VIII. Weisse Rose München – Meistgestellte Fragen

1           Donnerstag, 18. Februar 1943

Für den Donnerstag liegen Indizien zu Ereignissen vor, Auffälligkeiten, die nicht vollständig belegbar sind und deshalb zwischen Indizien und Hypothesen liegen. Der Rekonstruktion bzw. meiner Gedankenlesung liegt eine empirische, zum Teil emphatische und nicht rein chronologische Annäherung an das tragische Ende zugrunde.

    Die Geheime Staatspolizei München wird in ein paar Stunden von Hans Scholl protokollieren: «Als meine Schwester am Sonntag, den 14.2.43 nach München zurückkam, habe ich ihr die von mir hergestellten Flugblätter gezeigt und festgestellt, dass sie mit dem Inhalt einverstanden war[1634] Der Gedanke, Flugblätter in der Universität auszustreuen, kann aufgrund der bisherigen Erkenntnisse nicht kurzfristig vor dem 18. Februar 1943 entstanden sein.[1635] Weitere Hinweise werden dies ebenfalls bestätigen. Hans Scholl: «Nachdem ich mit der Versendung fertig war und mich davon überzeugen konnte, dass ich mit meinem Vorhaben keinen Erfolg hatte (ich habe mir selbst geschrieben und würde zumindestens von Schmorell und Graf verständigt worden sein) kam ich auf den Gedanken, die noch übrigen Flugblätter selbst innerhalb der Studentenschaft bzw. Universität zu verteilen1634 Gedanken darüber hegte Hans Scholl schon vor dem 14. Februar 1943: «Nachdem ich geglaubt hatte, dass die militärische Lage nach der Niederlage an der Ostfront und dem ungeheuren Anwachsen der militärischen Macht Englands und Amerikas eine siegreiche Beendigung des Krieges unsererseits unmöglich sei, gelangte ich nach vielen qualvollen Überlegungen zu der Ansicht, dass es nur noch ein Mittel zur Erhaltung der europäischen Idee gebe, nämlich die Verkürzung des Krieges. Andererseits war mir die Behandlung der von uns besetzten Gebiete und Völker ein Greuel. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass nach diesen Methoden der Herrschaft eine friedliche Aufbauarbeit in Europa möglich sein wird. Aus solchen Erwägungen heraus, wuchs in mir die Skepsis gegen diesen Staat und weil ich bestrebt sein wollte, als Staatsbürger dem Schicksal meines Staates nicht gleichgültig gegenüber zu stehen, entschloss ich mich, nicht nur in Gedanken, sondern auch in der Tat meine Gesinnung zu zeigen. So kam ich auf die Idee Flugblätter zu verfassen und zu verfertigen.»[1636] Sophie Scholl verbreitete Flugblätter bereits in kleinen Mengen ab dem 30. Januar 1943 bis zum 5. Februar 1943.[1637], [1639] Neben Sophie Scholl wusste Gisela Schertling Genaueres durch Hans Scholl von einer unmittelbar bevorstehenden Flugblattstreuung innerhalb der Universität.[1638]

    Über Alexander Schmorell wird die Geheime Staatspolizei um den 25. Februar 1943 festhalten: «Nach der Versendung der Flugblätter durch die Post blieb uns noch ein Rest davon übrig. Es können diese 15-1800 Blätter gewesen sein. Um auch diese los zu werden verabredeten Scholl und ich, dass wir den Rest dieser Flugblätter in der Universität kurz vor Beendigung der Vorlesungen vor die Türen der Hörsäle legen werden. Dieser Gedanke ging entweder von mir oder von Scholl aus. Jedenfalls waren wir uns über dieses Vorhaben vorläufig einig. Bei dieser Unterredung war weder die Sophie Scholl noch Graf anwesend. Ich kann nicht angeben, ob Willi Graf etwa nachträglich von Hans Scholl von unserem Plan erfahren hat[1635]

    Das Gespräch zwischen Hans Scholl und Alexander Schmorell entstand bei der letzten Flugblatt-Herstellung. Diese ereignete sich am 12. Februar 1943, insbesondere lieferte hierzu Willi Graf die Details.[1640] Ob Alexander Schmorell seine Kommilitonin Sophie Scholl mit seiner Aussage in Schutz nehmen wollte, wäre möglich. Die Formulierung in der Vernehmungsniederschrift entspricht der Art, wie sie von Alexander Schmorell bekannt ist. So wäre denkbar, dass sie der Tatsache entsprechen könnte, auch in Anbetracht, dass Willi Graf ebenfalls von einer Aktion in der Universität unterrichtet ist. Bevor der erste Umschlag adressiert wurde, muss festgestanden haben, was folgen wird, denn die Adressaten sind ausschliesslich Studierende[1641] und diese sollten ganz offensichtlich ein bis zwei Tage vor der eigentlichen Aktion gezielt eingeschworen werden. Ansonsten hätte der Widerstandskreis die Briefsendungen mit anderem Inhalt anderweitig versenden müssen. Dies scheint ein wichtiger Ansatz zu sein. Das Aufsehen durch Anbringung von Wandparolen wie "Freiheit" und "Nieder mit Hitler"[1642], [1643] in der Nacht vom 3./4. Februar 1943, das auch Wilhelm Geyer[1644] am nächsten Morgen sehen konnte, durfte sich logischerweise nicht vor einer Aktion an der Universität wiederholen. Die Universität würde vielleicht dann von der Geheimen Staatspolizei besonders in Augenschein genommen. Mit einem Koffer voller Flugblätter wäre die Universität kaum zu "stürmen" gewesen. Also wurden in der Nacht weitere Wandparolen, vom 15. auf den 16. Februar 1943, an umliegenden Gebäuden fern der Universität angebracht.[1645], [1646]

München Stadtkarte von 1894, Routen angebrachter Wandparolen in den Nächten 3./4.2.1943, 8./9.2.1943, 15./16.2.1943, Privatbesitz

Abbildung 226: München Stadtkarte von 1894, Routen angebrachter Wandparolen in den Nächten 3./4.2.1943, 8./9.2.1943, 15./16.2.1943, Privatbesitz

Bei Hans Scholl und Sophie Scholl müssten Überlegungen vorgelegen haben, heute nicht die Universität, die brauchen wir in zwei Tagen. Doch stellt sich auch die Frage, warum in der Nacht vom 15. auf den 16. Februar 1943 Wandparolen an umliegenden Gebäuden angebracht wurden. Ein Postversand speziell für ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen sollte nicht genügen? Lag etwa ein mehrstufiger Plan vor? Sollte sich etwas zuspitzen? Eine Zeitzeugin wird darüber noch eine kurze Anmerkung machen...

    Die Geheime Staatspolizei hält schriftlich von Willi Graf fest: «Nach dem Versand der Propagandabriefe an die erwähnten Studenten waren noch eine Menge von Flugblätter übrig, die in der Wohnung Scholl in einem Koffer verwahrt wurden. Wieviel Flugblätter es noch waren, weiss ich nicht. Bekannt ist mir dagegen, dass Scholl die Absicht äusserte, diese Flugblätter innerhalb des Universitätsgebäudes auszustreuen bzw. zur Verteilung zu bringen. Er beabsichtigte, die Flugblätter während der Vorlesungen vor den Hörsälen, auf den Gängen etc. abzulegen.»[1647] Rechnerisch ermittelt, dürften sich im Koffer von Hans Scholl 3000 − 1110 = 1890 Flugblätter befunden haben.[1648] Das Gespräch zwischen Hans Scholl und Willi Graf fand ebenfalls während der letzten Flugblatt-Herstellung statt. Aufgrund der Vorgehensweise sollte vermutlich erreicht werden, dass Bedienstete der Universität die Flugblätter möglichst nicht vor Vorlesungsende konfiszieren können. Mit dieser Strategie muss Hans Scholl und Sophie Scholl sehr bewusstgeworden sein, dass sie sich auf ein Risiko einlassen, das tödlich enden könnte.[1649] Eine Entscheidungsfindung der Geschwister Scholl kam sicherlich unter Abwägung aller Risiken bei genügendem Abstand zustande. Eine planlose Aktion kann nicht erkannt werden. Allerdings dürften Alexander Schmorell und Willi Graf gewusst haben, wenn das Vorhaben scheitert, wird ihr Leben mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ein unnatürliches Ende finden.[1650] Alexander Schmorell und Willi Graf treffen keine erkennbaren Schutzmassnahmen zur aktuellen Lage für sich selbst, das wiederum bedeutet, dass für beide nicht ersichtlich gewesen sein konnte, dass eine Aktion innerhalb des Universitätsgebäudes von Hans Scholl und Sophie Scholl bereits ganz konkret in Betracht gezogen wurde. Nicht auszuschliessen, dass die Flugblattauslegung in der Universität ursprünglich von Hans Scholl und Alexander Schmorell durchgeführt werden sollte. Zumindest vermittelt Alexander Schmorell durch seine Aussage gegenüber der Geheimen Staatspolizei diesen Eindruck. Allerdings wirkt die Aussage von Alexander Schmorell am 26. Februar 1943 durch die Geheime Staatspolizei etwas relativierter als die erste Aussage vom 25. Februar 1943: «Wie ich schon angegeben, haben und ich einen oder zwei Tage vorher darüber gesprochen, dass man die restlichen Flugblätter - etwa in der Universität in München ablegen könnte. Etwas Näheres, insbesondere wann das geschehen und von wem das durchgeführt werden soll, ist zwischen uns beiden nicht vereinbart worden[1651] Auf der anderen Seite müsste ihren beiden Freunden erkenntlich gewesen sein, dass ein solches Vorhaben demnächst stattfinden würde und so schnell als möglich. Vor allem wussten beide als Beteiligte vom Postversand und kannten deshalb den Flugblattinhalt ihres Professors. Möglich, dass Alexander von den Hinrichtungen zwischenzeitlich wusste und sich durch die veränderte Situation eine andere Möglichkeit zur Verteidigung bot.

    Hans Scholl wird bewusst, dass bisher kein Erfolg feststellbar war.[1652] Am 13. Januar 1943 soll Hans Scholl Manfred Eickemeyer mitgeteilt haben, dass ihre Erfolglosigkeit im Zusammenhang mit ihrer Anonymität zu suchen sei und er denke darüber nach, sich offen zum Widerstand zu bekennen. Ähnlich soll sich Hans Scholl am 8. Februar 1943 gegenüber Falk geäussert haben. Der habe ihm abgeraten ihre Anonymität aufzugeben, kein beabsichtigtes Final zu statuieren und vielmehr ihren Freiheitskampf aus dem Untergrund zu einer grösseren Organisation auszubauen. Hans Scholl habe ihm gegenüber an seinen Gedanken festgehalten.[1653] Mit der Überschrift des VI. Flugblatts soll die Studentenschaft angesprochen werden und dafür bekommt Hans Scholl von seinem Professor ein Studentenverzeichnis zur Adressierung der Briefsendungen.[1654] Aus einem Studentenverzeichnis[1655] von 1942/1943 geht hervor, dass etwa 3800 Studentinnen und Studenten in der Ludwig-Maximilians-Universität eingeschrieben sind. In der Zeit als Elisabeth Scholl[1656] für 8 Tage nach München zu Besuch kommt, kann der Widerstandskreis die Flugblatt-Herstellung nicht aufrechterhalten, ein Ausweichort wie beispielsweise das Atelier ist nicht erkennbar.[1657] Etwa ab dem 11. Februar 1943 dürfte der Widerstandskreis täglich an der Produktion des VI. Flugblatts gearbeitet haben, Flugblatt-Vervielfältigung, Postversand und Anbringen von Wandparolen.[1658] Mit dem VI. Flugblatt dürfte abzusehen gewesen sein, wann dieses über den Postweg in Umlauf gebracht wird oder durch Auslegung in der Universität Aufsehen erregen würde, denn dieses Flugblatt war inhaltlich an ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen gerichtet und gebunden. Dieses studentisch ausgerichtete Flugblatt konnte nicht auf offener Strasse an beliebiger Stelle verteilt werden. Der genaue Zeitpunkt zur Verbreitung der Flugblätter dürfte noch eine gewisse Zeit offen gestanden haben. Ab dem Zeitpunkt des Postversands muss die Vorgehensweise entschieden gewesen sein. Im Widerstandskreis wurde das Vorhaben einer Streuaktion in der Universität erwähnt, eine Datierung ist in den Vernehmungsniederschriften der Beschuldigten nicht erkennbar, wann das Vorhaben stattfinden soll. Bis dahin für die anderen Kommilitonen offensichtlich nur ein Gedanke. Fragen sind sicherlich durch seine Freunde gestellt worden, die Hans mit unbekanntem Inhalt beantwortet haben dürfte. Dennoch treffen ihre Freunde Alexander Schmorell und Willi Graf keine Vorkehrungen zu ihrem Schutz.

