisse Rose».[112] Dies geschah in einem Zeitraum von etwa 14 Tagen.[113] Dem sollten weitere Flugblätter folgen, auch ein siebtes Flugblatt von Christoph Probst, das jedoch nur als Entwurf der Nachwelt erhalten blieb und nicht mehr in Umlauf kam.[114]

    Welche Auswirkung hatte die Vorgeschichte auf Hans Scholl? Der Historiker Sönke Zankel macht dazu folgende Anmerkung: In keinem der Flugblätter des Widerstandskreises Weisse Rose liege eine Bezugnahme zu Bischof Graf von Galen und auch nicht zur Euthanasie vor,[115] auch zum Windlicht konnte keine Beziehung als Ursache festgestellt werden.[116] Aus der Vernehmungsniederschrift von Hans Scholl: «Ich habe bei irgendeiner Unterhaltung erfahren, dass die Predigten des Bischofs von Münster, Graf von Galen, vervielfältigt und verbreitet worden sind. Ich weiß heute bestimmt nicht mehr, bei welcher Gelegenheit und wann ich davon hörte. Ein Exemplar dieser Schrift ist mir aber nie zu Gesicht gekommen[117]

    Der Historiker erläutert in seinem Buch die brennende Frage, wer die Idee zur Flugblatt-Verbreitung hatte. Möglicherweise kam dies von Sophie Scholl selbst, oder in zweiter Betrachtung von ihrem Bruder Hans Scholl.[118] Aufgrund heutiger Erkenntnisse zum Widerstandskreis, dürften die Kommilitonen Hans Scholl und Alexander Schmorell ohne Wissen von Sophie Scholl mit der Flugblattproduktion gegen Ende Juni 1942 begonnen haben.[119]