2.2           Margaretha Rothe

Am Hamburger Weisse Rose Widerstand wird noch intensiv recherchiert. Die Gruppe war sehr gross. Die Bekanntesten werden hier genannt. Margaretha Rothe, Albert Suhr, Traute Lafrenz, Hans Leipelt mit Mutter Katharina Leipelt und Schwester Maria Leipelt, Marie-Luise Jahn, Heinz Kucharski, Reinhold Meyer, Karl Ludwig Schneider, Hannelore Willbrandt, Frederick Geussenhainer, Elisabeth Lange, Curt Ledin, Margarethe Mrosek… und weitere bis zu über 50 PERSONEN…[2037] Die Gruppe wird mit Flugblatt-Herstellung in Verbindung gebracht. Über Margaretha Rothe ist aus der Anklageschrift des Oberreichsanwalts des Volksgerichtshofs Berlin vom 23. Februar 1943, 9 J 283/44, I H 74/45 bekannt, die ich dankend von Gunther Staudacher erhalten habe,[2038] dass sie laut Anklageschrift einen Typenvervielfältiger zur Verbreitung von Flugblättern in Hamburg organisierte. Aus der Anklageschrift gehen die Freiheitssender hervor, die von Margaretha Rothe und Heinz Kucharski unerlaubt am Radio abgehört wurden und die Tabelle 69 wiedergibt. Der russische Ort Kuibyschew wurde in der Anklageschrift fälschlicherweise als Kuibischeff niedergeschrieben, dem heutigen Samara. Der Sender "Deutsche Revolution" konnte nicht ermittelt werden. Eventuell wurde der Sender "Europäische Revolution" oder "Deutscher Freiheitssender 29,8" gemeint. Auch Texte, die sie am Radio mitverfolgten, wurden teilweise verbreitet.[2039] "Deutscher Volkssender" aus Moskau war bis zuletzt 1945 in Betrieb gewesen, gleiches dürfte zutreffend sein für "Radio Luxemburg", "Russischer Sender Kuibyschew" war bis Februar 1943 aktiv und die BBC "Radio London" bis März 1999. "Russischer Sender Kuibyschew" hatte mit Jurij Lewitan wohl den bekanntesten Sprecher Russlands. Er soll am 9. Mai 1945 um 21:55 Uhr im Radio den Text verlesen haben: «Es spricht Moskau! Das faschistische Deutschland ist zerschlagen».[2040] Jahrzehnte später verkündet Jurij Lewitan der Welt die Nachricht über den ersten bemannten Flug ins Weltall.

Sendername / Standort

Band [m]
Frequenz [kHz]

Beginn

Ende

Deutscher Freiheitssender 29,8,[2041] Madrid zum Teil Paris

29,8/10060 KW

10./19.1.1937

3.1939

Deutscher Freiheitssender[2042]
Paris

29,8/10067 KW

40,9/7335 KW

9.1939
15.9.1939

9.10.1939

5./6.1940

Deutscher Volkssender[2043]
Moskau

48, 47, 40, 39, 32, 27, 25, 19, 18

10.9.1941

15.5.1945

Radio Strasburg[2044]

349,2/859,11 MW

11.1930

6.1940

Radio Luxemburg[2045]

1293/232 LW

23.9.1944

11.11.1945

Radio London BBC[2046]

212 Sender

27.9.1938

3.1999[2047]

Freier Deutschlandsender[2048]
Paris

35, 40, 42, 58, 60, 75, 76, 29,8

9.1939

5./6.1940

Deutsche Revolution

-

unbekannt

unbekannt

Europäische Revolution[2049]
London
Fortsetzung Arbeitersender
[2050]

30,1/9959 KW
31,4/9547 KW

7.10.1940
16.6.1942

22.6.1942
23. 3.1943

Russischer Sender
Kuibyschew
[2051]

31/9959 KW
48/6245 KW

1.1933
9.1941
? Pause 4.1942

3.1933
1945
? 10-1942

Tabelle 69: Freiheitssender aus der Anklageschrift, siehe linke Spalte

    Die Anklageschrift[2052] vom 23. Februar 1945 enthält den Vorwurf, Margaretha Rothe und Heinz Kucharski versahen zur Verbreitung ihrer kleinen Handzettel diese mit dem Hinweis "gegen Hitler und Krieg", dem "Deutschen Freiheitssender" unter Angabe der Sendezeit und Wellenlänge.[2053] Zuvor bestätigte Heinz Kucharski über einen Umweg dem Sender in Paris, dass er ihn ausgezeichnet empfange und den Inhalten des Senders zustimme.[2054], [2055]