    Während sich Elisabeth in München aufhält, ist nicht erkennbar, dass an einem neuen Flugblattentwurf gearbeitet wird, zumal von Christoph ein ausgezeichnet formulierter Entwurf vorliegt. Sophie Scholl und Elisabeth fahren am 5. Februar 1943 nach Ulm.[1659], [1660] Nach der Abreise der beiden Schwestern wurde die Produktion nicht sofort wieder aufgenommen. Eigentlich hätte jetzt der Flugblattentwurf von Christoph zur Verbreitung in Betracht gezogen werden können. Doch dies geschieht nicht. Treffen und Gespräche mit verschiedenen Gesprächspartnern finden vorrangig statt. Wartet der Widerstandskreis auf etwas oder gar auf etwas Abgesprochenes? Wusste Hans Scholl, dass sein Professor etwas vorhatte, oder war er am 11. Februar 1943[1661], [1662] mit der Übergabe seines Flugblattentwurfs vollkommen überrascht? Zwischen Professor Kurt Huber und Hans Scholl müsste im Vorfeld eine Absprache zur Textlänge für die Vervielfältigung des neuen Flugblatts stattgefunden haben, wenn ihrem Professor sicherlich der Umgang mit Schablonen aus dem Universitätsbetrieb bekannt war. Ganz sicher wurde auch darüber gesprochen, auf welche Weise die Studentenschaft das an sie gerichtete Flugblatt erreichen soll. Weil der Professor Familie hat, muss er sich sicher sein, dass er diese nicht in Gefahr bringt. Hier muss eigentlich eine Unterredung stattgefunden haben. Eine solche Unterredung bestätigt sich am 1. März 1943 von Professor Kurt Huber bei seiner Vernehmung: «Scholl versprach mir auch bezüglich des von mir verfassten Entwurfes in Bezug auf die Herstellung und Verbreitung, sowie die Autorschaft, mich vollkommen aus dem Spiele zu lassen.»[1663]

    Hans Scholl teilte gemäss seiner Vernehmungsniederschrift gegenüber der Geheimen Staatspolizei mit, dass er um den 10. Februar 1943 von den Rückschlägen der Ostfront erfuhr und sich entschloss, ein weiteres Flugblatt in Umlauf zu bringen.[1664] Die offizielle Bekanntgabe über Stalingrad erfolgte bereits am 3. Februar 1943.[1665] Dem Anschein nach sollte der Ausgang der beiden anberaumten Gespräche mit den Doktoren Kurt Huber und Falk Harnack abgewartet werden. Wird währenddessen geplant, hinterfragt, was kommt als Nächstes, was machen wir ohne Briefumschläge, Flugblätter wie das V. Flugblatt können wegen der Doppelseite nicht zum Briefumschlag gefalzt werden, uns geht allmählich das Geld und Saugpostpapier aus, das Geld reicht nur für einen kleineren Briefmarkenkauf, eine grosse Flugblattauflage ist augenblicklich nicht möglich und wie machen wir zukünftig weiter? Ein Teil der offenen Fragen muss bereits geklärt sein, denn in wenigen Tagen wird über Eugen Grimminger ein vollautomatischer Rotationsvervielfältiger geliefert werden.[1666] Flugblattentwurf von Christoph Probst? Hans Scholl erhielt diesen Entwurf von Christoph schon am 31. Januar 1943.[1667] Warum kam dieser jetzt nicht nach den Verlusten an der Ostfront zum Einsatz? Alles war richtig, Thema und Zeitpunkt.

                «S t a l i n g r a d !

   200 000 deutsche Brüder wurden geopfert für das Prestige eines militärischen Hochstaplers. Die menschlichen Kapitulationsbedingungen der Russen wurden den geopferten Soldaten verheimlicht. General Paulus erhielt für diesen Massenmord das Eichenlaub. Hohe Offiziere haben sich im Flugzeug aus der Schlacht von Stalingrad gerettet. Hitler verbot den Eingekesselten sich zu den rückwärtigen Truppen zurückzuziehen. Nun klagt das Blut von 200 000 dem Tod geweihten Soldaten den Mörder Hitler an...» Und weiter schreibt Christoph in seinem Flugblattentwurf: «…Heute ist ganz Deutschland eingekesselt wie es Stalingrad war. Soll dem Sendboten des Hasses und des Vernichtungswillens alle Deutschen geopfert werden! Ihm, der die Juden zu Tode marterte, die Hälfte der Polen ausrottete, Russland vernichten wollte, ihm der Euch Freiheit, Frieden, Familienglück, Hoffnung und Frohsinn nahm und dafür Inflationsgeld gab[1668]

    Die Bemühungen von Christoph waren goldrichtig. Den Beamten der Geheimen Staatspolizei konnte die Tragweite des Flugblattinhalts von Christoph nicht entgangen sein. So wie sich die Situation darstellt, wurde Christoph zu seinem Flugblattinhalt ebenfalls nicht befragt. Formulierungen wie Massenmord, Hass, Massenvernichtung, Ausrottung und Juden konnte keiner übersehen, welche Folgen dem gegenüberstehen, wenn die gerechte Stunde kommen würde.

   Zurückblickend lässt sich feststellen, das V. Flugblatt Charge-1 bedeutete einen enormen Arbeits- und Kostenaufwand. Die zweite Aktion V. Flugblatt Charge-2 fiel deutlich kleiner aus und bestand nur aus einer Streuaktion, weil kurzweilig nicht genügend Briefumschläge gekauft werden konnten.[1669] Nach den vorausgegangenen Aktionen verblieb nur ein kleinerer Geldbetrag für die letzte Flugblatt-Herstellung VI mit anteiligem Postversand.[1670], [1671] Nachvollziehbar, aufgrund der Gegebenheiten wie Zeitmangel und eingeschränkter Mittel in finanzieller und materieller Hinsicht, war zu diesem Zeitpunkt keine grosse Flugblattauflage mehr möglich. Vielleicht lässt sich durch den daraus entstandenen Zeitdruck auch die Häufigkeit von Problemen mit Schablonen erklären, die bei der Flugblatt-Herstellung speziell beim VI. Flugblatt auftraten.[1672] Eine Grossauflage, wie sie beim V. Flugblatt Charge-1 aufgewendet wurde, war viel zu zeitintensiv. Für einen solchen Aufwand war bis zum 18. Februar 1943 nicht genügend Zeit, auch kaum um sich bei Eugen neues Geld zu beschaffen, denn dieser liess bei der ersten Geldübergabe auf sich warten, er konnte nicht gleich liefern.[1673] In dieser Phase äusserte Hans Scholl gegenüber Gisela Schertling, er müsse noch nach Stuttgart.[1674] Vermutlich würde sein Weg zu Eugen führen. Sophie Scholl kommt in der Nacht des 14. Februar 1943 aus Ulm nach München zu ihrem geliebten Bruder zurück.[1675] Ganz bewusst? Das neue Flugblatt wurde vor zwei Tagen durch die Maschine gepresst und roch noch nach frischer ölhaltiger Vervielfältigungsfarbe. Obwohl der Tag für Sophie Scholl lange genug war, beginnt noch in der Nacht die Bearbeitung des Postversands mit Hans Scholl, ihr und Alexander Schmorell. Weiter fällt auf, am Folgetag wird die weitere Bearbeitung des Postversands zwangsläufig durch einen Besuch von Otto Aicher, den Sophie Scholl erhält, für ein paar Stunden ins Atelier verlagert.[1676] Die letzten Briefsendungen werden zum 16. Februar 1943 fertig und an diesem Tag von Sophie Scholl und Gisela zur Post gebracht.[1677], [1678] Um sicher zu sein, dass alle Arbeiten bis zum 18. Februar 1943 verrichtet werden, musste die Abwicklung zügig vonstattengehen. Der Freundeskreis musste bei der ersten Flugblattauflage V. Flugblatt Charge-1 schon einmal eine Terminverschiebung in Kauf nehmen. Eine ursprünglich geplante Flugblattübergabe zwischen Sophie Scholl und Hans musste vom 15. auf den 25. Januar 1943 verschoben werden.[1679] Eine solche Situation durfte sich jetzt nicht wiederholen. Bis zum 18. Februar 1943 sind die Geschwister mit verschiedenen Terminen ausgelastet. Bis auf 40[1680] RM war die Widerstandkasse aufgebraucht und bis zur Aktion in der Universität bestand noch ein Zeitpuffer von 24 Stunden.

    Zurück zum 11. Februar 1943.[1681], [1682] An diesem Tag bekommt der Freundeskreis den Flugblattentwurf von ihrem Professor Kurt Huber und die Produktion kann beginnen. Bis zum 14. Februar 1943 dürfte sich das Vorhaben, Flugblätter in der Universität auszustreuen, zwischen Hans und Sophie Scholl speziell, was den Termin zum 18. Februar 1943 betrifft, konkretisiert haben. Unklar ist, ob auch Gisela sich in irgendeiner Form zur Aktion äusserte oder beteiligte. Sophie Scholl schreibt in einem Brief bereits am 2. Februar 1943, «das Kriegsende rückt ja spürbar näher[1683] Tage zuvor machte der Verlust der Ostfront unter der Bevölkerung allmählich die Runde, bevor die Situation über Stalingrad von offizieller Seite am 3. Februar 1943 bekanntgegeben wurde. Hierzu notiert Willi Graf in sein Tagebuch: «In Deutschland wird bekannt, daß Stalingrad von den Russen genommen sei. Eine Nachricht von großer Bedeutung. Das empfinden wohl alle.»[1684] Der Autor Christian Petry: «Die gleichaltrigen Freunde erreichen mit ihrer Kritik ihre aktiven Kommilitonen auch deshalb nicht, weil Ältere, wie Huber (und vielleicht auch Muth aus einer falschen Einschätzung der Lage heraus), sie in keiner Weise bremsten.»[1685]

   Dem Gegenüber dürfte nach dem Verlust von Stalingrad für das Hinterland gestanden haben, R.A.D. und Fronteinsätze. Der Satz «Wollt ihr den totalen Krieg»[1686] fiel erst am 18. Februar 1943. Wenn auch dieser Satz die Geschwister nicht mehr in Freiheit erreicht, weil die Rede von Josef Goebbels erst am Abend im Radio ausgestrahlt wurde, so dürften dennoch die Umstände der vergangenen Tage die letzten Handlungen beeinflusst haben. Dass nach dem Verlust von Russland tiefgreifende Veränderungen folgen werden, bleibt dem Widerstandskreis bis zum 18. Februar 1943 sicher nicht verborgen. War nicht anzunehmen, dass sich nach dieser Nachricht ein Ruck durch die Bevölkerung auftun würde und viele begreifen könnten, jetzt zu handeln, bevor noch schlimmeres kommt? Dies könnten die ersten Überlegungen der Geschwister gewesen sein, durch die neue Situation, das eigene Volk anteilig im Rücken zu haben. Zumindest ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen? Vielleicht berichtete Christoph tatsächlich über Thomas Mann, den er vermutlich am 24. Januar 1943 im Radio mit dem Titel "Zehn Jahre Nationalsozialismus"[1687], [1688] gehört haben konnte.[1689] Auch in seinem Elternhaus hörte Hans Scholl mit Alexander Schmorell unerlaubte Presseberichte, wohl sogar mit seinem Vater Robert zusammen.[1690], [1691], [1692] Der 14./15. Februar 1943 bringt den naheliegenden Verdacht auf, dass kein weiterer Tag bezüglich Flugblatt-Vervielfältigung und anteiligem Postversand bis zum 18. Februar 1943 verlorengehen darf bzw. der Postversand schon ein, besser zwei Tage zuvor ihr Ziel erreichen muss.[1693] Bis dahin, so der Eindruck, wurde durchgehend mit einer Ausnahme gearbeitet. Tagsüber, am 14. Februar 1943, hatte Hans Scholl bei Gisela noch etwas zu glätten. Vielleicht die Einlösung eines kleinen Versprechens, sich mehr um sie zu kümmern und mit einer Überraschung aufzuwarten. So wie sich die Hans Biographie der Historikerin Barbara Ellermeier liest, scheint ihm das hervorragend geglückt zu sein.[1694]

    Vom 15. auf den 16. Februar 1943 werden rechnerisch in der Nacht 1060 Briefsendungen zur Post gebracht,[1695] Wandparolen[1696], [1697] gepinselt und tagsüber, am 16. Februar 1943, noch 50 Briefe[1698] aufgegeben. Warum diese permanente Dauerbelastung und weshalb wurde der Postversand am 15. Februar 1943 für ein paar Stunden ins Atelier verlagert und nicht ausgesetzt? Diese Eile begann bereits in der vorherigen Nacht zum 14. Februar 1943 zu dritt, nachdem Sophie Scholl wieder in München zurück war, als ob sie nicht müde gewesen wäre. Der Geist des Volksmundes besagt, nimm dir Zeit und nicht das Leben. Doch unter diesem Termindruck wurde die Gelegenheit jetzt für eine Flugblattstreuung in der Universität vorbereitet und die wohl einzig sich bietende Gelegenheit auch wahrgenommen. Die letzten Tage sprechen für einen gemeinsamen Plan, der vorsah, studentischer Freiheitskampf begleitet von Wandparolen an umliegenden Gebäuden der Universität, Einschwören der Studentenschaft durch exklusiven Briefversand mit Inhalt des VI. Flugblatts, Streuaktion inmitten ihrer Universität, Flugblatt-Abwurf über dem Lichthof und Plan B durch Absprachen zur Vernehmung gegenüber der Geheimen Staatspolizei für den Fall einer Festnahme. Eine Festnahme schlossen sie ganz offensichtlich nicht gänzlich aus. Durch den mehrstufigen Plan entsteht der Eindruck, er soll ihnen die Wiederholung des Protestes, wie beim Deutschen Museum vor fünf Wochen, absichern. Die geniale Strategie müsste glücken, wenn der zugrundeliegende Gedanke zutreffend wäre. Sofern dies in den Vernehmungen möglich war, wurden Mitwirkende von Hans Scholl und Sophie Scholl nicht genannt, Eugen Grimminger,[1699] Hans Hirzel, Susanne Hirzel, Franz-Josef Müller. Der Postversand Stuttgart musste bezüglich der Umsetzung deshalb vollständig improvisiert,[1700] oder der Geheimen Staatspolizei bereits bekannte Personen als unscheinbar dargestellt werden, Gisela Schertling, Professor Kurt Huber,[1701] anfangs Alexander Schmorell,[1702], [1703] ein stückweit Willi Graf,[1704], [1705] Christoph Probst[1706], [1707] und andere. Gleich zu Beginn der Vernehmungen widersprechen Hans Scholl und Sophie Scholl fast deckungsgleich die ihnen zur Last gelegten Anschuldigungen. Insbesondere betrifft dies den Ablauf der Flugblattauslegung in der Universität. In der Universität soll angeblich Gisela aufgesucht werden.[1708], [1709] Zumindest machen das Hans Scholl und Sophie Scholl gegenüber der Geheimen Staatspolizei erfolgreich glaubhaft. Weil beide keine Vorlesungen belegen, ihre gemeinsame Freundin Gisela sich in einer Vorlesung befindet, dient Gisela als Alibi zur Erklärung für ihren Aufenthalt in der Universität. Ob Gisela von ihrer Alibifunktion wusste? Sophie argumentierte bei der Polizei, sie müsse noch Gisela ausrichten, dass sie sie am Nachmittag nicht treffen könne. Weil Hans mit Gisela für den Mittag verabredet ist, hätte Hans die Nachricht seiner Schwester ausrichten können.[1710] Beide können bis zur Vorlage der Beweismittel aus ihrer Wohnung alle Anschuldigungen plausibel und nachvollziehbar abwenden. Aus einem unbewiesenen Nachkriegsbericht geht durch Robert hervor, dass die Geschwister angeblich aus Mangel an Beweisen entlassen werden sollten.[1711]

