2           Die Märtyrer-Frage

Immer mal wieder fällt die Märtyrer-Frage. Zum Begriff Märtyrer steht im Brockhaus: "Jemand der wegen seines Glaubens oder seiner Überzeugung, Verfolgungen, körperliche Leiden, den Tod auf sich nimmt". Etwas anders formuliert, ein Mensch stirbt lieber, als dass er gegen sein Gewissen, seine Meinung, Überzeugung, Einstellung, Glauben, ethische Anschauung, Gelübde, Versprechen, Schweigepflicht handelt. Und, ein Märtyrer fällt nicht im Kampf. Märtyrer vertreten eine demokratische Wertegemeinschaft und wahren die Menschenrechte.

    Völlig wertfrei reflektiert, die Russisch-Orthodoxe Kirche lebt ein etwas anderes Verständnis was "Verehrung der Heiligen" und "Märtyrer" betrifft und unterscheidet sich von dem, was wir in unserer Region vorfinden. Sie ist weder schlechter noch besser, sie ist nur anders. Die Russisch-Orthodoxe Kirche zur Verehrung der Heiligen: «Die Verehrung der Heiligen spielt im Orthodoxen Glauben, in der Orthodoxen Kirche, eine sehr große Rolle. Die Anzahl der Heiligen innerhalb der Orthodoxen Kirche ist recht hoch. Wunder muss der Heilige zu Lebzeiten nicht unbedingt bewirkt haben. Heiliger der Orthodoxen Kirche kann werden, wer sein Leben voll und ganz in den Dienst der Kirche gestellt hat und dies durch Worte, Werke und Opferbereitschaft in herausragender Form gezeigt hat.»… «Schon zu frühchristlichen Zeiten wurden Heilige verehrt. Dies waren zunächst Märtyrer, die für ihren Glauben zu Tode kamen; auch die Apostel Christi wurden als Heilige bezeichnet. Bis ins späte Mittelalter hatte in den katholischen Kirchen der Grabes- und Reliquienkult um geheiligte Personen einen hohen Stellenwert. In jedem Altar eine katholische Kirche befindet sich eine eingemauerte Heiligenreliquie. Heilige ersetzten im frühen Christentum auch zuvor verehrte heidnische Gottheiten.»[1903] Die Ludwig-Maximilians-Universität Ausbildungseinrichtung Orthodoxe Theologie zum Märtyrer: «Das Wort Gottes lehrt, daß die Hingabe des irdischen Lebens um Christi und des Evangeliums willen (Mk 8,35) sowie für andere Menschen der Erlösung des Menschen nicht schadet, sondern ihn im Gegenteil in das Himmelreich führt (Joh 15,13). Die Kirche ehrt die Großtat der Märtyrer, die dem Herrn bis in den Tod dienten, und der Bekenner, die sich angesichts von Verfolgungen und Drohungen nicht von Ihm losgesagt haben. Orthodoxe Christen ehren auch den Heldenmut derer, die ihr Leben für das Vaterland und ihre Nächsten auf dem Schlachtfeld gelassen haben.»[1904]

    Oft wird darüber berichtet, die Geschwister Scholl hätten sich mit der lebensgefährlichen Flugblatt-Verteilung in ihrer Universität als Märtyrer geopfert. Nach der Beschreibung des Brockhaus ist eine Märtyrer-Opferung, was die Aktion in der Universität anbelangt, nicht erkennbar. Beide wurden verhaftet, die Geschwister Scholl leugnen zunächst sehr erfolgreich. Um die nachfolgenden Ausführungen besser einschätzen zu können, muss der Inhalt von Kapitel "Donnerstag, 18. Februar 1943" ab Seite 498 vertraut sein. Am Ende dieses Kapitels wird gezeigt, dass der Begriff Märtyrer auf verschiedene Weisen verstanden werden kann. Zunächst wird die Märtyrerfrage mit dem Weltbild unserer Region dargestellt.