    Heinz Kucharski setzt sein Studium ab März 1940 in Hamburg fort.[2056] Margaretha Rothe und Heinz Kucharski treffen sich mit Gleichgesinnten im März 1940, um unerlaubt am Radio Pressemeldungen mitzuhören.[2057] Sie kommen sich im Sommer 1942 näher, daraus entwickelt sich eine Beziehung.[2058] Margaretha Rothe und Heinz Kucharski wurden am 9. November 1943 laut Anklageschrift festgenommen.[2059] "Deutscher Freiheitssender 29,8" stellte seine Aktivität bereits im Juni 1940 ein. Die Flugblatt-Verbreitung müsste demnach zwischen März 1940 und Juni 1940 stattgefunden haben, vermutlich tendenziell weit später als März 1940. In der Zwischenzeit musste "Deutscher Freiheitssender 29,8" seinen Standort von Madrid nach Paris wechseln. Als Wellenlänge kommt auf Kurzwelle (KW) in Betracht Band 29,8, das der Frequenz 10,067 MHz entspricht. Eine weitere Sendefrequenz bot sich meist gleichzeitig auf 7,335 MHz an. Die Umrechnung λ=cf mit C= 299792458 m/s ergibt eine Wellenlänge von 299792458 7335000 = 40,9 m. Wird das Radio auf die angegebene Wellenlänge eingestellt, kann bei guten Empfangsbedingungen der Sender gehört werden. "Deutscher Freiheitssender 29,8" sendete ab etwa Januar 1940 durchschnittlich etwa 30 Minuten. Hauptsendezeit lag bei 21:00 und 22:30 Uhr und wechselte zeitweise auf 21:30 und 22:00 Uhr. Die Ansage zu Sendebeginn lautete: «Hier ist der Deutsche Freiheitssender auf 29,8 Meter und 40,9 Meter!»[2060] Gesendet wurden französische Nachrichten in deutscher Sprache, Kommentare, Berichte aus dem Widerstand, Veröffentlichungen von Verlautbarungen der "Sozialistischen Freiheitspartei" und anderen Gruppen, Verlesungen von angeblichen Hörerbriefen, vor allem und immer wieder Aufrufe und Anweisungen zum Widerstand gegen das NAZI-Regime.[2061] Die Senderart war typischerweise Amplituden Modulation (AM). Die eingesetzte Sendeleistung ist nicht bekannt, dürfte bei etwa 100 Kilowatt liegen, vielleicht sogar noch etwas mehr. In den Abendstunden konnte "Deutscher Freiheitssender 29,8" auf dem 40 Meterband in ganz Europa und bei guten atmosphärischen Bedingungen auch weiter entfernt gehört werden. Oft gestaltete sich der Empfang von Freiheitssendern schwierig, weil regelmässig deutsche Störsender auf der gleichen Sende- Empfangsfrequenz massiv angriffen. War das Störsignal stärker als der empfangene Freiheitssender, konnte die Sendung inhaltlich kaum mitverfolgt werden. Aus diesem Grund wechselten die Freiheitssender geringfügig die Wellenlänge um wenige Schritte nach rechts oder links von ihrer eigentlichen Sendefrequenz. Wer sich eine Richtantenne baute, konnte die Feldstärke des Störsenders merklich für einen besseren Empfang reduzieren. Auch eine einfache Dipol-Antenne war hier schon nützlich, auch wenn diese nur aus einem, angepasst auf die Wellenlänge, sehr langen Draht bestand, der unter dem Dach ausgerichtet wurde.