    Die Geheime Staatspolizei wird noch am gleichen Tag, nur wenige Stunden später, von Sophie Scholl niederschreiben: «[H]aben wir vornehmlich in der letzten Zeit den Gedanken erwogen, uns mit Flugblätter an die Studenten zu wenden, weil wir die Auffassung vertraten, dass die meisten der Studenten revolutionär und begeisterungsfähig sind, sich vor allem aber etwas zu unternehmen getrauen[1712] Ihre Annahme war nicht verkehrt. Ergab sich am 13. Januar 1943 ein Studententumult im Deutschen Museum, der auch für München in dieser massiven Form vermutlich ungewöhnlich, vielleicht sogar neu war.[1713] Mit dem 13. Januar 1943 entstand kurzfristig eine nicht vorhersehbare Situation. Der Widerstandskreis konnte nicht direkt darauf reagieren, weil zu diesem Zeitpunkt die Flugblätter des V. Flugblatts noch nicht vervielfältigt, der Inhalt des Flugblatts nicht auf die neue Situation abgestimmt und die Briefsendungen noch nicht fertig bearbeitet waren.[1714] Also wurde erstmal so weitergemacht wie ursprünglich geplant. Der Historiker Sönke Zankel macht in seinem Buch deutlich, warum das Ereignis im Deutschen Museum eine besondere Wende für die Geschwister für den 18. Februar 1943 bedeutet haben dürfte.[1715] Dies bekräftigt sich auch durch den Produktionsverlauf und insbesondere durch den Flugblattinhalt von Prof. Kurt Huber[1716] und Christoph Probst[1717]. Doch die studentische Rebellion sollte sich bei der Festnahme von Hans und Sophie Scholl am 18. Februar 1943 in der Universität nicht wiederholen. Sie mussten einen Risikoplan erwogen haben, was tun, wenn… Vermutlich liessen sie sich deshalb ohne Gegenwehr festnehmen. Eigentlich schlau. Wer wegrennt, macht sich verdächtig, tut etwas Unüberlegtes, hat Angst oder hat etwas zu verbergen. Vielleicht in der Annahme, die Studentenschaft ist auf revolutionär gebürstet und wird während der Aktion den Rest schon besorgen. Blieben die Geschwister deshalb absichtlich stehen als keine andere Wahl mehr blieb, um dann einen erneuten Tumult herbeizuführen, um sich darin zu retten? Doch stellt sich alsbald heraus, dass sich die Studenten im Deutschen Museum aus anderen Beweggründen vor ihre Kommilitoninnen gestellt haben dürften und sich mit Staatsdienern brachial anlegten, was zu Verfahren mit schwerwiegenden Konsequenzen hätte führen können.[1718] Ab dem 16. bis 17. Februar 1943 wurden etwa 1110 Studierende über den Postweg für diesen Donnerstag, durch ein Exemplar des VI. Flugblatts ihres Professors, bereits in Kenntnis gesetzt. Ob gezielt vorwiegend Kommilitonen angeschrieben wurden, damit diese wie im Münchner Museum zur Sache gehen? Hinter dieser Ankündigung muss eine Absicht gestanden haben. So bekommen einige aus ihrer Studentenschaft ein Flugblatt durch die Post zugesandt und zwei Tage später ein weiteres durch die Streuaktion in der Universität. Warum? Telefonierten die Geschwister zwecks dieser Vorgehensweise miteinander? Erst die Studentenschaft informieren, um dann zwei Tage später in der Universität zuzuschlagen?

Deutsches Museum, Seitenansicht, Postkarte gelaufen 10.8.1943, Privatbesitz

Abbildung 227: Deutsches Museum, Seitenansicht, Postkarte gelaufen 10.8.1943, Privatbesitz

   Wenn ein solches Telefonat zwischen den Geschwistern (München/Ulm) je stattfand, dann kann dies kaum im Klartext stattgefunden haben oder ein solches Gespräch wurde aus Sicherheitsgründen wegen ungebetener Mithörer anderenorts durchgeführt. Die Geheime Staatspolizei konnte nicht ganz München oder Ulm abhören. Aus der Vernehmungsniederschrift soll Sophie Scholl gegenüber der Geheimen Staatspolizei München erläutert haben: «Jedenfalls haben wir aus diesem Verzeichnis und zwar wahllos etwa 1500 Adressen von Studenten herausgeschrieben, die auf dem Postwege mit den erwähnten Propagandaschriften versorgt wurden…» «…Mir ist nur bekannt, dass verschiedene Angehörige der in der Bergmannschule untergebrachten Studentenkompanie Propagandabriefe von uns erhielten. Die Adressen hat mein Bruder, der dieser Kompanie angehört, geschrieben. Wieviel Briefe an Angehörige der Studentenkompanie hinausgingen, weiss ich nicht. Auch vermag ich nicht anzugeben, ob auch Angehörige anderer Studentenkompanien mit solchen Briefen bedacht wurden. An die Front wurden meines Wissens, ich kann das sogar bestimmt sagen, keine Briefe mit Flugblätter geschickt.»[1719] Ein Teil der errechneten 1110 Briefsendungen erreichte auch Studenten in der Bergmann-Schule. Alexander Schmorell bei seiner Vernehmung zum gleichen Sachverhalt: «Wir nahmen dazu ein älteres Studentenverzeichnis her (ich glaube besass ein solches) und schrieben daraus die Adressen der in München wohnhaften Studenten wahllos ab»[1720] In der Vernehmungsniederschrift wird notiert, "Studenten", doch eindeutig geht nicht hervor, ob damit die Studentinnen weniger gemeint waren, was durchaus ganz bewusst beabsichtigt gewesen sein könnte.

Bergmann-Schule, Gollierplatz und St. Rupertus-Kirche, Postkarte gelaufen 11.8.1910, Privatbesitz

Abbildung 228: Bergmann-Schule, Gollierplatz und St. Rupertus-Kirche, Postkarte gelaufen 11.8.1910, Privatbesitz

    Eine weitere Frage ergibt sich, warum in die Höhle des Löwen, wenn doch eigentlich ein Postversand vollkommen ausreichen würde. Die Gründe dürften sein, sie hatten zu wenig Geld, um die ganze Studentenschaft anzuschreiben und vor allem zu wenig Zeit für eine solch grosse Postauflage. Für eine bahnbrechende Aktion blieb nur die Option in die Universität hineinzugehen und diese unerkannt und unbeschadet wieder zu verlassen. Der Aufwand und die Kosten für eine Aktion in der Universität war geringer als eine grosse Flugblattauflage, dafür nahm das Risiko extrem zu.

    Die Wissenschaft der Sozialpsychologie fand von Ausnahmen und Sonderstellungen abgesehen heraus, persönliche und situationsbedingte Merkmale bestimmen unsere Motivation, ob ein in Not befindlicher Mensch von uns Hilfe erfährt oder nicht. Vereinfacht beschrieben, die Wahrscheinlichkeit, dass die Hilfsbereitschaft eines Menschen zunimmt, ist umso grösser, je weniger Nachteile die helfende Person erfährt, die Situation überschaubar bleibt und verstärkt sich, wenn die Beteiligten sich persönlich kennen. Die Hilfsbereitschaft kann tendenziell sinken, wenn mehrere Personen einem Ereignis beiwohnen, weil sich kaum jemand verantwortlich fühlt und deshalb lieber die Entscheidung den anderen überlässt. In ländlichen Gegenden kann demnach mit einer höheren Hilfsbereitschaft gerechnet werden, als in Städten.[1721] Abwägungen Hilfe zu leisten oder sie zu verwehren, finden meist nicht rational durch Überlegung statt, sondern geschehen eher unbewusst und deshalb nicht unbegründet. Ein klassischer Fall aus dem Alltag wäre, wenn unschuldige Passanten beispielsweise in einer Strassenbahn drangsaliert werden, Fahrgäste nicht einschreiten und stattdessen zum Fenster heraussehen. Deshalb sind immer mal wieder öffentliche Aufrufe zur Zivilcourage zu hören. Schreitet ein, NICHT wegsehen. Würde ein Fahrgast den Anfang machen, weil er die anderen konkret zur Mithilfe aufruft (Sie, Du, Herr, Frau…), kann im Kollektiv der Übergriff auf wehrlose Passanten abgewendet werden.

    Im Deutschen Museum lag am 13. Januar 1943[1722] eine andere Situation vor als am 18. Februar 1943 beim Auslegen der Flugblätter in der Universität. Im Deutschen Museum dürfte der studentische Aufstand nur in zweiter Instanz gegen den nationalsozialistischen Staat vorgelegen haben, weil Studentinnen sich vielmehr gegen die Rhetorik des Gauleiters wehrten.[1723], [1724], [1725], [1726] Jeder, insbesondere die Kommilitoninnen, erlebten gemeinsam die hochgekochte Stimmung und vor allem die damit verbundene Schmach durch den verstiegenen Gauleiter Paul Giesler. Für die Kommilitonen dürfte die Entscheidung einzuschreiten leichter gefallen sein, um sich mit Staatsdienern brachial anzulegen, auch weil sie durch das Tragen ihrer Soldatenuniform in gewisser Weise geschützt waren. In der zweiten Fallbetrachtung war die Situation deutlich schwieriger. Die Studentenschaft kannte sich zumindest innerhalb eines Semesters, wer und wie viele aus den eigenen Reihen hinter dem Unrechtsstaat standen. Dies dürfte die Hilfsbereitschaft am Donnerstag, dem 18. Februar 1943, mitbestimmt haben. Hier war eine Situation gegeben, die sich ganz klar gegen den Staat richtete. Wäre ein Student ausgebrochen und hätte konkret Kommilitonen angesprochen, den Geschwistern während der Festhaltung herbeizueilen, hätte sich vielleicht der Aufstand vom 13. Januar 1943 wiederholen lassen oder die Kommilitonen wären selbst aneinandergeraten. Unmittelbar als der Hausschlosser Jakob Schmid die Geschwister bis zur Verhaftung durch staatliche Kräfte festhält, befinden sich nur zwei Studentinnen, die Hans Scholl nicht gekannt haben soll, in ihrer Nähe.[1727], [1728] Als die Vorlesungen zu Ende waren und die Studentinnen und Studenten die Hörsäle nur teilweise verliessen, dürften nicht alle sofort den Zusammenhang der Verhaftung erkannt haben, aber möglicherweise jene, die bereits per Postsendung das VI. Flugblatt erhielten und solche, denen die Doppeldeutigkeit ihres Professors durch seine Äusserungen während der Vorlesung bekannt war.[1729] An Ort und Stelle der Flugblattauslegung findet ein kurzer Diskurs zwischen Hans und dem Hausschlosser Jakob statt. Umstehende konnten dies sicherlich mitverfolgen. Eine Spontanreaktion durch Studenten blieb dennoch aus und senkte rapide die Möglichkeit eines Aufbegehrens und die Situation nahm ihren tragischen und unaufhaltsamen Verlauf. Keiner fühlte sich angesprochen, weil die Verantwortung beim jeweiligen anderen gesucht oder aus Überzeugung abgelehnt wurde oder die Situation für zu viele Kommilitoninnen und Kommilitonen unklar war. Generell dürften zu wenige der Studentenschaft den Moment der Festhaltung durch den Hausschlosser mitbekommen haben und von den wenigen umgebenden Studentinnen und Studenten wurde ganz offensichtlich keine Hilfe herbeigeholt.[1730] Von einer kleinen Menschenansammlung wäre kaum eine grosse Brachialaktion zu erwarten gewesen, wie noch im Deutschen Museum. Dies stellt eine weitere schwerwiegende Tragik für die Geschwister dar, weil sie aus dieser Situation keinen Vorteil schöpfen konnten. Am Tag der ersten Hinrichtungen fand in der Universität eine Kundgebung mit grossem Beifall und Jubel statt.[1731] Die stattgefundene Situation spricht eher dafür, dass viele der Studentenschaft an diesem Staat Gefallen fanden und sich deshalb sehr wahrscheinlich tendenziell keine Hilfsbereitschaft entwickelt hätte, um die Geschwister vor der Verhaftung zu bewahren. Das wäre wohl nur möglich gewesen, wenn Nationalsozialisten innerhalb der Studentenschaft in deutlicher Minderheit gewesen wären. Im Deutschen Museum lag eine Mehrheit vor, unabhängig der persönlichen politischen Gesinnung, die sich gegen den Gauleiter zur Wehr setzte und nicht explizit gegen den nationalsozialistischen Unrechtsstaat. Ein bitterer Sachverhalt für Hans Scholl und Sophie Scholl. Beide gehörten zu dieser Studentenschaft und beide kannten zumindest aus ihrem Semester die Situation ziemlich genau, wie die meisten aus ihrem sozialen Umfeld über den Krieg und über Adolf dachten. Aus der Sicht von Hans Scholl und Sophie müssen Aspekte vorgelegen haben, die sie annahmen liessen, die lassen uns, wenn was schiefgeht sicher nicht fallen.

    Zwei Aussagen von Else Gebel und Mutter Magdalene reflektieren, wovon die Geschwister für ihre letzte Aktion ausgegangen sein dürften und sich für diese auch ermutigt sahen. Else Gebel berichtet über Sophie Scholl aus der gemeinsamen Zeit während ihrer Inhaftierung in München: «So ein herrlicher, sonniger Tag, und ich muß gehen. – Aber wieviele müssen heutzutage auf den Schlachtfeldern sterben, wie viele junge, hoffnungsvolle Männer …was liegt an meinem Tod, wenn durch unser Handeln tausende von Menschen aufgerüttelt und geweckt werden. Unter der Studentenschaft gibt es bestimmt eine Revolte.»[1732]

    Inge über ihre Mutter beim letzten Besuch ihrer beiden Kinder: «Nun wirst du also gar nie mehr zur Türe hereinkommen», sagte die Mutter Magdalene Scholl. «Ach, die paar Jährchen, Mutter», gab sie zur Antwort. Dann betonte auch sie, wie Hans Scholl, fest und überzeugt: «Wir haben alles, alles auf uns genommen»; und sie fügte hinzu: «Das wird Wellen schlagen.»[1733] Hier kommt einem sofort der Gedanke auf, die Protestaktion im Münchner Museum sollte sich in ihrer Universität wiederholen lassen und deshalb vorweg Wandparolen und der exklusive Postversand, um sich des Protestes sicher sein zu können. Auch wenn die Aussage «Wir haben alles, alles auf uns genommen» so im Wortlaut nicht gefallen sein dürfte, trifft sie zu grossen Teilen dennoch zu. Das belegen die Vernehmungsniederschriften. Die ursprüngliche Aussage dürfte nach dem Krieg etwas umformuliert worden sein, denn mit fortschreitender Vernehmung, waren einige ihrer Freunde und Unterstützer nicht mehr herauszuhalten. Warum sollten Hans Scholl und Sophie Scholl ihre Situation gegenüber ihrer Familie so einseitig dargestellt haben? Dafür ist kein Grund erkennbar. Trotz dessen konnten beide durch Verschweigen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit Leben retten.