    Laut Hans Scholl sollte Sophie Scholl ursprünglich in der Universität zur Flugblattstreuung nicht beteiligt sein. Am 18. Februar 1943 misslang laut Eugen Grimminger die Übergabe eines Vervielfältigungsapparates[1905] und nachmittags war in Absprache mit Hans Scholl geplant, dass Sophie Scholl und Otto Aicher gemeinsam nach Ulm fahren.[1906] Hans Scholl teilte am 15. Februar 1943 in einem Brief an die Eltern mit, dass er, wenn die Wehrmacht dies zuliesse, am Wochenende heimkomme. Das wäre der Samstag, der 20. oder der Sonntag der 21. Februar 1943.[1907] Hans Scholl würde zwei oder drei Tage später als Sophie Scholl und Otto Aicher in Ulm bei den Eltern eintreffen, zumindest sah die Planung das vor. Otto Aicher kommt wie vereinbart und wird in der Franz-Joseph-Strasse von der Geheimen Staatspolizei für etwa 24 Stunden festgehalten. Der verschlüsselte und möglicherweise entstellte Notruf hat die Geschwister Scholl eher nicht erreicht, ansonsten hätten sie sicherlich ihre Freunde verständigt.[1908], [1909] Nichts ist erkennbar, dass mit dem 18. Februar 1943 ihre Freunde aus dem Widerstandskreis Schutzmassnahmen für sich trafen, jeder ging seinen gestellten Aufgaben, Zielsetzungen und Lebensplan nach. Mit der Anlieferung eines Vervielfältigungsapparates lag bereits eine weitere Intension in Planung. Ergo, bis zu diesem Zeitpunkt sollte der Widerstand fortgesetzt werden. Drei wesentliche Merkmale wurden zum Problem:[1910] Eine begonnene Eigensicherung in der Franz-Joseph-Strasse wurde nicht zu Ende geführt und wurde letztendlich zum Hauptproblem. Hans Scholl und Sophie Scholl hielten ihren strikten Plan nicht konsequent ein, sie waren bereits auf dem Weg, die Universität von der Amalienstrasse her zu verlassen. Erst durch die Umkehr,[1911] um erneut einen Flugblattabwurf von der Balustrade vom 2. Stockwerk in den Lichthof in der Universität zu wagen, wurde ihnen diese Entscheidung zum Verhängnis. Hätten die Geschwister Scholl kurz vor Ihrer Umkehr noch entschieden, sich für die Sache zu opfern? Eine solche Vorgehensweise würde eher von langer Hand geplant worden sein und braucht keine Verteidigungsstrategie vor der Geheimen Staatspolizei. Sie nahmen das hohe Risiko auf sich, das trifft zweifelsfrei zu.[1912] Eine Verteidigungsstrategie hat vorgelegen, das bezeugen die Aussagen der Beschuldigten an zu vielen Stellen des gesamten Aktenmaterials, was auch zu erheblichen Schwierigkeiten bei der Rekonstruktion geführt hat. Dass beide sich zur Entlastung absichtlich ein Flugblatt vor der Aktion zusteckten, spricht eher für ein Weiterleben.[1913], [1914] Die Aussagen von Hans Scholl und Sophie Scholl sprechen für sich, auch wenn diese von der Geheimen Staatspolizei zu Papier gebracht wurden, doch dem Sinn entsprechen dürften. Hinzu kommt, als die Flugblätter in der Universität verteilt waren, befinden sich einen Augenblick später lediglich zwei Studentinnen in der Nähe der Geschwister Scholl.[1915], [1916] Sie hätten mit ihrer Flugblattauslegung warten können, bis alle Studentinnen und Studenten nach Vorlesungsende die Hörsäle verlassen, um ihren Kommilitoninnen und Kommilitonen ein Flugblatt persönlich in die Hand zu geben. Das findet nicht statt. Hans Scholl über die Situation mit dem Hausschlosser Jakob Schmid: «…unmittelbar darauf kam der Hausschlosser Jakob Schmied und kündigte mir die Festnahme an. Dies hat er allerdings erst nach einem vorausgegangenen Wortwechsel getan die von mir dabei gebrauchten Äusserungen dürfte Schmied richtig wiedergegeben haben, möglicherweise habe ich auch mehr gesagt. Zur gleichen Zeit befanden sich gegenüber meinem Standplatz, wie ich flüchtig bemerkte, zwei Mädchen, die mir aber völlig unbekannt sind...»1916 Aus der Vernehmungsniederschrift von Jakob Schmid: «…Schmid erklärte, "ich verhafte Sie!" Hans Scholl entgegnete darauf hin: "Lächerlich so etwas, es ist eine Unverschämtheit einen in der Universität herinnen festzunehmen!"»[1917] Weil eine eingeleitete Eigensicherung[1918], [1919] nicht zu Ende geführt wurde, konnten sich die Geschwister Scholl trotz Ersterfolge nicht endlos gegenüber der Geheimen Staatspolizei plausibel verteidigen. Die ihnen später vorgelegten Beweismittel überführten sie. Der langersehnte Erfolg[1920] soll das monatelange Mühen, das körperlich und geistig zehrte, jetzt endlich belohnen, und zwar ALLE. Der Erfolgsdruck muss für Hans Scholl wohl unerträglich gewesen sein. Dass Hans Scholl und Sophie Scholl sich widerstandslos festnehmen liessen, war in der Sache sehr klug, erbrachte wegen der Beweismittel, die ihre gemeinsame Wohnung belastete, jedoch keinen Vorteil. Hans Scholl und Sophie Scholl leugnen zunächst sehr erfolgreich die ihnen zur Last gelegten Anschuldigungen. Zum genannten Sachverhalt folgen nun einige Originalpassagen aus den Vernehmungsniederschriften, die von den Beamten der Geheimen Staatspolizei über Hans Scholl und Sophie Scholl festgehalten wurden. Diese dürfen allerdings nur im Kontext verstanden werden, niedergeschrieben haben diese nicht die Beschuldigten. Auf die absichtlich eingesteckten Flugblätter, die zur Eigensicherung dienen, sei nochmals besonders hingewiesen.

