IX. Ereignisse um die Weisse Rose München

1           Heinz Brenner, Heinrich Heidler, Fridolin Heidler

Ab Seite 25 "Vorgeschichte – Weisse Rose" geht zum Widerstandskreis hervor, dass der Arzt Karsten Jaspersen den Bischof Graf von Galen im Juli/August 1940 über das Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten an neurologisch psychiatrischen Kliniken unterrichtete und sich der Bischof ein Jahr später an die Öffentlichkeit wendete. Verschiedene Predigten von Bischof Graf von Galen gelangten auch zu Pater Adolf Eisele nach Ulm. Der Pater pflegte Kontakte zu einer kleinen Schülergruppe, die allesamt gegen den Nationalsozialismus eingestellt waren.[1987] Der 17-jährige Abiturient Heinz Brenner gehörte ebenfalls der Gruppe an. Er vervielfältigte mit Unterstützung aus seinem sozialen Umfeld durch die Brüder Heinrich Heidler und Fridolin Heidler und andere unbekannte Schüler mit einem Opalographen der Firma Hermann Hurwitz & Co Berlin unter anderem die bischöfliche Predigt über die Euthanasie.[1988]

    Die Flugblätter wurden in Stuttgart auf verschiedene Briefkästen als Drucksache verteilt,[1989] und erreichten in Ulm Friseure, Pädagogen, Juristen und stadtbekannte Leute, wie auch die Familie Scholl. Hans Scholl soll die anonym zugestellte Flugschriftpredigt über die Euthanasie gelesen haben.[1990] Hans Scholl gegenüber der Geheimen Staatspolizei München: «Ich habe bei irgendeiner Unterhaltung erfahren, dass die Predigten des Bischofs von Münster, Graf von Galen, vervielfältigt und verbreitet worden sind. Ich weiß heute bestimmt nicht mehr, bei welcher Gelegenheit und wann ich davon hörte. Ein Exemplar dieser Schrift ist mir aber nie zu Gesicht gekommen[1991] Wenige Monate später vervielfältigten Hans Scholl und Alexander Schmorell im Juni/Juli 1942 ihre ersten vier Flugblätter.

    Heinz Brenner schrieb die Briefe mit Schreibmaschine auf Schablonen.[1992] Anschliessend wurden die Briefe des Bischofs vervielfältigt. Der Vervielfältigungsapparat stammte aus dem Büro seines Vaters.[1993] Der Originalapparat wird heute in der KZ-Gedenkstätte Oberer Kuhberg in Ulm verwahrt, ebenso einen Teil seines Nachlasses.

Opalograph

Abbildung 239: Opalograph, Hermann Hurwitz & Co Berlin, Privatbesitz

Der Initiator Heinz Brenner bekam von Pater Adolf Eisele zwei Predigten, zwei Briefe und ein weiteres Dokument,[1994] das nach dem Krieg verloren ging. Alle Flugschriften enthielten Predigten von Bischof Graf von Galen.[1995] In der Literatur werden gelegentlich irrtümlich Mitwirkende genannt, die jedoch bei den Flugblatt-Vervielfältigungen nicht anwesend waren. Sein bester Freund Hans Hirzel, Franz-Josef Müller, Heiner Guter und Walter Hetzel waren lediglich Mitschüler von Heinz Brenner.[1996] Sie unterhielten sich über kritische Themen beispielsweise auch über die Nationalsozialisten, Politik, Religion, Vorfälle an der Front, menschenverachtende Vorgänge usw., oft auch bei Pater Adolf Eisele. Wegen eines Vorfalls durch Hans Hirzel ausgelöst, war Heinz Brenner bei seiner Flugblattaktivität vorsichtig geworden. Hans Hirzel soll Tagebucheinträge über antinationalsozialistische Gespräche niedergeschrieben haben, die sich offenbar zum Problem entwickelten, weil Sie angeblich von seinen Eltern gelesen wurden.[1997] Heinz Brenner war laut eigener Aussage darauf bedacht, dass möglichst wenige Mitwisser von den Flugblatt-Vervielfältigungen wussten. Er betraute verschiedene Jugendliche mit unterschiedlichen Aufgaben. Er involvierte nie die gleichen Jugendlichen, keiner wusste genaues. Heinz Brenner meinte, das sei ein wesentlicher Unterschied zum Widerstandskreis Weisse Rose gewesen.

    In den Vernehmungen konnten die namentlich genannten Klassenkameraden 1943 kaum etwas über seine Flugblattaktivitäten aussagen. Sie seien nicht in Details eingeweiht gewesen, so Heinz Brenner.[1998] Heinz Brenner versendete dann doch an Hans Hirzel eine vervielfältigte Predigt. Bei den Vernehmungen durch die Geheime Staatspolizei von Hans Hirzel und Franz-Josef Müller wird deutlich, dass sie mehr gewusst haben dürften.[1999] Laut Vernehmungsniederschrift der Geheimen Staatspolizei soll Franz-Josef Müller seinen Freund Hans Hirzel in eine lebensgefährliche Lage gebracht haben, die auch alleine betrachtet tödlich für Hans Hirzel hätte ausgehen können, wenn sie zutreffen sollte: «In seiner Klasse sei seine Einstellung gegen den Staat bekannt gewesen und verschiedene Maßnahmen des Staates habe er kritisiert, so z. B. die Behandlung der polnischen Juden und die allgemeine Tendenz der deutschen Propaganda.»[2000]