    Aus den Vernehmungsniederschriften ist ersichtlich, dass die Strategie der Geschwister Scholl, die zu diesem Zeitpunkt ganz alleine auf sich gestellt sind, zunächst sehr erfolgreich bis in die frühen Morgenstunden gegenüber der Geheimen Staatspolizei aufgeht und das auch ohne die Unterstützung ihrer Kommilitoninnen und Kommilitonen. Mit ihrer Unterstützung hätte allerdings alles ganz anders kommen können, vielleicht wäre ihnen noch ein langes Leben zuteilgeworden. Durch das Ausbleiben der Studentenschaft, war ihr Tod bereits besiegelt. Rückblickend betrachtet, das im Gespräch am 8. Februar 1943 gegenüber Falk von Hans Scholl angeblich angedeutete Finale, kann für den Donnerstag nicht erkannt werden.[1734] Ansonsten hätten sich die Geschwister gegenüber der Geheimen Staatspolizei nicht verteidigen müssen und auch keinen Plan B gebraucht. Darüber hinaus hätte Hans Scholl bereits in der Universität die Balustrade herunterrufen können «Es lebe die Freiheit!»[1735] Das hätte im Nachhinein niemanden verwundert. Entweder sollte ein Finale nie stattfinden, oder der Plan wurde nicht mehr erwogen. Doch dann wurde Hans bei der Geheimen Staatspolizei mit Beweismaterial aus ihrer gemeinsamen Wohnung konfrontiert und muss eingestehen.[1736] Die Risikoplanung versagt an Sicherheitsmassnahmen für die Franz-Joseph-Strasse 13, weshalb? Lieselotte (geb. Berndl), die mit Alexander platonisch eng befreundet war, beschrieb Hans Scholl im Dokumentationsfilm von Katrin Seybold mit den Worten: «Hans war immer der Besonnene, der Planer, der Zurückhaltende und eine leichte Schwermut war in ihm.»[1737] Hatte sich Hans Scholl in binnen weniger Wochen so sehr verändert? Verlor Hans in dieser letzten Lebensphase diese Besonnenheit aufgrund widriger Umstände und konnte deshalb vom gefassten Plan nicht mehr ablassen? Auch dem Gutachter Richard Harder, der die Flugblätter auf die Autorenschaft untersuchte, fiel auf, dass sich nach dem IV. Flugblatt eine Veränderung auftat. «Das politische Gesicht habe sich geändert, der Verfasser sei „behutsamer geworden, unromantischer und bewusster.»[1738] Auch der Historikerin Barbara Beuys fiel der veränderte Schreibstil auf und sie bezeichnete ihn als «stringenter».[1739] Nur ein Teil des Widerstandwerkzeuges wurde zur Sicherheit ins Atelier gebracht.[1740], [1741] Warum der Rotationsvervielfältiger als erstes im Atelier verstaut wird, ist dem hohen Gewicht mit etwa 18 kg geschuldet. Dieser kann nicht unauffällig am helllichten Tag mal eben über die Strasse gehievt werden. Eine Sicherheitsmassnahme wurde eingeleitet, doch wurde diese nicht mehr konsequent zu Ende geführt. Für eine rationale Planung, um weitere Massnahmen zur Absicherung vorzunehmen, soll keine Zeit mehr bleiben. So wurden hochgefährliche Gegenstände ausser Acht gelassen und auch der Flugblattentwurf von Christoph Probst,[1742] der sich bis zu seiner Festnahme in einer Kleidertasche bei Hans Scholl befand.[1743] Er muss vollkommen ausser Acht geraten sein. Vielleicht auch, weil für diesen keine Verwendung mehr vorgesehen war. Briefmarken und schwerbelastendes Material wie Briefe, Adressenlisten, Notizheft der Buchhaltung, 2 Pakete Saugpostpapier, eine der beiden Adressierschreibmaschinen Erika 6, möglicherweise Munition bleiben in der Folge einer Verkettung von Umständen belastend zurück.[1744] Ganze 140[1745] Briefmarken, eigentlich kein Drama, machten einen 1943 sofort verdächtig.[1746] Eine spezifische Schriftanalyse der Schreibmaschine Erika 6 hätte die Weisse Rose alleine betrachtet überführt. Diese Schreibmaschine, Eigentum ihrer Vermieterin, hätte der Widerstandskreis nie einsetzen dürfen. Genau diese Untersuchung führt die KTU nach den ersten Festnahmen durch[1747] und die Untersuchung bestätigt ihre Vermutung.[1748] Weil die Typen der Erika 6 mit auffälligen Merkmalen behaftet waren, wurde die Maschine definitiv zum todbringenden Verhängnis. Vielleicht wurde auch das Farbband der Schreibmaschine, das den Text der Adressaten enthalten konnte, ebenfalls beschlagnahmt. Ein deprimierender Affront ereignet sich am Tag der Hinrichtungen durch eine Veranstaltung in der Ludwig-Maximilians-Universität.[1749] Der Studentenführer fiel seiner Kommilitonin und seinem Kommilitonen perfide in den Rücken. Die Universitätsleitung zeigte sich von einer Seite, die verbal und in ihrer Handlungsweise gegenüber Robert nicht zu überbieten war. Die Anwesenden, ungefähr drei Tausend Studentinnen und Studenten, skandierten den Rednern.[1750] Waren sie Gefangene ihrer selbst oder stand die Mehrheit hinter dem nationalsozialistischen Unrechtsstaat? Sophie Scholl gibt bei ihrer Vernehmung zur Antwort: «Wenn ich in diesem Zusammenhang von revolutionären spreche, dann ist das nicht so aufzufassen, als seien die Studenten in Revolutionsstimmung gegen den heutigen Staat, was ja keinesfalls zutrifft[1751] Dennoch bestand offensichtlich Anlass genug, um aus dem studentischen Aufstand von vor fünf Wochen anzuknüpfen. Hans Scholl lehnt wochenlang eine Unterstützung seiner Schwester bei externen Aktivitäten ab.[1752] Möglich, dass Sophie Scholl ihrem Bruder mittlerweile ihre heimlichen Flugblattstreuungen auch innerhalb der Universität, als Argument um zukünftig bei allem uneingeschränkt mitmachen zu können, gestand. Die Aussage von Hans bei der Geheimen Staatspolizei könnte den Eindruck erwecken, dass die ursprüngliche Planung nicht vorsah, dass Sophie Scholl bei der Streuaktion in der Ludwig-Maximilians-Universität mitwirken sollte.[1753] Laut Überlieferung durch die Geheime Staatspolizei soll Hans Scholl bei seiner Vernehmung erwähnt haben: «Dort angekommen wollte ich zunächst meine Schwester unten am Eingang warten lassen. Schliesslich habe ich es aber doch für zweckmässig gehalten mit meiner Schwester gemeinsam in das Universitätsgebäude hineinzugehen und dort die Verteilung der mitgebrachten Flugblätter vorzunehmen.»[1754] Bei derartigen Aussagen ist nicht immer klar, was wirklich gemeint ist. Bedeutet die Formulierung "zweckmässig" praktikabel oder Schutz der Schwester, indem ihre Mitwirkung heruntergespielt wird. Denn an der Ausarbeitung der Vorgehensweise beider Pläne ist sie massgeblich beteiligt und das zeigt sich wenige Augenblicke später, durch ihr spontanes Verhalten. Sophie Scholl muss wohl die Gunst dieser Gelegenheit genutzt haben und begleitet ihren geliebten Bruder in die Universität. Unabhängig davon, für ein Einigungsgespräch wäre definitiv keine Zeit gewesen. Zu welchem Zweck hätte Sophie Scholl sonst ihren Bruder zur Universität begleiten sollen? Ganz bestimmt nicht um seine Aktenmappe zu tragen. Gegen 10:45 Uhr befinden sich Hans Scholl und Sophie in der Ludwig-Maximilians-Universität in München und verteilen das VI. Flugblatt ihres Professors.[1755] Sie hatten schon fast erfolgreich die Universität verlassen und setzten noch einmal erneut an, um sich noch von einem Rest an Flugblättern zu entledigen, ein tragisches Schnippchen zu viel. Laut Berechnungen hatten die Geschwister ungefähr 1890 Flugblätter zum Auslegen bei sich[1756] und etwa 50 Flugblätter des V. Flugblatts.[1757] Sophie Scholl lässt nach eigener Aussage angeblich einen 5 bis 6 cm hohen Flugblattstapel auf den Lichthof herabfallen. Aus einer Beschlagnahmung von 1300 Flugblättern wurde bekannt, dass der Flugblattstapel eine Höhe von 25 cm hatte.[1758] Durch Umrechnung ergeben sich 1300 25 cm * 5 cm = 260 und 1300 25 cm * 6 cm = 260 Flugblätter. Demnach würden zwischen 260 und 312 Flugblätter den Lichthof herabgefallen sein. Angeblich berichtete ein Beobachtungszeuge, die Anzahl der herabfallenden Flugblätter sei in einer Grössenordnung eines Kollegheftes gewesen.[1759] Hans Scholl wollte hingegen eine Stapelhöhe von 15 cm wahrgenommen haben, dass der 3-fachen Menge entspricht.[1760] Umgerechnet wärn das 1300 25 cm * 15 cm = 780 Flugblätter. Das entspricht 1 ½ Papierpakete à 500 Blatt mit einem Gewicht von 5 g * 780 1000 = 3,9 kg .

    Auf den Stockwerken befinden sich mehrere Hörsäle. So sollen vor dem Hörsaal 201 etwa 80 bis 100 Exemplare ausgelegt worden sein. Gisela Schertling[1761] besucht zur gleichen Zeit eine Vorlesung bei Professor Kurt Huber,[1762] "Einführung in die Philosophie", Hörsaal 201,[1763] Di, Do, Fr 10-11 Uhr.[1764] Aus einem Bericht der Geheimen Staatspolizei geht hervor: «Am 18. Februar legten die Geschwister 1500 – 1800 in der Münchner Universität in Päckchen ab und Sophia warf einen Haufen vom 2. Stock in den Lichthof.»[1765] Stimmt das, was die Geheime Staatspolizei niederschreibt? Würde die Darstellung von Hans Scholl zutreffen, hätten für die Ausstreuung von Flugblättern vor Hörsälen und entlang der Haustreppen noch 1890 − 780 = 1110 Flugblätter zur Verfügung gestanden.

    Für den Fall, dass etwas schiefgehen sollte, gehört zum Plan, dass sich beide ein Flugblatt in die Manteltasche stecken. Gegenüber der Geheimen Staatspolizei teilen sie später mit, sie hätten die Flugblätter in der Universität aufgefunden und sich eines eingesteckt.[1766], [1767] Sie tun genau das Gegenteil von dem, was in einer solchen Situation vermutlich die meisten Menschen tun oder erwarten würden. Die absichtlich inszenierte Vorgehensweise gegenüber der Polizei verschweigen sie. Vielmehr wird richtig sein, beide haben sich die Flugblätter schon in ihrer Wohnung zugesteckt, damit sie sich ganz auf die Aktion in der Universität konzentrieren können. Dass Sophie Scholl vor der Universität während der Aktion warten sollte, muss neu überdacht werden. Warum befand sich dann in ihrer Manteltasche ein Flugblatt? Vermutlich folgte nach dem 5. Februar 1943 oder in den letzten Tagen vor dem 18. Februar 1943 eine Entscheidung oder Planänderung. Warum Hans Scholl hierbei den noch in seiner Manteltasche befindlichen Flugblattentwurf von Christoph nicht bemerkt, könnte bedeuten, dass Sophie Scholl die beiden Flugblätter in ihre und in die ihres Bruders steckte. Die Vorgehensweise erinnert an die Festnahme, die widerstandslos erfolgte. Gehörte beides ebenfalls zum Plan? Mit den Flugblättern im Koffer, vielleicht etwas ungewöhnlich, durch die Universität schreiten, war insoweit relativ unauffällig, weil keiner den Inhalt des Koffers sehen konnte. Die grösste Gefahr bestand bei der unmittelbaren Herausnahme der Flugblätter aus dem Koffer, um diese in den Fluren und Treppen auszulegen. Der Plan, die Universität nach der Entleerung des Koffers unauffällig über die Amalienstrasse zu verlassen, diente für den Fall einer Festnahme, auch als Erklärung für die Mitführung des leeren Koffers und die beiden eingesteckten Flugblätter. Eine solche Vorgehensweise würde wohl kaum jemand vornehmen, doch genau wegen des Widerspruchs zogen sie dies ins Kalkül. Sie belasteten sich absichtlich, um sich so zu entlasten. Eine Parallele zeigt sich auch bei der Anbringung von Wandparolen und durch die Flugblattauslegung in München. Die Aktionen geschehen sehr nahe um die Franz-Josef Strasse 13b, der gemeinsamen Wohnung der Geschwister Scholl. Eigentlich "direkt" vor ihrer Haustüre.[1768] Die Indizien verdichten sich mehr und mehr, dass die Geschwister nicht unvorbereitet die Flugblattstreuung in der Universität vornahmen. Wenig vorstellbar, dass einer der Geschwister ohne Absprache eigenmächtig und unkontrolliert Flugblätter in den Lichthof hinabgeworfen hätte. Einem affektiven Übermut würde ein überproportionales Risiko gegenüberstehen. Die zu erwartenden Folgen wären absehbar. Nur eine koordinierte Aktion durch Absprache, würde das extreme Risiko halbwegs überschaubar erscheinen lassen. Sie dürften über Tage hinweg die genaue Vorgehensweise und damit ihren Plan besprochen haben. Dieser bestand aus einem Rettungsanker und nicht aus einem Opferakt. Zu Beginn ihrer Vernehmung leugnen beide, etwas mit der Aktion in der Universität zu tun zu haben. Hans Scholl teilt zunächst mit, er habe angeblich keine Flugblätter von der Balustrade in den Lichthof herabfallen lassen und gibt darüber hinaus an «Ich hatte keine Gelegenheit meine Schwester darüber zu befragen…»,[1769] ob sie die Flugblätter von der Balustrade in den Lichthof herabfallen liess. Die Geheime Staatspolizei würde seine Mitteilung sicherlich überprüfen. Was hätte Sophie Scholl geantwortet? Hans Scholl muss die Antwort gekannt haben, auch weil er sie schon von seiner Schwester gegenüber dem Hausschlosser hörte.[1770] Er hätte seine Schwester bei der Geheimen Staatspolizei nicht unvorbereitet kompromittiert, denn bei jeder Gelegenheit, die sich ihm bietet, stellt er sich schützend vor seine Schwester. Gleiches Verhalten zeigt Hans Scholl, als er bei seiner Vernehmung seinen Freund Willi Graf und dessen Schwester Anneliese Graf, vermutlich beabsichtigt, sehen konnte, um festzustellen, ob sie sich kannten und daraufhin laut gegenüber der Geheimen Staatspolizei gesagt haben soll: «Was wollt ihr denn mit denen da?»[1771] Aufgrund seiner Reaktion konnten die Geschwister entnehmen, er kenne sie nicht und soll heissen, Hans Scholl habe nichts über die beiden bei seiner Vernehmung ausgesagt.