    Selbstverteidigung gegenüber der Geheimen Staatspolizei München, Hans Scholl: «Heute früh bin ich gegen 8.30 Uhr aufgestanden, habe anschliessend gefrühstückt, dann gelesen und habe gegen 10.30 Uhr erstmals meine Wohnung verlassen. Ich führte einen Koffer bei mir, der leer war. Meine leere Ledermappe trug meine Schwester. Von meiner Wohnung Franz-Josef-Str. 13 bis zur Universität wurde ich von meiner Schwester Sofie Scholl begleitet. Wir gingen auf der rechten Seite der Ludwigstrasse zur Universität und kamen dort ungefähr um 10.45 Uhr an. Die Zeit, um die wir dort ankamen, kann ich nicht genau angeben irgendwelche Vorlesungen wollte ich heute an der Universität nicht besuchen, weil ich mich gegenwärtig zum Staatsexamen vorbereite»[1921]

Frage: «Was hatten Sie in der Universität zu suchen, nachdem Sie dort keine Vorlesungen besuchen?»[1921]

Antwort: «Ich wollte dort eine Freundin treffen. Es handelt sich hierbei um Fräulein Gisela Schertling, wohnhaft in München, Lindwurmstrasse 13/ 3 bei Wertheimer. Diese ist eine Freundin meiner Schwester Sofie Scholl. Beide waren zusammen im Arbeitsdienst. Mit Gisela Schertling unterhalte ich ein Freundschaftsverhältnis seit etwa 3 Wochen. Ich treffe sie seitdem fast täglich an ganz verschiedenen Stellen. Sie kommt öfters, aber völlig Willkürlich in meine Wohnung, ebenso komme ich öfters in ihre Wohnung, in der ich früher schon gewohnt habe…»[19v21]

Frage: «Wo befanden Sie sich, als Sie von einem Angestellten der Universität angehalten wurden?»[1930px22]

Antwort: «Ich befand mich zu dieser Zeit im zweiten Stock und zwar im linken Gang vom Eingang Ludwigstrasse aus gesehen, also im südwestlichen Teil der Universität. Ob sich in der Nähe meines Standortes das romanische Institut befindet, weiss ich nicht»[1922]

Frage: «Haben Sie in der Universität Flugblätter gesehen, gegebenenfalls wann und wo?»

Antwort: «Wann kann ich nicht sagen, ging ich mit meiner Schwester die Treppe hoch, die vorn Eingang Amalienstrasse zum 1. Stockwerk führt. Ich sah dabei, wie Putzfrauen auf dieser Treppe Flugblätter zusammensuchten. Um wieviele Flugblätter es sich hierbei gehandelt hat, weiss ich nicht»[1922]

Frage: «Haben Sie irgendeine Beobachtung gemacht, von wem die Flugblätter ausgestreut wurden?»[1922]

