3          Wer seine Gedanken vervielfältigt...

Wer seine Gedanken gegen Hitler und die Nationalsozialisten auf Flugblättern verbreitete, brachte sich in höchste Lebensgefahr. Unter den Nationalsozialisten galt, wer nicht für uns ist, der ist gegen uns und wer gegen uns ist, wird vernichtet.[34], [35] Das hat sich bei den Gerichtsverhandlungen vor dem Volksgerichtshof tausendfach und bitter bewahrheitet. Hans Hirzel berichtet in der Dokumentation von Katrin Seybold über seine Gerichtsverhandlung. Der Vorsitzende des Volksgerichtshof Roland Freisler habe sich zu Beginn des Prozesses an die Beschuldigten mit den Worten gewandt, vor dem Volksgerichtshof würden im Vergleich zu üblichen Gerichten, abweichend keine besonderen Regeln, keine Prozessordnung und kein Strafgesetz gelten: «[S]ehen sie, wir haben noch nicht einmal ein Strafgesetzbuch bei uns… wir brauchen kein Recht», dann soll sich Roland Freisler verbessert haben: «[W]ir brauchen kein Gesetz, wer gegen uns ist wird vernichtet[35]

   Der Arzt Jürgen Wittenstein schilderte in einem Interview die damalige Situation: «Jedes Abweichen der üblichen täglichen Linie machte einen verdächtig[36] Der Einkauf grösserer Mengen an Papier und Briefmarken konnte sich gegenüber der Reichspolizei zum Eklat entwickeln. Die ersten Flugblätter seien mit 7-fachem Durchschlagpapier auf Schreibmaschine geschrieben und an Universitäten gebracht oder per Post zugesendet worden, denn Autos waren beschlagnahmt. Nur Bedienstete des nationalsozialistischen Apparates besassen ein Auto oder Parteifunktionäre und Ärzte. Militärbedienstete wurden verstärkt durch die Militärpolizei kontrolliert. Frauen hingegen konnten freier reisen und deshalb wurden Flugschriften oft von Studentinnen überbracht. Allerdings mussten auch sie mit Gepäckkontrollen rechnen. Jürgen Wittenstein weiter zum Widerstandskreis in München: «Es gab drei Kreise. Ein innerer Kreis, der an der Verfassung der Flugblätter eng beteiligt war, ein weiterer Kreis, der mit der Verbreitung zu tun hatte oder die wussten, was der Widerstandskreis tat, aber nicht mitmachten und an der Peripherie Freunde und Bekannte, Menschen die Hilfeleistungen, wie Adressen, gaben[37]

    Die Apparaturen des Widerstandskreises Weisse Rose schreiben nicht die Geschichte, doch ohne die eingesetzte Technik wären keine Flugblätter unter die Bürgerinnen und Bürger gelangt. Solange sie ihre Gedanken für sich oder unter Gleichgesinnten behielten, waren sie sicher. Wegen unerlaubtem Besitz von Maschinen zur Flugblatt-Herstellung konnte während der nationalsozialistischen Zeit vor einem Sondergericht die Todesstrafe verhängt werden.[38] Mit der Vervielfältigung ihrer Gedanken auf Flugblättern erhöhte sich das Lebensrisiko extrem. Der geistige Anteil ist vom materiellen Teil des Widerstandes kaum trennbar. Das eine konnte ohne das andere nicht möglich werden. Das eine waren ihre Beweggründe, Widerstand zu leisten, das andere waren die Mittel für die Ausführung ihres Widerstandes. Seelenleben ist ohne einen Körper auch nicht möglich und was macht ein Körper ohne Seele? Für ihren Widerstand brauchten sie Hilfsmittel zur Umsetzung. Denn ihre Gedanken, die gegen den Unrechtsstaat gerichtet waren, konnten sie nicht frei äussern. Meinungsfreiheit war unter dem nationalsozialistischen Unrechtsstaat nicht vorgesehen. Wer den Mund aufmachte und beispielsweise im Frust den "Führer" eine Gottesgeisel nannte, kam vor Gericht.[39] Wurde vor dem Sondergericht verhandelt, konnte der Urteilsspruch tödlich enden. Für die Umsetzung ihres zunächst geistigen und innerseelischen Widerstands brauchte der Widerstandskreis entsprechende Technik und Kenntnisse für ihre Anwendung. Durch die Aufarbeitung wird an verschiedenen Stellen der Flugblattproduktion deutlich, wie sich der Widerstandskreis in verschiedenen Situationen technischer Art zu helfen wusste. Im Nachhinein betrachtet erstaunlich, wie der Widerstandskreis in München und das Umfeld den Umgang mit den technischen Apparaturen bewältigte. Aus heutiger Sicht wirkt die damalig eingesetzte Technik einfach, sie hatte jedoch wie heute ihre Anforderung zur Bedienung und die des Verstehens im Problemfall.