    Hans Scholl sei angeblich von der Flugblatt-Streuung in den Lichthof überrascht worden, bringt Sophie Scholl zur Entlastung ihres Bruders ein. Anschliessend beantwortet Sophie Scholl die Frage ihres Bruders: «Als ich die Flugblätter oben im 2. Stock. auf dem Geländer aufgeschichtet liegen sah, wusste ich sofort, dass es sich hier um die gleichen Flugblätter handeln müsse, wie sie zuvor von mir und meinem Bruder auf der Treppe und im Flur im 1. Stock gefunden wurden. Im Vorbeigehen habe ich den auf dem Geländer aufgeschichteten Flugblättern mit der Hand einen Stoss gegeben, sodass diese in den Lichthof hinunterflatterten.»[1772] Tabelle 66 spiegelt den Verlauf der Vernehmung von Hans Scholl und Sophie bei der Geheimen Staatspolizei in München wider.

Leugnung gegenüber der Geheimen Staatspolizei
Hans Scholl Sophie Scholl
Es stimmt nicht, dass ich die Flugblätter in meinem Koffer zur Universität gebracht und dort vom zweiten Stock aus in den Lichthof geworfen habe. Hierbei möchte ich ausdrücklich erwähnen, dass ich diesen Koffer von meiner Wohnung bis zur Festhaltung durch Schmied ständig selbst getragen habe.[1773] Vom Verlassen der Wohnung bis vor das Universitätsgebäude, hat meines Wissens mein Bruder den Koffer getragen. Innerhalb des Gebäudes haben wir den Koffer abwechselnd getragen, genau weiss ich das nicht mehr.[1774]
Nämlich auf der Ballestrade im 2. Stock, in der Nähe des Pfeilers an der Treppe habe ich im Vorbeigehen einen Stoss von 15 cm Höhe bemerkt. Als ich etwa 5 m weitergegangen war, hörte ich auf einmal einen Klatsch, der offensichtlich von dem Herunterfallen und Aufprallen der Flugblätter in den Lichthof herrührte. Meiner Ansicht nach, muss um die gleiche Zeit der Stoss Flugblätter von einer Person über die Ballestrade hinabgestossen worden sein. Ich habe dies nicht getan. Ich weiss auch nicht, ob dieser Stoss Flugblätter meine Schwester hinabgestossen hat, jedenfalls habe ich dies nicht beobachtet. Wenn sie es getan hat, so kann ich es durchaus verstehen, denn derartige Scherze liegen in ihrer Natur. Ich hatte keine Gelegenheit meine Schwester darüber zu befragen, denn unmittelbar darauf kam der Hausschlosser Jakob Schmied und kündigte mir die Festnahme an.[1775] Als wir im 2. Stock angelangt waren, bemerkte ich, dass auf dem Marmorgeländer, das den 2. Stock vom Lichthof abgrenzt, ein Stoss Flugblätter lag, der eine Höhe von ungefähr 5-6 cm hatte… …Als ich die Flugblätter oben im 2. Stock. auf dem Geländer aufgeschichtet liegen sah, wusste ich sofort, dass es sich hier um die gleichen Flugblätter handeln müsse, wie sie zuvor von mir und meinem Bruder auf der Treppe und im Flur im 1. Stock gefunden wurden. Im Vorbeigehen habe ich den auf dem Geländer aufgeschichteten Flugblätter mit der Hand einen Stoss gegeben, sodass diese in den Lichthof hinunterflatterten. Mein Bruder wurde auf diese Flugblätter erst aufmerksam, als sie bereits im Lichthof in der Luft flatterten.[1776]

Tabelle 66: Aussagen aus den Vernehmungsniederschriften von Hans Scholl und Sophie Scholl zur Flugblatt-Verbreitung von der Balustrade in den Lichthof der Ludwig-Maximilians-Universität München am 18. Februar 1943

    Der Hausschlosser machte seinen üblichen Kontrollgang durch die Universität und als er von einer oberen Treppe den Lichthof erreicht, fielen ihm die Flugblätter auf und er begab sich in den 2. Stock. «Ich war also schon nach etwa einer Minute auf dem Gang im 2. Stock und habe dort einen unbekannten Studenten und eine unbekannte Studentin den Gang entlang gehen gesehen… …Ich bin sofort auf die Beiden zugegangen und habe ihnen ohne Umschweife gesagt, daß sie mit mir kommen müßten. Dieser Aufforderung kamen sie auch nach. Ich habe ihnen dann gesagt, daß sie soeben dieses Papier hinabgeworfen hätten…Als ich die Beiden im Gang des 2. Stockwerkes angetroffen habe, trug die Studentin einen rötlichen Handkoffer bei sich. Diese Studentin war es auch, die mir gegenüber ohne weiteres zugegeben hat, den Stoß Papier in den Lichthof hinabgeworfen zu haben.»[1779] Interessant ist hierbei die spontane Reaktion mit der Sophie Scholl die Situation kontert und die der Hausschlosser Jakob gegenüber der Geheimen Staatspolizei bestätigt. Für Sophie Scholl lag keine Veranlassung gegenüber dem heraneilenden Hausschlosser vor, sich in diesem Moment für herabgefallene Flugblätter in den Lichthof rechtfertigen zu müssen. Aufgrund ihrer vorbereiteten Antwort, dürfte im Falle einer drohenden Festnahme festgestanden haben, nicht wegzulaufen, sofern sich daraus ein Vorteil ergeben würde. Hans Scholl sah den heraneilenden Hausschlosser frühzeitig.[1780] Während der Hausschlosser sich bis zum 2. Stock begibt, verweilen die Geschwister dort und machen sich nicht auf die Flucht. Möglicherweise wollten sie ohnehin nach geglückter Aktion mit Gisela im 1. Stock zusammenkommen und/oder warteten das Vorlesungsende ab, um mit ihren Kommilitoninnen und Kommilitonen unbehelligt die Universität zu verlassen. Um nicht aufzufallen, so der Eindruck, warten sie nach erfolgreicher Aktion bis zum Vorlesungsende im 2. Stock. Jakob Schmid, für den alles schon geklärt erschien zum Vorgang: «Von meinem Standort aus, konnte ich nicht an die Abwurfstelle hinschauen. Ebenso war es auch ganz unmöglich, daß mich jemand ohne weiteres sehen konnte, der sich auf dem Gang im 2. Stock aufgehalten hat… …Nach der ganzen Sachlage kann das Papier aber nur von den Beiden herabgeworfen worden sein… …Da die betr. Studentin einen leeren Handkoffer bei sich hatte, wohin die abgeworfenen Flugblätter mengenmäßig genau hineinpassen, kann kaum ein Zweifel darüber bestehen, dass die Beiden die fraglichen Flugblätter selbst in die Universität hineingebracht und dort in den Lichthof hinabgeworfen haben.»1779 Laut den Vernehmungsniederschriften wurden die Geschwister vom Hausschlosser nicht gefragt, ob sie Flugblätter von der Balustrade herabwarfen. Anzunehmen wäre, dass die Antwort von Sophie Scholl vielmehr zum Plan B gehörte. Merkwürdig ist an der Situation, Hans Scholl unternimmt erst einmal gar nichts, um seiner Schwester beizustehen. Auch wenn sich für ihren Freiheitskampf nicht jedes Detail beweisen lässt, bleiben dennoch spannende Indizien zurück. Feststeht, dass vom 2. Stock der Balustrade ein Flugblatt-Abwurf in den Lichthof stattfindet, der aufgrund der inszenierten Darstellung zuvor zwischen Hans und Sophie Scholl abgesprochen sein musste und sich nicht erst zufällig als Aktion in der Universität plötzlich entwickelt haben dürfte. Dafür spricht die spontane Reaktion von Sophie Scholl gegenüber dem Hausschlosser. Für den Fall, dass der Flugblatt-Abwurf misslingt, kann Sophie Scholl glaubhaft die Situation entkräften, sie habe im Übereifer beim Vorbeigehen einen aufgeschichteten Flugblatt-Stapel in den Lichthof befördert. Sie waren mit dieser Schutzbehauptung fein raus. Doch das belastende Beweismaterial in ihrer Wohnung macht diesen Vorsprung bald und auf tragische Weise wieder zunichte. Die Idee hat schon etwas ganz Besonderes für sich. Die abgeworfenen Flugblätter verteilen sich über eine grosse Fläche des Lichthofs und ziehen magisch an. Und genau das ist das Trügerische und Brandgefährliche, was die Balustrade betrifft. Die Wahrscheinlichkeit ist zwar gut bestellt, dass vielleicht doch einige aus der Studentenschaft, während sie die Hörsäle verlassen, ein solches Flugblatt vom Lichthof erhaschen. Doch geht damit ein kaum kalkulierbares Risiko einher. Nachdem beide in der Nacht ihre Handlung nicht mehr leugnen können, ergibt sich ein etwas anderes Bild. Den Geschwistern dürfte bewusst gewesen sein, wie gefährlich die Aktion enden könnte, wenn sie von der Balustrade Flugblätter in den Lichthof heruntersegeln lassen. Vom 2. Stock sind die unteren Nischen, Gänge, Winkel und Saalzugänge grösstenteils nicht einsehbar. Bis jemand den 2. Stock erreicht, können sich dort währenddessen Hausbedienstete, Studentinnen und Studenten unverhofft aufhalten und beim Herabregnen von Flugblättern auf diese unmittelbar aufmerksam gemacht werden. Jeder, der die Aktion mitbekommt, wird unweigerlich hochsehen woher die Blätter kommen. Anzunehmen, dass sich die Geschwister Scholl im Vorfeld die Möglichkeiten innerhalb der Universität ganz genau angesehen und besprochen haben. Die Balustrade kann sich schnell als Todesfalle erweisen. Wer sich den Innenbereich der Universität einmal näher ansieht, erkennt die Tücken im Detail. Sie brauchen eine plausible und deckungsgleiche Erklärung für den Fall, wenn sie, in Zusammenhang mit dem Flugblattabwurf von der Balustrade, entdeckt werden würden. Und sie müssen sich ihrer Absprache bedienen und reagieren wie abgesprochen. Die Geschwister lassen sich angesichts der Vernehmungsniederschriften bei der Geheimen Staatspolizei nicht aus der Fassung bringen. Ihr Verhalten gleicht dem ihrer Festnahme. Die Situation und die Antwort von Hans Scholl «Ich hatte keine Gelegenheit meine Schwester darüber zu befragen…»[1781] dürfte bewusst gefallen sein. Beide Geschwister belasten vielfach sich selbst, um den anderen zu entlasten. Dieses Schutzverhalten dürfte nicht zum Plan B gehört haben und spricht vielmehr für Geschwisterliebe. Nachdem die Geschwister bei der Geheimen Staatspolizei die ihnen zur Last gelegten Anschuldigungen eingestehen müssen, schildern sie die Vorgehensweise an der Balustrade. Sophie Scholl: «Innerhalb des Universitätsgebäudes trug mein Bruder den Koffer, während ich die Flugblätter an den verschiedensten Orten ablegte, oder ausstreute. In meinem Übermut oder meiner Dummheit habe ich den Fehler begangen, etwa 80 bis 100 solcher Flugblätter vom 2. Stockwerk der Universität in den Lichthof herunterzuwerfen, wodurch mein Bruder und ich entdeckt wurden.»[1782] Flugblätter wurden herabgeworfen und nicht auf der Balustrade abgelegt. Diese "Dummheit" über die sie spricht, passt nicht so recht ins Gefüge, hat möglicherweise dennoch eine Bedeutung für sie. Sophie Scholl übernimmt die Verantwortung. Was sie nicht wissen kann, ihr Bruder begegnet ihr auf gleiche Weise. Hans Scholl: «Wir gingen von da weg zum 2. Stock (linke Seite) wo ich über die Brüstung weg, den Rest meiner Flugblätter in den Lichthof geschüttet habe.»[1783] Wer am Abwurf von Flugblättern an der Balustrade beteiligt ist, einer oder beide, lässt sich aufgrund der Geschwisterliebe nicht eindeutig feststellen. Zu eng sind ihre Aussagen miteinander verschmolzen. Hans Scholl erweckt den Eindruck, dass er sich wiederum schützend vor seine Schwester stellt, doch weil Sophie Scholl gegenüber dem Hausschlosser ungeniert eingesteht, einen Stapel Flugblätter von der Balustrade in den Lichthof angeblich hinabgestossen zu haben, spricht die Situation vielmehr für eine abgesprochene Vorgehensweise und für abgesprochene Antworten. Anzunehmen, vermutlich werden beide an der Balustrade ihren Teil dazu beigetragen haben.