Antwort: «Nein. Ich sah nur, die Flugblätter auf der Treppe liegen und wie dieselben von den Putzfrauen aufgelesen wurden. Von diesen Flugblättern habe ich auch eines aufgehoben und in die innere Rocktasche gesteckt, ohne es zu lesen. Erst später, und zwar solange ich nach meiner Festnahme heim Syndikus warten musste, habe ich dieses Flugblatt gelesen»[1923]

Frage: «Wie denken Sie über den Inhalt dieses Flugblattes?»[1923]

Antwort: «Ich denke, wie ich als Soldat zu denken habe»[1923]

Frage: «Wollen Sie sich nicht näher erklären?»[1923]

Antwort: «Ich schätze das Verhalten dieser Agitation im Innern ähnlich ein, wie das Verhalten der Revolutionäre im Jahre 1918»[1923]

Vorhalt: «Es besteht Grund zu der Annahme, dass Sie selbst zu diesem eben von Ihnen geschilderten Kreis zählen. Was haben Sie dazu zu sagen?»

Antwort: «Die Annahme ist unbegründet»[19v23]

Vorhalt: «Es ist bekannt, dass Sie sich in letzter Zeit verschiedenen Personen gegenüber in dem Sinne geäussert haben, dass der Nationalsozialismus durch eine christliche Demokratie ersetzt werden müsse. Stimmt das?»[1923]

Antwort: «Ob das im tiefsten Grunde meine Ansicht ist, darüber spreche ich überhaupt nicht, weil solche Diskussionen gegenwärtig nicht aktuell sind»[1923]

    Hans Scholl erläutert, nachdem ihm die Geheime Staatspolizei München die Beweismittel zur Last legte, die Vorgehensweise zur Flugblattauslegung im Universitätsgebäude und nimmt auch Bezug auf die Umkehr in der Universität, um einen Rest an Flugblättern auszulegen: «Ich liess die noch übrigen Flugblätter bis zum Donnerstag, den 18. 2. 1943 in meinem Schreibtisch liegen. An diesem Tage habe ich in den Morgenstunden die Verteilung der Flugblätter in der Universität besprochen, habe die Blätter in einen Koffer und die Aktenmappe verpackt und sind damit um 11 Uhr gemeinschaftlich zur Universität gegangen. Dort angekommen wollte ich zunächst meine Schwester unten am Eingang warten lassen. Schliesslich habe ich es aber doch für zweckmässig gehalten mit meiner Schwester gemeinsam in das Universitätsgebäude hineinzugehen und dort die Verteilung der mitgebrachten Flugblätter vorzunehmen. Wir gingen rechts den Gang entlang, die Treppe hoch und haben dann vor dem Hörsaal 201 80-100 Stück zerstreut abgelegt. Wir gingen dann den Gang herum. Unterwegs habe ich mich nach vorheriger Vergewisserung, ob ich nicht beobachtet werde, jeweils eine ähnliche Menge zerstreut abgelegt. Nachher gingen wir in Richtung Ausgang zur Amalienstrasse, wo ich auf der Treppe, kurz vor der Ausgangstüre, einen grösseren Posten Flugblätter abgelegt habe. Ich kehrte mit meiner Schwester an dieser Stelle um und gingen wieder zum 1. Stock, wo ich ebenfalls stossweise Flugblätter ablegte. Wir gingen von da weg zum 2. Stock (linke Seite) wo ich über die Brüstung weg, den Rest meiner Flugblätter in den Lichthof geschüttet habe. Ich war damit noch kaum fertig, als ich die Beobachtung machte, dass der Hausmeister uns zum zweiten Stock folgen würde. Tatsächlich war ich mit meiner Schwester nur wenige Meter von der Abwurfstelle entfernt, als dieser Mann auf uns zu kam, uns die Festnahme ankündigte und uns auf den Kopf zusagte, dass wir soeben Flugblätter in den Lichthof geworfen hätten»[1924]