    Laut Anklageschrift haben Margaretha Rothe und Heinz Kucharski ihre Vorwürfe eingestanden. Genaueres wird noch untersucht. Möglicherweise existiert heute noch ein Dokument der Geheimen Staatspolizei über den Typenvervielfältiger. Das wird seit langer Zeit gesucht. So bekommt die Öffentlichkeit eine Vorstellung von dem, was sich damals in Hamburg ereignete.[2062] Vielleicht könnten auch eines Tages ihre Flugschriften originalgetreu vervielfältigt werden. Leider blieb die bisherige Suche nach weiteren Dokumenten beim Institut für Zeitgeschichte in München erfolglos. Vielleicht wurden die gesuchten Dokumente verlegt oder sind bedauerlicherweise auch nicht mehr existent. Eine technische Rekonstruktion soll ihr Widerstandssinnen bzw. ihre lebensgefährliche Flugblattstreuung bestmöglich würdigen. Der Flugblatttext ist insoweit bekannt. Als Typenvervielfältiger wird wegen der hohen Anschaffungskosten eine Edelversion aus Messingtypen und auch die bekannten Bleitypen ausgeschlossen. Preiswerte Typenvervielfältiger boten die unterschiedlichsten Hersteller weltweit an. Zum annehmbaren Preis wäre ein Typenvervielfältiger vorstellbar, dessen Typen aus einem gummiartigen Weichmaterial bestehen wie beispielsweise aus Kautschuk. Der bekannte Druckpressen-Hersteller JOHNE-WERK A.-G. aus Bautzen konstruierte nicht nur feinmechanische Präzisionswerke, sondern auch sehr edle von Hand bedienbare Typenvervielfältiger mit dem Markennamen "Monopol". Im Gegensatz zu einem handelsüblichen Stempel lassen sich die alphanumerischen Zeichen beim Typenvervielfältiger in beliebiger Reihenfolge variabel durch Umstecken austauschen und sind durch diese Möglichkeit sehr flexibel zum Bedrucken unterschiedlicher glatter Oberflächen einsetzbar. Typenvervielfältiger eignen sich ideal für kurze Hinweise oder Mitteilungen.

    Margaretha Rothe und Heinz Kucharski lasen mit Begeisterung das von Marie-Luise Jahn und Hans Leipelt bei einem Besuch in Hamburg mitgebrachte VI. Flugblatt. Die beiden «erklärten sich sofort bereit, es ebenfalls abzuschreiben und in ihrem Freundeskreis zu verteilen[2063] Bei ihrem Besuch in Hamburg lernten sie über Heinz Kucharski seinen Freund Karl Ludwig Schneider kennen. «Auch er las mit Begeisterung das letzte Flugblatt der Weiße Rose. Er schrieb es ab, und so gelangte der Text von Professor Huber auch zu den Studenten der Hamburger Universität[2064] Bei diesem Treffen wurde so mancher Sabotagegedanke in der Art assoziiert, wie das von Partisanen bekannt ist, jedoch wegen erheblicher Risiken nicht in die Tat umgesetzt. Marie-Luise Jahn und Hans Leipelt hatten bei ihrer Reise nach Hamburg einige Abschriften des VI. Flugblatt in ihrem Gepäck bei sich, darunter auch die Rede des Gauleiters, die in München am 13. Januar 1943[2065] für Aufsehen unter der Studentenschaft sorgte und einen Text "Frieden" von Lion Feuchtwanger.[2066] Angeblich existierten in Hamburg drei verschiedene Buchhandlungen, in denen geheime Treffen stattfanden. Mehrere Gruppierungen sollen miteinander in Verbindung gestanden haben, die sich jedoch untereinander nicht alle gekannt haben sollen. Mit Schreibmaschine und möglicherweise auch mittels Vervielfältigungsapparat sollen Flugblätter verbreitet worden sein, jedoch nicht mit einer so hohen Auflage wie in München. Gesichert gilt, 9[2067] Menschen aus dem Widerstand kamen durch Hinrichtung, Haftbedingung, Vernehmungssituation und durch vermuteten Suizid in Hamburg ums Leben. Margaretha Rothe beteiligte sich an der Sammelaktion für die Witwe von Professor Kurt Huber mit 20 RM. Das Geld übergab sie Hans Leipelt.[2068] Für eine Studentin war das damals viel Geld. Auch Heinz Kucharski beteiligte sich mit einem Beitrag und kündigte an, wenn möglich, einen weiteren Geldbetrag zu übersenden.[2069] Zwei sympathisierten nicht und verweigerten ihre Unterstützung.[2070] Andere zeigten sich erkenntlich und sollen im Besonderen erwähnt werden. Mitinitiator der Sammelaktion war Franz Treppesch, Wolfgang Erlenbach gab 28 RM, Hans Leipelt 52 RM und ganz bestimmt weitere Personen, die heute leider nicht mehr bekannt sind. Auch ihnen und den Spenderinnen und Spendern gilt eine würdige Anerkennung für ihr Mitgefühl, für ihre Menschlichkeit und nicht zuletzt für ihr entschiedenes Aufbegehren und daraus resultierende Handlung.[2071]