    Rückblickend lässt sich feststellen: Sie beginnen am oder nach dem Treppenaufgang des 1. Stockwerks vor dem Vorlesungssaal 201 mit der Flugblattauslegung und setzen diesen entlang des Ganges fort und begeben sich, mit einem grossen Rest an Flugblättern im Koffer, allmählich im Erdgeschoss wieder zum Ausgang, wo sie ebenfalls Flugblätter ablegen.[1784], [1785] Entweder waren Hans Scholl und Sophie Scholl auch im 2. Stock, wobei dies mit vielen Flugblättern im Koffer geschehen wäre und für den Rückweg der Plan B im Fall einer Festnahme nicht funktionieren würde, oder nach einer Kontrolle vom 1. Stock wurde bereits beschlossen, keine Flugblätter in den Lichthof von der Balustrade abzuwerfen, weil der Lichthof oder einer der Quergänge nicht menschenleer war. Trotzdem, dass beide den Ausgang zur Amalienstrasse schon sicher erreichen, verlassen sie die Universität nicht, sondern kehren zurück, legen im Bereich des 1. Stockwerks weitere Flugblätter aus, gehen weiter in den 2. Stock und lassen von dort Flugblätter von der Balustrade in den Lichthof herunterfallen. Weil im Erdgeschoss bereits Flugblätter liegen, erhöht sich das Risiko entdeckt zu werden. Hinzukommt, dass wertvolle Zeit auf dem Weg zum 2. Stockwerk verloren geht, weil sie das 1. Stockwerk, vielleicht auch das 2. Stockwerk, zweimal durchlaufen müssen und im 1. Stock nochmals Flugblätter ablegen. Aufgrund der Abläufe muss eine ursprüngliche Planung vorgesehen haben: Kontrolle, dass sich niemand im Lichthof und in den oberen Stockwerken und dessen Nischen befindet, beginnend im 1. Stockwerk Flugblätter ablegen, sich allmählich zum 2. Stockwerk begeben, dem eine weitere Kontrolle folgt, ob der Lichthof frei für eine Aktion ist und anschliessend den Rest an Flugblättern über die Balustrade abwerfen, «sodass diese in den Lichthof hinunterflatterten[1786] Mit leerem Koffer soll die Universität über den Ausgang zur Amalienstrasse unauffällig und sicher verlassen werden. Weil der Koffer zum Verlassen der Universität leer sein muss, würden im Erdgeschoss dann keine weiteren Flugblätter mehr ausgelegt werden können. Eine absichtlich in Kauf genommene Festnahme durch Bedienstete der Universität ist nicht erkennbar. Sollte eine Festnahme unumgänglich werden, eilen für diese Situation sicherlich die Studenten herbei, um einer Festnahme zuvorzukommen. Würde die aus Indizien und nur zu einem kleinen Teil an Hypothesen bestehende Rekonstruktion zutreffen, lässt sich daraus folgern, dass alle in der Planung durchdachten Szenarien, die bei der Aktion eintreten könnten, alle nacheinander eintreffen, bis auf die Tatsache, dass ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen sie im Stich lassen. Nicht auf dem Weg zum Ausgang, sondern im 2. Stockwerk werden sie vom Hausschlosser aufgehalten. Sie lassen sich festnehmen und wehren sich nicht. Für den Notfall sind sie dennoch bestens vorbereitet und ihr Plan B funktioniert sogar. Sie reagieren auf alles, was dann auf sie zukommen wird, blitzgescheit.

    Ein Detail konnte von Hans Scholl und Sophie nicht erahnt werden, das sie später bei der Geheimen Staatspolizei erklären müssen. Dies betrifft die Höhe des Flugblatt-Stapels, der auf der Balustrade angeblich vorgelegen habe, wenn dieser überhaupt auf dem Marmorgeländer je abgelegt wurde. Die Stapelhöhe wollen die Vernehmungsbeamten ganz genau wissen. Die Beamten suchen ganz gezielt nach Widersprüchen. Lediglich hier differieren ihre Aussagen, die ansonsten schlüssig sind. Sophie Scholl bezifferte zuerst eine Stapelhöhe von 5 cm (260 Flugblätter) bis 6 cm (312 Flugblätter), zu einem späteren Zeitpunkt werden 80 bis 100 Flugblätter protokoliert. Diese haben eine Stapelhöhe zwischen 25 cm 1300 * 80 = 1,54 cm und 25 cm 1300 * 100 = 1,92 cm . Hans Scholl gibt eine Stapelhöhe von etwa 15 cm an. Hier dürfte etwas nicht zutreffend sein, zu gross sind die Unterschiede ihrer Aussagen. Wie viele Flugblätter für den Lichthof vorgesehen waren, wurde sicherlich besprochen. Ob die Vernehmungsbeamten am Sachverhalt etwas konstatieren, geht aus den Vernehmungsniederschriften nicht hervor.

    Zunächst dürften sie den gefassten Plan an der Balustrade nicht umgesetzt haben. Bestimmt lag eine Absprache vor, unter welcher Voraussetzung Flugblätter von der Balustrade abgeworfen werden, denn wenn sich jemand im Lichthof oder in der Nähe davon oder in den oberen Stockwerken aufhalten würde oder von dort Stimmen wahrnehmbar wären, macht eine Aktion von der Balustrade keinen Sinn. Das entstehende Risiko wäre dann fast nicht mehr zu überbieten. Zuerst musste ein vollumfänglicher Kontrollgang stattgefunden haben. Das Treppenhaus musste bis zum 1., vielleicht auch bis zum 2. Stock frei für eine Auslegung von Flugblättern gewesen sein. Sie entschliessen sich am Ende doch noch ihrer Aktion die Krönung in Mitten ihrer Universität zu verleihen. Möglicherweise lag im Lichthof und Umgebung des Lichthofs erst zu diesem Zeitpunkt, als sie eigentlich die Universität verlassen wollten, völlige Menschenleere vor. In letzter Sekunde soll noch der ursprüngliche Plan an der Balustrade vollzogen werden. Dies wäre die logische Schlussfolgerung aus dem vorliegenden Sachverhalt.

München Universität von der Leopoldstrasse, Postkarte ungelaufen, links von der Lit-fasssäule wurde am 3./4. Februar 1943 eine Wandparole angebracht, Foto: Kunstanstalt München: Fried-rich Josef Maria Rehse, Privatbesitz

Abbildung 229: München Universität von der Leopoldstrasse, Postkarte ungelaufen, links von der Lit-fasssäule wurde am 3./4. Februar 1943 eine Wandparole angebracht, Foto: Kunstanstalt München: Fried-rich Josef Maria Rehse, Privatbesitz

Gefährlich war am Flugblatt-Abwurf ohnehin, dass sich damit der Rückzug unweigerlich erschweren könnte, wenn die Aktion beobachtet wird, so auch geschehen. Der herannahende Hausschlosser kann während er sich in den 2. Stock begibt nicht sehen, wer Flugblätter von der Balustrade in den Lichthof abwirft.[1787] Für diese Situation brauchen beide glaubwürdige Antworten zur Rechtfertigung, mit der Sache nichts zu tun zu haben. Die eingesteckten Flugblätter verdeutlichen nochmals den Plan B durch ein abgesprochenes Szenario. Der Plan B kann nur für den Fall glücken, wenn nach dem Flugblatt-Abwurf in den Lichthof der Koffer absolut leer ist und sie sich durch Blicke in den Lichthof möglichst nicht zu erkennen geben. Denn mit dem Abwurf nahm das Risiko exorbitant zu und machte den Abgang über die Treppe zum Ausgang der Universität enorm schwierig. Eine Festnahme im letzten Moment sollte, in Anlehnung des bekannten Sachverhalts, sicherlich vermieden werden. Der Rückweg braucht deshalb eine erklärbare und glaubwürdige Absicherung. Nur unter dieser Bedingung können später gegenüber der Geheimen Staatspolizei die ihnen zur Last gelegten Anschuldigungen erfolgreich geleugnet werden. Später bei ihrer Vernehmung wird Sophie Scholl bei ihrer Verteidigungsstrategie gegenüber der Geheimen Staatspolizei sagen: «Mein Bruder, der über die Flugblätter lachte, steckte seines in die Tasche, während ich meines in meine Mappe oder meine Manteltasche eingesteckt habe.»[1788] und «Mein Bruder und ich gingen im gemächlichen und langsamen Schritt die Treppen hinauf, haben unterwegs, wie bereits angegeben, Flugblätter aufgehoben und im Weitergehen, flüchtig gelesen, wodurch sich unsere Gangart noch etwas verlangsamte. Später hatte ich es jedenfalls in der Manteltasche stecken.»[1789] Parallel zum Sachverhalt Hans Scholl: «Von diesen Flugblättern habe ich auch eines aufgehoben und in die innere Rocktasche gesteckt, ohne es zu lesen. Erst später, und zwar solange ich nach meiner Festnahme heim Syndikus warten musste, habe ich dieses Flugblatt gelesen.»[1790] Beide kannten den Inhalt ihrer Flugblätter V und VI zu genüge und mussten diese deshalb nicht erst noch ausgiebig studieren. Als gesichert dürfte gelten, Hans und Sophie Scholl haben sich bei ihrer Planung zum Flugblattabwurf von der Balustrade in den Lichthof ausgiebig abgesprochen. Sicherer wäre die Aktion von der Balustrade möglich gewesen, wenn zwei den Lichthof der Universität beobachtet hätten und so tun, als ob sie sich unterhalten, einer sich als Warnzeichen einen Hut aufsetzt, oder wie das auf vielen Fotos vom Widerstandskreis zu sehen ist, sich eine Pfeife zum Mund führt, eine Person im Blickkontakt mit ihnen steht und der vierten Person, die Flugblätter verteilt, Anweisungen gibt. Würde eine gefährliche Situation eintreten, hätte dies sofort signalisiert werden können, um die Aktion abzubrechen und sich als Unbeteiligte darzustellen oder eine der seitlichen Treppenabgänge zur Flucht zu nehmen. Setzt allerdings voraus, dass sich keine Belastungsmaterialien in ihren Wohnungen befinden. Doch Alexander Schmorell und Willi Graf werden bei der Aktion in der Universität nicht einbezogen. Eine solche Vorgehensweise wäre für alle Beteiligten sicherer gewesen, wenn dennoch gefährlich genug. Bei der Aktion in der Universität ergibt sich eine unscheinbare Auffälligkeit. Hans Scholl erwähnt bei seiner Vernehmung, dass vor dem Hörsaal 201 80 bis 100 Flugblätter ausgelegt worden seien, Sophie Scholl hingegen gibt an, sie habe 80 bis 100 Flugblätter von der Balustrade den Lichthof herunterfallen lassen. Vielleicht hat einer der Geschwister ein zuvor abgesprochenes Detail verwechselt. Eine andere Möglichkeit bestünde darin, dass die Vernehmungsbeamten untereinander die Aussagen abschrieben und sich dabei ein Fehler einschlich. Einen kurzen Augenblick danach werden die Geschwister durch den Hausschlosser Jakob Schmid[1791] festgehalten, was das tragische Ende des Weisse Rose Widerstandes mit Todesurteilen und Hinrichtungen einleitet.

München Stadtkarte von 1894, Franz-Joseph-Strasse 13b, Entfernung zur Universität etwa 1000 Meter, Privatbesitz

Abbildung 230: München Stadtkarte von 1894, Franz-Joseph-Strasse 13b, Entfernung zur Universität etwa 1000 Meter, Privatbesitz

München, Franz-Joseph-Strasse 13b, in unterer Stockwerkebene lebten die Geschwister Scholl, Privatedition

Abbildung 231: München, Franz-Joseph-Strasse 13b, in unterer Stockwerkebene lebten die Geschwister Scholl, Privatedition

    Die Flugblatt-Auslegung in der Universität stand kurz vor einem grandiosen Erfolg. Sogar trotz des enormen Risikos, das die Geschwister bereit waren, auf sich zunehmen. Lediglich die Beweisgegenstände hätten nicht mehr in ihrer gemeinsamen Wohnung sein dürfen. Mit der Verlagerung der Gegenstände, hätte sogar doppelte Sicherheit bestanden. Dann tritt der einkalkulierte Zwischenfall ein. Ihre Erklärungen gegenüber der Geheimen Staatspolizei übertreffen alles Vorstellbare. Die Gerichtsakten bezeugen ihre überwältigende Verteidigungsstrategie. Ihr grandioser Plan B funktioniert und versagt wegen einer Kleinigkeit mit sehr grosser Auswirkung. Dass sie ihrem Ziel zum Anfassen nahekamen, dürfte sie ihre letzten Lebensstunden begleitet haben. Hoch anerkennend, Hans Scholl und Sophie hatten einen durch und durch ausgeklügelten und raffinierten Plan ausgearbeitet, der zu damaliger Zeit in seiner Ausführung unglaublich lebensgefährlich und von absoluter Courage begleitet war. Wie mir scheint, hat die Welt dies so noch gar nicht richtig wahrgenommen. Halten Beteiligte bei einer beabsichtigten "Straftat" den Erfolgseintritt für sicher, dann sprechen Juristen von "Direktem Vorsatz". Sie wussten ganz genau, was sie tun wollten und kannten das extreme Lebensrisiko und die Gewissheit der möglichen Folgen. Das bezeugen ihre Aussagen bei der Geheimen Staatspolizei, die auf Seite 571 unter "Zitate" gleich zu Beginn wiedergegeben werden. Tiefe Überzeugungen müssen in der Sache vorgelegen haben. Von Leichtsinn zu sprechen, würde ihnen nicht gerecht werden, denn ihrer letzten Aktion lag ein durchdachter Plan gegen den nationalsozialistischen Unrechtsstaat zugrunde. Ihr aussergewöhnlicher Mut zur Freiheit und Mut für eine bessere Welt zeichnet sie in besonderer Weise ganz persönlich aus.