    Sophie Scholl zum gleichen Sachverhalt. Auch Sophie Scholl leugnete zunächst erfolgversprechend: «Als wir an den Hörsaal des Prof. Huber kamen, war die Vorlesung noch nicht beendet, weshalb ich mit meinem Bruder noch eine Treppe höher ging um ihm das Psychologische Institut zu zeigen, wo ich öfters Vorlesungen besuche. Als wir im 2. Stock angelangt waren, bemerkte ich, dass auf dem Marmorgeländer, das den 2. Stock vom Lichthof abgrenzt, ein Stoss Flugblätter lag, der eine Höhe von ungefähr 5-6 cm hatte. Schon zuvor hat mein Bruder und ich auf dem Flur des 1. Stocks solche Flugblätter gefunden, die auf dem Boden ausgestreut oder in unregelmässigen Haufen umherlagen. Jedes von uns hat sich hier eines der Blätter aufgehoben, flüchtig gelesen, worauf wir die Flugblätter behielten. Mein Bruder, der über die Flugblätter lachte, steckte seines in die Tasche, während ich meines in meine Mappe oder meine Manteltasche eingesteckt habe. Später hatte ich es jedenfalls in der Manteltasche stecken. Als ich die Flugblätter oben im 2. Stock. auf dem Geländer aufgeschichtet liegen sah, wusste ich sofort, dass es sich hier um die gleichen Flugblätter handeln müsse, wie sie zuvor von mir und meinem Bruder auf der Treppe und im Flur im 1. Stock gefunden wurden. Im Vorbeigehen habe ich den auf dem Geländer aufgeschichteten Flugblätter mit der Hand einen Stoss gegeben, sodass diese in den Lichthof hinunterflatterten. Mein Bruder wurde auf diese Flugblätter erst aufmerksam, als sie bereits im Lichthof in der Luft flatterten. Ich sehe nun ein, dass ich durch mein Verhalten eine Dummheit gemacht habe die ich bereue, aber nicht mehr ändern kann. Wie bereits eingangs erwähnt, habe ich mit meinem Bruder etwa 10 Min. vor 11 Uhr das Universitätsgebäude betreten. Die ersten Flugblätter lagen auf der Treppe zum 1. Stock, und zwar ziemlich auf dem oberen Teil der Treppe. Auf dem ersten Teil der Treppe, also ganz unten und schon im Gang zu ebener Erde begegneten uns die bereits erwähnten Studenten, darunter die Studentin Traute Lafrenz, die aus der Vorlesung des Prof. Huber kamen. Von dem Zeitpunkt ab, als wir die ersten Flugblätter im oberen Teil der Treppe im 1. Stock liegen sahen, bis zu dem Augenblick, als ich die Flugblätter von dem Geländer im 2. Stock in den Lichthof hinunterwarf, mögen ungefähr 4 Minuten vergangen sein. Mein Bruder und ich gingen im gemächlichen und langsamen Schritt die Treppen hinauf, haben unterwegs, wie bereits angegeben, Flugblätter aufgehoben und im Weitergehen, flüchtig gelesen, wodurch sich unsere Gangart noch etwas verlangsamte. Als wir gerade im Begriff waren, vom 2. in den 1. Stock herunter zu gehen, kam uns ein Mann entgegengestürmt, der meinen Bruder am Arm packte, indem er sagte, "ich verhafte Sie! Mein Bruder und ich, gingen widerspruchslos mit diesem Mann (Hausschlosser der Universität Jakob Schmied) in die Amtsräume des Syndikus der Universität, Dr. Häfner»[1925]

    Sophie Scholl bekommt von der Geheimen Staatspolizei mitgeteilt, ihr Bruder habe bereits gestanden und folgt ihrem Bruder: «Auch bezüglich des Vorganges heute Vormittag in der Universität München möchte ich nun die Wahrheit sagen, wobei ich bekennen muss, dass diese Flugblätter durch meinen Bruder und mich in dem, bei meiner Festnahme sichergestellten Koffer, in die Universität gebracht und dort ausgestreut wurden. Es handelte sich meiner Schätzung nach um 1500-1800 Flugblätter mit der Überschrift "Kommilitoninnen! Kommilitonen!" und etwa 50 Stück mit der Überschrift "Aufruf an alle Deutsche!». Diese Flugblätter transportierten wir zum grösstenteil in dem erwähnten Koffer, aber auch die Aktentasche meines Bruders war mit solchen Flugblätter angefüllt. Innerhalb des Universitätsgebäudes trug mein Bruder den Koffer, während ich die Flugblätter an den verschiedensten Orten ablegte, oder ausstreute. In meinem Übermut oder meiner Dummheit habe ich den Fehler begangen, etwa 80 bis 100 solcher Flugblätter vom 2. Stockwerk der Universität in den Lichthof herunterzuwerfen, wodurch mein Bruder und ich entdeckt wurden. Ich war mir ohne weiteres im Klaren darüber, dass unser Vorgehen darauf abgestellt war, die heutige Staatsform zu beseitigen und dieses Ziel durch geeignete Propaganda in breiten Schichten der Bevölkerung zu erreichen. Unsere Absicht war ferner, in geeigneter Weise weiter zu arbeiten. Wenigstens vorerst und auch für später hatten wir nicht die Absicht, noch weitere Personen ins Vertrauen zu ziehen und zur aktiven Mitarbeit zu gewinnen. Dies schon deshalb nicht, weil uns dies zu gefährlich schien. Gerade diese Frage habe ich vor einiger Zeit mit meinem Bruder besprochen, kam jedoch nach Abwägung von Vor- und Nachteilen zu der Überzeugung, dass dies zu gefährlich sei»[1926]