    Heinz Brenner berichtete über die damalige Situation: «Die Flugblätter wiesen viele technische Mängel auf; einerseits wegen unserer Unerfahrenheit, andererseits aber auch, weil wir wegen der Fingerabdrücke die einzelnen Blätter mit Wollhandschuhen aus dem Apparat nehmen mussten, was jedoch jedesmal einen schwarzen Fleck hinterließ.»[2001] Laut Heinz Brenner wurden insgesamt mehrere hundert Flugblätter vervielfältigt. Er konnte nicht Schreibmaschine schreiben und hatte deshalb Probleme bei der fehlerfreien Bearbeitung der Schablonen mit einem Finger. Heinz Brenner berichtete nach dem Krieg, er habe Matrizen zur Bearbeitung der Vervielfältigungsvorlagen beschafft. Mit Matrize ist eine Schablonenvorlage für die Übertragung des Flugblatttextes auf die Opalplatte des Opalographen gemeint. Er organisierte mit Hilfe der Bedienungsanleitung die Materialien Saugpostpapier, Schablonen und Druckerschwärze. Ebenfalls kamen Briefumschläge und Briefmarken hinzu. Detaillierte Berechnungen zur Produktion sind mangels bekannter Zahlenangaben nur bedingt möglich. Allerdings bleibt offen, wie Heinz Brenner seine Produktion mit mehreren hundert Flugblättern für den Postversand finanzierte.[2002] Heinz Brenner bestätigt, dass ihm zur Finanzierung der Flugblatt-Verbreitung als Schüler nur sein Taschengeld zur Verfügung stand. Die Euthanasie-Predigt bestand aus 7 Seiten. Diese können auf vier Blättern vervielfältigt werden. Hätte Heinz Brenner insgesamt 100 Briefsendungen als Drucksache verschickt, würden Kosten von ca. 17,35 RM auf ihn zukommen, siehe Tabelle 68. Auf welche Weise er den Betrag finanziert bekommen hätte, bleibt offen. Die Preise für die Einkäufe wurden der Tabelle 15 von Seite 304 entnommen. Insgesamt wären

7 Seiten x 100 Briefe = 700 Flugblattseiten,

das 400 Blätter entspricht, für die Vervielfältigung zusammengekommen.

Produkt Stück Einzelpreis Pf. Ausgaben RM
Briefmarken Drucksache 100 4 -4,00
Briefumschläge EK=0,29, EK+20% 100 0,35 -0,35
Schablonen 20 50 -10,00
Saugpostpapier 500 Blatt 1 300 -3,00
-17,35

Tabelle 68: Kosten für 100 Briefsendungen

Vergleichs-Rechnung OPALOGRAPH COMPAGNIE vom 24.11.1914 über einen Kauf von fetthaltiger Vervielfältigungsfarbe und Spezialtinte für die Vervielfältigungsvorlage, Privatbesitz

Abbildung 240: Vergleichs-Rechnung OPALOGRAPH COMPAGNIE vom 24.11.1914 über einen Kauf von fetthaltiger Vervielfältigungsfarbe und Spezialtinte für die Vervielfältigungsvorlage, Privatbesitz

Kundenreklamation gerichtet an OPALOGRAPH COMPAGNIE vom 6.2.1913, gelie-ferter Chemikalien zur Vervielfältigung, Privatbesitz

Abbildung 241: Kundenreklamation gerichtet an OPALOGRAPH COMPAGNIE vom 6.2.1913, gelieferter Chemikalien zur Vervielfältigung, Privatbesitz

Bei einem Schreibmaschinenanschlag von etwa 40 Zeichen pro Minute und 6 Schablonen mit durchschnittlich 4500 Zeichen pro Flugblattseite und einmal 2250 Zeichen für eine halbe Seite und einen Vervielfältigungszyklus von etwa 15 Sekunden mit Farbauftrag alle 3 Flugblattseiten, ergibt eine Gesamtarbeitszeit von ungefähr:

Zeit Schablonen = ( 6 * 4500 ) + ( 1 * 2250 ) 40 * 60 = 12,19 Stunden

Zeit Vervielfältigung = 7 * 100 * 15 3600 = 2,92 Stunden

Zeit Farbauftrag = 7 * 100 * 20 3 * 3600 = 1,30 Stunden

Zeit Adessieren = ( 61 s * 61 40 ) * 100 3600 = 2,82 Stunden

Zeit Kuvertieren = 100 * 19 3600 = 0,53 Stunden

Zeit Frankieren = 100 * 4 3600 = 0,11 Stunden

Opalograph-Vignette, Hermann Hurwitz & CO. Berlin, Privat-besitz

Abbildung 242: Opalograph-Vignette, Hermann Hurwitz & CO. Berlin, Privat-besitz

19,87 Arbeitsstunden. Das Ergebnis erscheint realistisch. Auch hier wurden keine Pausen eingerechnet. Wenn eine Person die Vervielfältigung übernimmt und zwei Personen die Bearbeitung von Schablonen und den Postversand, reduziert sich die Bearbeitungszeit im Mehrpersonenbetrieb auf 12,19 + 1,30 + 2,82 = 16,31 Arbeitsstunden. Aufgrund von Unerfahrenheit zur Technik musste die Gruppe sich erst einmal gründlich in die Gebrauchsanleitung einlesen und sich zunächst mit einem Probelauf begnügen, um dann ans Werk zu gehen.