    Unklar bleibt, warum Gisela am 18. Februar 1943 bei der Geheimen Staatspolizei in München zu Protokoll gegeben haben soll, dass 1 ½ Wochen zuvor jene letzte Flugblatt-Herstellung stattgefunden habe, die sich am 12. Februar 1943 ereignete.[1792] Gisela berichtete sehr detailliert über den Tag des 15. Februar 1943. Durch ihre Beschreibung konnte dieser wichtige Tag erst in seiner Bedeutung zusammen mit dem Vortag bezüglich der nächtlichen Adressierung erkannt werden. Dieser Schlüsseltag ist insofern wichtig, weil er den Eindruck erweckt, alles läuft bereits ab dem 14. Februar 1943 auf eine Flugblattauslegung in der Universität hinaus, sehr wahrscheinlich sogar an einem dafür vorgesehenen Tag und deshalb darf keine Zeit verlorengehen. Etwa 1 ½ Wochen zurückgerechnet, könnte auf den Dienstag 8. Februar 1943 zutreffen, an dem wie bereits erwähnt Hans Scholl in der Geschwister Wohnung seinen Professor Kurt Huber, Falk Harnack, Alexander Schmorell und Willi Graf für ein Gespräch zu Gast hatte.[1793] Gisela wusste davon.[1794] Am nächsten Tag des 9. Februar 1943 wollte Gisela ihren Geburtstag gebührend feiern, für den Hans Scholl vermutlich nur wenig Zeit[1795] erübrigen konnte. Von Hans Scholl ist bekannt, dass er mit Willi Graf vom 8. auf den 9. Februar 1943 Wandparolen in München anbrachte.[1796], [1797] Hans Scholl versprach Gisela schöne Ski-Wochenenden und sprach vom Verreisen mit ihr. Doch zum Geburtstag von Gisela wird dies offensichtlich nicht einlösbar.[1798] In dieser Zeit war Hans Scholl alleine, seine Schwester Sophie Scholl immer noch in Ulm bei den Eltern. Sofort nachdem sie am 14. Februar 1943 zurück ist, zeigt ihr Hans Scholl das neue Flugblatt ihres Professors.[1799] Der endgültige Plan wird vermutlich nur unter den Geschwistern konkretisiert besprochen, ohne dass die Nachwelt je davon erfahren wird. Hans Scholl und Alexander Schmorell einigten sich am 11. Februar 1943[1800], [1801] über kleine Abänderungen am Flugblattentwurf ihres Professors und gehen die Umsetzung an.[1802] Hans Scholl und Sophie Scholl haben zum 18. Februar 1943 in dieser Phase des Widerstands zu wenig auf ihren Eigenschutz geachtet. Ein natürlicher Selbstschutz zur Erhaltung des eigenen Lebens. Den Geschwistern konnte nicht entgangen sein, dass sie höchst gefährliches Material inmitten ihrer gemeinsamen Wohnung verwahrten. Ein kleines Detail bei der Eigensicherung ausser Acht zu lassen, wäre vollkommen nachvollziehbar, nur die Munition, das Buchhaltungsheft, eine Adressenliste, Briefmarken, persönliche Briefe, Saugpostpapier, den Flugblattentwurf von Christoph Probst.[1803] Schlichtweg unvorstellbar, dass dies alles in der Summe nicht mehr im Bewusstsein gewesen sein konnte. So erübrigt sich die Sicherungsverwahrung der anderen Widerstandswerkzeuge im Keller des Ateliers. Sie haben die restlichen Beweisgegenstände liegen lassen und verliessen ihre vollkommen belastete gemeinsame Wohnung. Was hat sie so gleichgültig gemacht, dieses extrem grosse und unkalkulierbare Risiko einzugehen? Kein intakter Mensch würde sich ohne ersichtlichen Sinn freiwillig zu solch einem Himmelfahrtskommando hinreissen lassen, wenn nicht absolut triftige Gründe vorliegen würden.

    Hans Scholl besteht Mitte Januar 1941 unter Kriegsbedingungen sein Physikum mit der grandiosen Note sehr gut/gut.[1804] Hans Scholl hielt den Widerstandskreis zusammen, an dem sich seine Begleiter des inneren Kerns orientierten.[1805] Alexander Schmorell musste mit seinem Freund Hans Scholl erst noch etwas zu Ende bringen, bevor er sein geliebtes Russland aufsucht.[1806], [1807] Auch Willi Graf dürfte von Hans Scholl überzeugt gewesen sein und hielt deshalb am Widerstand fest. Unermüdlich sucht Willi Graf, wenn auch meist enttäuschend, auf seinen Reisen nach Unterstützern. Christoph schreibt auf Bitten durch Hans Scholl einen Flugblattentwurf. Etwa 6 Wochen verstrichen, als Christoph plötzlich einen Entwurf vorlegt. Möglich, dass Christoph im ersten Moment von einer Flugblatt-Verbreitung nicht so sehr inspiriert war.[1808] Und auch ihr Professor Kurt Huber bringt sich mit einem eigenen Flugblattentwurf ein, das im Juli 1943 von der Royal Airforce mit einer Auflage von 5,32 Millionen Exemplaren über Deutschland abgeworfen wurde.[1809] Alle Fäden laufen bei Hans Scholl zusammen. Dies soll einst Josef Söhngen formuliert haben.[1810] Was hat an diesem Donnerstagmorgen, den 18. Februar 1943, nach dem gemeinsamen Aufstehen alles scheinbar vergessen gemacht und das tragische Ende herbeigeführt?

    Um 8:30[1811] Uhr oder 9:00[1812] Uhr sind die Geschwister aufgestanden und verliessen gegen 10:30 Uhr ihre Wohnung. Gegen 10:45 Uhr erreichten sie die Universität. An der Eingangstüre der Universität kommen ihnen Traute Lafrenz und Willi Graf entgegen, sie wechseln das Gebäude, um an einer anderen Vorlesung teilzunehmen. Sie tauschen sich kurz aus.[1813] Deutlicher hätte die Warnung an Hans Scholl und Sophie Scholl in diesem Moment nicht sein können. Weitere Personen könnten die Vorlesung, die Universität, vielleicht sogar aus gleichen Gründen wie Traute Lafrenz und Willi verlassen. Sie machen weiter, vielleicht wurde das zuvor explizit vereinbart, wie sie mit unvorhergesehenen Situationen verfahren würden. Jederzeit hätte eine Türe aufspringen können. Noch nie zuvor hat jemand aus dem Widerstandskreis den Eigenschutz so lebensgefährlich herausgefordert. Sie waren sonst immer bei Dunkelheit aktiv. Sie befinden sich sogar auf erfolgreichem Rückzug und setzten ein verhängnisvolles zweites Mal an. Für diese hochriskante Ausstreuung in der Universität geben Hans Scholl und Sophie Scholl ihre Rückzugsmöglichkeit in der Franz-Joseph-Strasse auf, denn dort befindet sich nach wie vor schwerwiegendes Belastungsmaterial. Im Falle einer Festnahme hilft nichts mehr. Alles ist auf Erfolg gesetzt. Sie verteidigen sich zunächst vor der Geheimen Staatspolizei erfolgreich. Eine Haussuchung war abzusehen und es war nur eine Frage der Zeit, bis ihnen das Beweismaterial zur Last gelegt werden würde. Beide kannten die Vorgehensweise einer Haussuchung aus Ulmer Zeit und als Vater Robert den "Führer" eine Gottesgeisel in Anwesenheit seiner Sekretärin nannte und dies der Polizei meldete.[1814] Vergleich: Während der Vater sich für seine Aussage verantworten muss, schafft unterdessen, im Beisein von Traute Lafrenz, Sophie Scholl belastendes Material aus ihren Münchner Studentenzimmern weg.[1815] Dies bedeutet, dass die Geschwister Beweisgegenstände in ihren Studentenzimmern, auch während ihrer Abwesenheit, für längere Zeit aufbewahrten. Auf tragische Weise wird sich zum 18. Februar 1943 die gleiche Situation mit irreparablem Ausgang mit dem Unterschied wiederholen, dass die Beweisgegenstände dieses Mal von der Geheimen Staatspolizei ausgeräumt werden. Vielmehr ist heute davon auszugehen, dass ebenfalls zum Plan gehörte, dass die restlichen Beweismittel aus ihre Wohnung geschafft werden sollten. Anderenfalls ergibt ein Plan und in Verbindung mit Plan B keinen Sinn. Was war an diesem Donnerstag, den 18. Februar 1943, so wichtig geworden, so besonders, das eine Ausstreuung unumgänglich machte?

   Rekapitulation: Am 15. und 16. Februar 1943 werden die letzten Briefsendungen versendet und in den Morgenstunden Wandparolen in München angebracht. Alle Materialien, ausser der Schreibmaschine Remington Portable 2 und dem Rotationsvervielfältiger ROTO-PREZIOSA, sind noch voll im Einsatz. Adressenlisten, Buchhaltung, Erika 6 Schreibmaschine, Handwaffe, Munition usw. Bis zuletzt wird gearbeitet. Irgendwann sind alle übermüdet. Aufräumen bzw. Beiseiteschaffen der belastenden Gegenstände wird offensichtlich aufgeschoben.

    Was Hans Scholl und Sophie Scholl am 17. Februar 1943 und in der Nacht zum 18. Februar 1943 machen, besprechen oder planen bleibt der Nachwelt grösstenteils vorenthalten. Sie brauchen irgendwann einmal genügend Schlaf. Sie seien um 8:30 Uhr oder 9:00 Uhr aufgestanden. Hans und Sophie Scholl gehen sicherlich zusammen den Plan nochmals gründlich durch, verabreden, was getan wird, in Abhängigkeit der jeweiligen Situation, nehmen sich vielleicht nochmals eine kurze Auszeit zur Verinnerlichung der Abläufe. Vor allem werden sie den Plan B zur Selbstverteidigung nochmals durchgegangen sein.

    Hans Scholl nach seiner Festnahme gegenüber der Geheimen Staatspolizei München, der Vernehmungsbeamte notiert: «Heute früh bin ich gegen 8.30 Uhr aufgestanden, habe anschliessend gefrühstückt, dann gelesen und habe gegen 10.30 Uhr erstmals meine Wohnung verlassen[1816] Ob die Erklärung durch Hans Scholl zutrifft, er habe noch gelesen? Oder versuchte er, durch seine Begründung, ein Ereignis unerkannt zu lassen? Hat jemand so die Ruhe weg, um vor einer extrem lebensgefährlichen Aktion noch etwas zu lesen? Menschen konzentrieren sich üblicherweise vor bevorstehenden Erschwernissen wie beispielsweise vor einer Prüfung oder vor einem sportlichen Wettkampf usw. Der Vernehmungsbeamte lässt protokollieren und äussert laut Vernehmungsniederschrift keinen Verdacht. Die Zeit verrinnt und ehe sie sich versehen, müssen sie direkt los zur Universität. Um das Beweismaterial ins Atelier zu bringen, dafür reicht die Zeit jetzt definitiv nicht mehr, obwohl das Atelier auf dem etwa 1000 Meter langen Fussweg zur Universität liegt. Bekamen die Geschwister noch einen Anruf oder gar unangemeldeten Besuch? Bei seiner Rekonstruktion ermittelte der Historiker Sönke Zankel, dass sich nach dem Krieg vier unterschiedliche Personen hervorhoben, die angeblich die Geschwister vor einem Zugriff durch die Geheime Staatspolizei warnten. Was die Weisse Rose betrifft, keine Einzelfälle. Beweiskräftige Quellennachweise fehlten und die Beamten der Geheimen Staatspolizei hätten nach dem II. Weltkrieg nichts von Massnahmen zur Überwachung des Widerstandskreises verlauten lassen. Eine abschliessende Antwort kann nicht gegeben werden.[1817]

    Otto soll im Dezember 1942 von Sophie über die Widerstandstätigkeit in München eingeweiht worden sein.[1818] Otto verneint dies.[1819] Nach eigenen Angaben wollte Otto den Inhalt zum "Notruf" von Hans am 18. Februar 1943 zum vereinbarten Treffen überbringen. Dieser "Notruf" wird für Otto vielleicht als solcher nicht erkenntlich gewesen sein. Vermutlich wusste sonst keiner von dem genauen Wortlaut, den Otto von Inge telefonisch zum "Notruf" erhielt. Möglicherweise entschloss sich Inge im Telefonat, wegen ungebe tener "Mithörer", nicht so deutlich zu werden.

München Franz-Joseph-Strasse 13b, der meistbesuchte Ort des Widerstandskreises Weis-se Rose, Postkarte gelaufen 1910, Privatbesitz

Abbildung 232: München Franz-Joseph-Strasse 13b, der meistbesuchte Ort des Widerstandskreises Weis-se Rose, Postkarte gelaufen 1910, Privatbesitz

Wiederholend sei nochmals erwähnt, wäre Otto in die Aktivitäten des Widerstands eingeweiht gewesen, hätte der Widerstandskreis am 15. Februar 1943, als Otto Sophie Scholl besuchte, eigentlich nicht ins Atelier ausweichen müssen. Eine etwas abstrakte Möglichkeit bestünde, dass Sophie Scholl ohne Wissen von Hans Scholl, Otto einweihte. Otto wollte Hans Scholl noch sprechen und musste gegen 22 Uhr die Wohnung der Geschwister verlassen.[1820] Warum nahm Sophie Scholl Otto nicht an die Hand und ging mit ihm die 300 Meter zu Fuss ins Atelier, denn dort waren Hans Scholl und Alexander an der Bearbeitung der aktuellen Briefsendungen für ihre Studentenschaft tätig. Eine andere Möglichkeit bestünde, dass Sophie ihren zukünftigen Schwager gegenüber der Geheimen Staatspolizei aussen vor lassen wollte.

    Hans Scholl schrieb am 19. Januar 1943 an Otto Aicher: «Am Sonntag kann ich aus Gründen, die ich Dir lieber erzähle als schreibe, nicht aus München wegfahren. Du kommst doch bald!»[1821] Was der Inhalt konkret bedeutet, ist unklar, und was dieser Andeutung möglicherweise vorausgegangen sein könnte. Bekannt ist hingegen, dass am nächsten Tag die Flugblattproduktion begann und Hans Scholl deshalb die nächsten Tage München nicht verlassen konnte. Ob Hans Scholl vorhatte, ebenfalls wie seine Schwester, Otto in ihren Widerstand einzuweihen, ist nicht eindeutig erkennbar, wenn auch die Konstellation merkwürdig erscheint. Am 12. Februar 1943 teilte er Otto mit, dass er Gespräche Briefen vorziehe: «Im Gespräch dagegen lockt ein Wort das andere hervor, und aus Frage und Satz entsteht bald das innere geistige Gerüst des anderen sichtbar vor Augen. Von dem Kreis, welchen ich zusammengebracht habe, wirst Du schon gehört haben. Du würdest Deine Freude an diesen Gesichtern haben, wenn Du sie sehen könntest. Alle Kraft, die man dort verschwendet, fliesst unvermindert wieder zurück ins eigene Herz.»[1822] Interessant ist die Anmerkung von Hans Scholl, «wirst Du schon gehört haben». Von wem soll Otto was erfahren haben? Ähnlich äusserte sich Hans bereits am 6. Dezember 1942 gegenüber Otto Aicher: «Hier habe ich einen Kreis Menschen um mich, an denen Du Deine Freude hättest[1823]

    Die Geschwister halten am gemeinsamen Plan unverändert fest, der schon seit einigen Tagen für den Donnerstag, den 18. Februar 1943, festgestanden haben dürfte. Am 17. Februar 1943 trudeln beabsichtigt so langsam die letzten Briefe bei den studentischen Adressaten ein. Dies bestätigen zwei Briefumschläge vom 16. Februar 1943 auf Seite 124 Abbildung 52 und Seite 134 Abbildung 61. Der Eindruck, alles läuft plan- und zeitgemäss. Hans Scholl und Sophie Scholl verlassen um 10:30 Uhr die gemeinsame Wohnung und brauchen für den Weg zur Universität etwa[1824] Minuten und kommen gegen 10:45 Uhr an. Um das belastende Material loszuwerden, hätten Hans Scholl und Sophie Scholl ihre Wohnung mindestens 10 Minuten früher verlassen und entsprechende Zeit aufwenden müssen, um alles aus der Wohnung zu räumen. Vor lauter Hektik und Belastung wurde diese Massnahme womöglich am 16. oder 17. Februar 1943 auf den Vormittag des 18. Februar 1943 hinausgezögert. Eine letzte Möglichkeit bot sich an, kurz vor der Aktion, das Material auf dem Weg zur Universität, die sie von der Ludwigstrasse[1825] her betreten, ins Atelier zu bringen. Tatsache, ihre Widerstandstechnik wird zu diesem Zeitpunkt nicht mehr gebraucht. Das Atelier liegt auf der Strecke zur Universität, die Geschwister müssten nur einen kleinen Schlenker als Umweg in Kauf nehmen. Doch für diese Absicherung ist jetzt keine Zeit mehr. Könnte ein unerwartetes Ereignis eingetreten und dabei wertvolle Zeit verstrichen sein?