    Bei allen Vernehmungsniederschriften, die von der Geheimen Staatspolizei zum Widerstandskreis Weisse Rose erstellt wurden, existieren vier Passagen, die betreffend der Beschreibung des Brockhaus zum Märtyrer-Verständnis Parallelen zeigen. Die Passagen müssten den Charakter aufweisen, weiter seinem Gewissen folgen und den Tod in Kauf nehmen, ohne im Kampf zu fallen. Ab Seite 571 unter "Zitate" zeichnen sich in ganz besonderer Weise die ersten sechs Zitate aus. Hans Scholl erläutert seine Handlungsweise gegenüber der Geheimen Staatspolizei. Der Vernehmungsbeamte Robert Mohr stellt die Schlussfrage, die Sophie Scholl beantwortet. Alexander Schmorell begründete kurz nach seiner Festnahme seine Mitwirkung im Widerstandskreis. Auch Professor Kurt Huber begründet seine Haltung im Widerstand. Henning von Tresckow, vom 20. Juli, äusserte sich mit zwei Aussagen über seinesgleichen, die mit machten und spricht gleichzeitig für den gesamten Widerstand und Partisanenkampf des II. Weltkriegs.

    Die Weisse Rose war ein ganz besonderer Freundeskreis. Dies wurde im Gedenkbuch an zahlreichen Stellen erkenntlich wiedergegeben. Hätte einer von ihnen aus diesem edlen Kreis sich gegenüber den anderen hervorheben lassen wollen? Sophie Scholl stand zu ihrem geliebten Bruder bis zuletzt. Alexander Schmorell war in besonderer Weise eng mit Hans Scholl verbunden. Alle anderen hielten wortwörtlich gesprochen ihren Kopf für die gleiche Sache hin und bleiben unberücksichtigt. Eine ähnliche Situation liegt beim Thema "Widerstandskämpferin, Widerstandskämpfer?" ab Seite 691 vor. Die Märtyrer-Frage führt die Weisse Rose in die Bredouille. Sie haben alle zweifelsfrei nach ihrem Gewissen gehandelt und deshalb aus ethischen Gründen Widerstand geleistet. Ihnen war bewusst, welches Lebensrisiko sie eingingen und damit wissentlich auf sich nahmen. Aufgrund dieser Tatsache, haben sich alle Beteiligten in aussergewöhnlicher Weise als Vorbilder verdient gemacht und sind deshalb zurecht in die Weltgeschichte eingegangen. Mit ihrem Tod wurde sichtbar, wie wichtig ihnen zu Lebzeiten der Widerstand war und was sie dafür bereit waren zu geben. Die Märtyrer-Frage polarisiert heute die Weisse Rose und die Gesellschaft. Beenden können das die Kirchen. Eine Schattenseite muss nicht für immer bleiben. Das machte das Weisse Rose Institut e. V. München zum 100. Geburtstag von Willi Graf kenntlich: "Bekanntgabe der Einleitung einer Voruntersuchung zur möglichen Eröffnung eines Seligsprechungsprozesses."[1927]

    Weil Alexander Schmorell von der Öffentlichkeit viel zu wenig wahrgenommen wird und folglich auch zu wenig Anerkennung für seine Lebensleistung erfährt, können wir uns für Alexander Schmorell umso mehr freuen, dass ihn die Russisch-Orthodoxe Kirche die Ehrerweisung "Alexander Schmorell - heiliger Märtyrer von München" verlieh.

    «Christoph Probst wird in dem von der Deutschen Bischofskonferenz herausgegebenen „Deutschen Martyrologium des 20. Jahrhunderts“ ausdrücklich genannt.»[1928]