    Den Vervielfältigungsapparat bezeichnete Heinz Brenner als altertümlich.[2003] Immerhin konnte der Vervielfältigungsapparat 1941 schon 10 bis 20 Jahre alt gewesen sein.[2004] Weil Opalographen keine Seriennummern haben, kann keine exakte Angabe zum Baujahr gemacht werden. Die ersten Patentschriften, die zum Opalographen gefunden wurden, stammten von 1910.[2005] Abbildung 243 und Abbildung 244 bestätigen das frühe Geschäftsgebaren der Opalograph Compagnie Berlin. Im Vergleich mit anderen Opalographen hatte der Apparat von Heinz Brenner bereits im Holzgehäuse ein bodenseitiges Fach für ein Holzbrett, das zum Einwalzen der Vervielfältigungsfarbe diente. Auf diesem Holzbrett wurde etwas Farbe aufgetragen und mit dem dazugehörigen Farbhandroller mit der Farbe eingewalzt. Anschliessend konnte die Farbe auf die Opalplatte übertragen werden. Wie bereits erläutert, wurde die Vervielfältigungsfarbe in Abhängigkeit von chemischer Reaktionen entweder aufgenommen oder abgestossen.[2006] Frühere Modelle um 1910 hatten die Ausstattungsvariante mit Bodenfach noch nicht. Wurden die fertigen Flugschriften sofort gebraucht, mussten diese laut Gebrauchsanweisung mehrere Stunden in eine Trockenmappe zur Trocknung gelegt und mit einem Trockenwischer bearbeitet oder bepudert werden.[2007] Die Trockenzeit ist von den Umgebungsbedingungen wie Temperatur, Luftfeuchtigkeit und dem verwendeten Papier abhängig. Die Vervielfältigung der Flugblatt-Rückseite konnte erst nach der Trockenphase erfolgen.

    Die Ulmer Schülergruppe um Heinz Brenner brachte sich mit ihrem entschiedenen Handeln in höchste Lebensgefahr. Sie hatten für die Vervielfältigung der Graf von Galen Briefe 1941 verschiedene Möglichkeiten.[2008], [2009] Heinz Brenner entschied sich für die Wachsschablonen-Variante, die in den Grundlagen bereits beschrieben wurde, siehe:

Seite 100 "(2b) Maschinenschreiben mit Wachsblatt"

Seite 101 "Details speziell zu (2b)"

Seite 101 "Details für Variante (1) und (2)"

Seite 101 "Entwicklung der Schrift für (1) und (2)"

    Ihr Flugblatt, das Heinz Brenner, Fridolin Heidler, Heinrich Heidler und unbekannte Schüler vervielfältigten, sollte ursprünglich zu Ehren für ihren Widerstand im Gedenkbuch gezeigt werden. Rechtliche Gründe machten dies unmöglich.[2010] Inhaltlich entspricht der Text exakt der bereits gezeigten siebenseitigen Euthanasie-Flugschrift von

Opalograph Werbeangebot, Postkarte gelaufen 21.1.1913 Privatbesitz

Opalograph Werbeangebot, Postkarte gelaufen 21.1.1913 Privatbesitz

Abbildung 243: Opalograph Werbeangebot, Postkarte gelaufen 21.1.1913 Privatbesitz

Opalograph Werbeangebot, Postkarte gelaufen 16.4.1921 Privatbesitz

Opalograph Werbeangebot, Postkarte gelaufen 16.4.1921 Privatbesitz

Abbildung 244: Opalograph Werbeangebot, Postkarte gelaufen 16.4.1921 Privatbesitz

Opalograph-Opalplatte, die einen spiegelverkehrten Text enthält, entweder durch Schablone oder Farbblatt bzw. Farbband übertragen, Privatbesitz

Abbildung 245: Opalograph-Opalplatte, die einen spiegelverkehrten Text enthält, entweder durch Schablone oder Farbblatt bzw. Farbband übertragen, Privatbesitz

Bischof Graf von Galen, die auf Seite 32-38 durch Abbildung 1 bis Abbildung 7 dargestellt wurde. Auf der ersten Flugblattseite wurde einmal eine Zeile übersprungen und an einer anderen Stelle wurde eine Wortunterstreichung übernommen. Ansonsten besteht zwischen den ersten beiden Flugblattseiten inhaltlich kein Unterschied. Das dürfte bedeuten, Pater Adolf Eisele muss exakt die hier gezeigte Euthanasie-Predigt, die er dann Heinz Brenner übergab, zugesendet bekommen haben.