Typenvervielfältiger Monopol

Abbildung 254: Typenvervielfältiger Monopol, JOHNE-WERK A.-G., Bautzen, Privatbesitz

Monopol-Typenvervielfältiger, Privatbesitz

Abbildung 255: Monopol-Typenvervielfältiger, Privatbesitz

Monopol-Typenvervielfältiger, Privatbesitz

Abbildung 255: Monopol-Typenvervielfältiger, Privatbesitz

Vorder- und Rückseite Flugblatt-Rekonstruktion auf Basis der Anklageschrift, zu Ehren von Margaretha Rothe mittels Typenvervielfältiger Monopol nachgestellt, Privatbesitz

Vorder- und Rückseite Flugblatt-Rekonstruktion auf Basis der Anklageschrift, zu Ehren von Margaretha Rothe mittels Typenvervielfältiger Monopol nachgestellt, Privatbesitz

Abbildung 256: Vorder- und Rückseite Flugblatt-Rekonstruktion auf Basis der Anklageschrift, zu Ehren von Margaretha Rothe mittels Typenvervielfältiger Monopol nachgestellt, Privatbesitz

   Heinz Kucharski wurde, durch seine Offenheit gegenüber der Geheimen Staatspolizei, für einige aus dem Widerstandsumfeld zur grossen Gefahr. Vielfach berichtete Heinz Kucharski über sein Umfeld sehr detailliert und begründete dies, er wolle die Geheime Staatspolizei durch Hinhalten bis zum Kriegsende beschäftigen, so könnten alle Betroffenen überleben. Katrin Seybold gibt am 13. September 2009 anlässlich der Albert-Weichmann-Medaille-Verleihung an Traute Lafrenz-Page tiefe Einblicke. Hier nur eine verkürzte Darstellung zum Sachverhalt: «Ein Klassenkamerad, Heinz Kucharski, war für alle zum Verhängnis geworden. Er lieferte der Gestapo um die 30 Menschen aus, darunterauch die eigene Mutter. Traute Lafrenz wurde verhaftet, kam nach Fuhlsbüttel und war elend langen Verhören und Misshandlungen des SS-Mannes Reinhard ausgesetzt. Kucharski hatte der Gestapo 60 Seiten über sie diktiert. Jetzt droht ihr die Todesstrafe. Sie meint, Kucharski habe seinen Kopf dadurch zu retten versucht, daß er der Gestapo über seine Freunde und Bekannten Aussagen und Charakteristiken lieferte, wie diese sie wünschte. Den auffälligsten Verrat übte er der gemeinsamen Lehrerin Erna Stahl gegenüber, er gab an, sie habe ihn bewusst antinationalsozialistisch erzogen und darum sei sein Leben in diese Bahn gekommen, heute bekenne er sich zur nationalsozialistischen Weltanschauung, eine Wendung, die er der Gestapo verdanke. Seine Selbstrechtfertigung war, daß durch die Nennung von immer mehr Personen es vor Kriegsende nicht mehr für alle zu einem Prozess käme. Es war ein raffinierter, ein amoralischer Plan, der andere gefährdete, sie ins KZ und in den Tod brachte wie Reinhold Meyer.»[2072] Ein ausführlicher Bericht von Traute Lafrenz-Page findet sich im Buch "Es lebe die Freiheit!".[2073]

    Heinz Kucharski soll nach dem II. Weltkrieg den Verrat an unschuldigen Bürgern für die Staatssicherheit der Deutschen Demokratischen Republik fortgesetzt haben.[2074], [2075] Nach meinem Kenntnisstand soll umfangreiches Aktenmaterial aus der damaligen DDR zum Vorgang Heinz Kucharski vorliegen. In absehbarer Zeit wird ein Autor, der das besagte Aktenmaterial sichtete, ausführlich darüber berichten.

    Heinz Kucharski wurde trotz Zusammenarbeit mit der Geheimen Staatspolizei dennoch in einem Prozess am 17. April 1945 zum Tode verurteilt, konnte jedoch auf dem Weg zur Hinrichtungsstätte während eines Fliegerangriffs entkommen und flüchtete zur sowjetischen Armee.[2076]

    Margaretha Rothe erkrankte infolge ihrer vorausgegangenen Haftbedingung und erlag ihrem schweren Leiden kurz vor Kriegsende, am 15. April 1945.[2077]