    Mehrere äussere Umstände dürften die Geschwister erheblich in Bedrängnis gebracht haben und begünstigen ihren Entschluss für eine Flugblattstreuung in ihrer Universität. Der Widerstandskreis wusste vom Verlust der Ostfront und könnte eine grosse Bevölkerungsschicht hinter sich angenommen haben. Vor fünf Wochen protestierten am 13. Januar 1943 Studentinnen und Studenten massiv im Deutschen Museum.[1826] Der Widerstandskreis nahm vermutlich deshalb an, dass die Studentenschaft revolutionär ausgerichtet sei. Zu dieser Einschätzung kamen auch andere aus ihrem Umfeld.[1827] Der Widerstandskreis wollte ihren Widerstand auf andere Universitäten ausweiten und Verbindungen zu anderen Widerstandsgruppen bis vielleicht sogar zur Wehrmacht herstellen.[1828] Lieselotte berichtete nach dem Krieg, dass Falk auf den Kontakt mit der Wehrmacht einwirkte, Alexander Schmorell von der Einlage durch Falk begeistert war, Hans Scholl wollte hingegen nicht auf volles Risiko setzen.[1829] Eine geglückte Widerstandsaktion in der Universität hätte sich schnell herumgesprochen, eventuell zur Nachahmung in der Zielsetzung erleichtert. An dieser Stelle bewusst nochmals die Darstellung der Geheimen Staatspolizei aus der Vernehmungsniederschrift von Hans Scholl: «Nachdem ich geglaubt hatte, dass die militärische Lage nach der Niederlage an der Ostfront und dem ungeheuren Anwachsen der militärischen Macht Englands und Amerikas eine siegreiche Beendigung des Krieges unsererseits unmöglich sei, gelangte ich nach vielen qualvollen Überlegungen zu der Ansicht, dass es nur noch ein Mittel zur Erhaltung der europäischen Idee gebe, nämlich die Verkürzung des Krieges. Andererseits war mir die Behandlung der von uns besetzten Gebiete und Völker ein Greuel. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass nach diesen Methoden der Herrschaft eine friedliche Aufbauarbeit in Europa möglich sein wird[1830] Ein schnelles Kriegsende solle herbeigeführt werden. Auch Sophie Scholl war ebenfalls daran gelegen: «[D]as Kriegsende rückt ja spürbar näher[1831] Ein Europa und eine demokratisch gewählte Regierungsform in Deutschland dürfe nicht gefährdet werden. Hans Scholl muss von seinen Vorstellungen überzeugt gewesen sein. Alleine das V. Flugblatt spricht für ihn ganz persönlich. Heute wissen wir, Hans Scholl behielt Recht.

   Am 17. Februar 1943 war die Mitteilung des Notrufs an Inge durch Hans Hirzel vorausgegangen.[1832] Susanne trägt das damalige Ereignis in ihrem Buch über ihren Bruder zusammen. Er habe von der Vernehmung bei der Geheimen Staatspolizei berichtet: «Er argumentierte nun gegenüber Scholls, angesichts der kritischen Einstellung ihrer Kinder müßten sie damit rechnen, daß sie in die Aktion verwickelt wären; deshalb sei es wichtig, daß die Münchner über das Verhör von Hans informiert würden…» Als Codewort, für geheimpolizeiliche Vorfälle, wurde zur Warnung innerhalb des Widerstandskreises ausgegeben: «Das Buch "Machtstaat und Utopie" sei vergriffen».[1833], [1834] Hans konnte wegen einer anstehenden Prüfung zum Abitur, die am darauffolgenden Tag stattfand, nicht selbst die Nachricht an die Geschwister in München überbringen. Er erwähnte nichts über den Stuttgarter Postversand, an deren Bearbeitung er aktiv involviert war. Susanne Hirzel: «Hans verschwieg also die Stuttgarter Aktion mit der Folge, daß zwar seine Warnung weitergegeben, aber nicht besonders dringlich behandelt wurde.»[1835] Inge versucht, nach eigenen Angaben über Wilhelm Geyer, die Nachricht an ihre Geschwister weiterzuleiten. Seine Frau soll ihr mitgeteilt haben, ihr Mann befinde sich in Stuttgart. Weil sie ihre Geschwister telefonisch nicht erreicht, ruft sie über Carl Muth ihren Lebensgefährten Otto Aicher an. Otto Aicher verbringt einige Tage, einen Teil seines Urlaubs, bei Carl Muth. Sie soll ihm die Eilmeldung von Hans Hirzel übergeben haben.[1836]

    Der Historiker Sönke Zankel berichtet über das Telefonat, das Otto Aicher noch am Abend des 17. Februar 1943 mit Hans Scholl geführt haben soll: «Hans ich hätte aber unbedingt etwas wichtiges zu sagen, was am Telephon nicht geht, das sollten wir so früh wie möglich machen. Dann sagte er: ja gut, morgen früh um halb 11.»[1837] Keiner konnte erahnen, dass in wenigen Stunden Hans Scholl und Sophie Scholl in der Universität ihren Plan bereits umsetzen werden.

    Die Historikerin Barbara Beuys verweist auf einen Brief, den Otto im Oktober 1943 an Carl Muth mit den Worten richtet: «Ich weiß auch, wie ich selbst in diesen Tod verflochten bin. Sie hat mir in Bad Hall alles dargelegt, ohne dass ich auch nur im Entferntesten hätte auf diese Dummheit schließen können.» Dazu erwägt die Historikerin: «Diese Dummheit: Das kann sich nur auf die Auslegung der Flugblätter in der Münchner Universität am Vormittag des 18. Februar 1943 beziehen, das zur Verhaftung von Sophie und Hans Scholl und ihrem Tod führte.»[1838] Sophie Scholl wird von Otto ein Versprechen abgerungen haben, niemandem irgendetwas über ihren Widerstand zu berichten.[1839] Unbeantwortet wird bleiben, ob Otto während seines Besuchs in der Franz-Joseph-Strasse am 15.[1840] und am 17. Februar 1943[1841], [1842] von Sophie Scholl über die bevorstehende Aktion am 18. Februar 1943 in der Universität eingeweiht wurde. Dagegen würde der tragische Ausgang sprechen. Otto dürfte jedoch über die Widerstandsaktionen gegen Adolf mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit unterrichtet gewesen sein, konnte nachvollziehbar den Bezug zum Donnerstag nicht erkennen und machte sich dennoch Vorwürfe. Für Otto nach den Hinrichtungen keine leichte Situation. Wie hätte er das seinen zukünftigen Schwiegereltern und Inge erklären sollen, dass er von den Widerstandsaktionen in München durch Sophie Scholl wusste. Etwa Anfang 1980 lies Otto Aicher verlauten, «er habe keine Andeutung über die Münchner Widerstandsgruppe erhalten[1843] Manches Glück zerbricht an der Wahrheit.

    Dass etwas nicht so verlief, wie gewünscht, wird deutlich. Was Inge und oder Otto konkret unternehmen, lässt sich ohne weiteres Quellenmaterial nicht erschliessen. Bekannt ist, Otto kommt am nächsten Tag wie vereinbart in die Franz-Joseph-Strasse, trifft zunächst die Geschwister nicht an, kommt nochmals 30 Minuten später und wird von der Geheimen Staatspolizei offensichtlich ohne Vorahnung festgenommen.[1844] Der Vorgang zum 17. Februar 1943 muss heute wertfrei gesehen werden. Für die Familie Scholl, insbesondere für Inge und für Otto Aicher, eine prekäre Situation. Eine unglückliche Verkettung bei der Überbringung des Notrufs dürfte vorliegen. Hätten die Geschwister einen Wortschnipsel aus dem Codewort durch Otto erfahren, wäre kaum vorstellbar, dass sie ihre Freunde Alexander Schmorell und Willi Graf nicht gewarnt hätten. Warum Hans Scholl und Sophie Scholl ihre beiden Freunde zur bevorstehenden Flugblattauslegung in der Universität nicht im Detail einweihen, dafür mag eine persönliche Abwägung vorliegen. Wegen geistiger und körperlicher Übermüdung dürfte sich eine Nachlässigkeit eingeschlichen haben und deshalb bleiben möglicherweise die restlichen Belastungsgegenstände wie Widerstandsequipment und Buchhaltungsutensilien in ihrer Wohnung zurück und werden in wenigen Stunden zu einem irreversiblen Problem. Manches der letzten Lebensstunden könnte durch Hans geprägt worden sein. Schon in der Hitlerjugend sagten andere über ihn, «er sei mutiger, beweglicher, entschlossener als alle anderen».[1845] Und Vater Robert spricht über seinen Sohn aus der Jugendzeit von «mutig, kühn, verwegen», «[d]ieses Hans eigene Freiheitsbedürfnis habe auch ich» und er habe sich manchmal um ihn Sorgen gemacht. Hans Scholl soll beispielsweise einmal auf Eisenbahnschienen gelaufen sein, so der Vater Robert Scholl.[1846] Traute Lafrenz-Page erinnert sich nach dem Krieg und berichtet über Hans Scholl: «…Hans war ein charismatischer Mensch, der andere mit sich zog. Er wurde von einer moralischen Kraft getragen, die ihm eingab, dass, wenn die Welt so verschieden von seinem Ideal und Vorstellungen war, er etwas tun musste! ...»[1847] Wäre der Widerstandskreis ohne den beschriebenen Charakter von Hans Scholl in die Weltgeschichte eingegangen? Entschiedenes Führungskollektiv, wie auch der 20. Juli oder Persönlichkeiten, die alleine handelten, machen einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn unabdingbar.

    Hans Scholl und Sophie Scholl würden dann tatsächlich um 8:30 Uhr oder 9:00 Uhr aufgestanden sein, frühstücken und Hans Scholl wird entlastend der Geheimen Staatspolizei mitteilen, er habe noch gelesen. Hinzu kommt, was war an diesem Donnerstag so dringlich, wäre der Freitag oder der nächste Montag oder Dienstag nicht auch möglich gewesen, um in Ruhe diese extrem gefährliche Streuaktion mit minimalem Risiko und dann auch ausgeruht mit ihren beiden Freunden "Alex" und "Willi" durchzuführen? Vor dem 18. Februar 1943 wäre an eine Aktion in der Universität nicht zu denken. Viele Briefsendungen dürften bei ihren Adressaten noch nicht angekommen sein. Der Mittwoch, 17. Februar 1943, war bereits von Sophie Scholl und Gisela mit Vorlesung bei Professor Kurt belegt. Otto kommt, wenn auch erst am Nachmittag. Hans Scholl und Otto sprechen miteinander in der Geschwister Wohnung ab 16:30[1848] Uhr für etwa eine Stunde.[1849] Ob das Gespräch mit Sophie Scholl weitergeführt wurde, ist aus den Vernehmungsniederschriften nicht erkennbar. An diesem Nachmittag verabreden sich Sophie Scholl und Otto für den nächsten Tag, 18. Februar 1943. Otto kommt gegen 11:30 Uhr mit dem Zug nach München und Sophie Scholl möchte ihn am Holzkirchnerbahnhof abholen.[1850] Laut Vernehmungsniederschrift war geplant, dass Hans Scholl und Sophie nach der Aktion in der Universität Otto am Bahnhof aufsuchen, sodass dann am Nachmittag mit dem 12:25 Uhr oder mit dem 16:30 Uhr Zug Sophie und Otto gemeinsam nach Ulm fahren, denn Otto wollte seinen restlichen Urlaub in Ulm verbringen. Auch Hans Scholl hatte bereits gegenüber den Eltern am 15. Februar 1943 verlauten lassen, dass er am Samstag, den 20. Februar 1943 oder am Sonntag den 21. Februar 1943, die Eltern besuchen kommen wolle.[1851] Der 15. Februar 1943 zeigt wiederum, wie weit die Planung zur Flugblattaktion in der Universität gediehen gewesen sein musste.[1852] Ungeklärt bleibt, für wie lange der Besuch von beiden in Ulm beabsichtigt wurde. Wegen der Reisekosten ist kaum anzunehmen, dass die Geschwister schon am Montag wieder in München sein würden. Sophie Scholl hätte ihren Bruder zur Flugblattstreuung in der Universität sicherlich nicht alleine gehen lassen. Sophie Scholl kommt nachts zum 14. Februar 1943 bis nachmittags zum 18. Februar 1943 für knapp 4 Tage extra nach München, um was zu tun? Vorlesungen besuchen? In diesen vier Tagen ist nur eine Vorlesung für den 17. Februar 1943 belegbar.[1853] Eventuell wäre noch eine weitere Vorlesung für den 16. Februar 1943 denkbar. Die Beweggründe, vorrangig Vorlesungen zu besuchen, können nicht erkannt werden. Hätte ihr Gisela den Vorlesungsstoff nicht übermitteln können? War der Lehrstoff kurz vor Prüfungsbeginn von so grosser Wichtigkeit? Bestand zwischen den Geschwistern nicht doch eine Absprache? Spätestens ab dem Tag, als der Widerstandskreis von ihrem Professor den Flugblattentwurf erhielt, könnten sich die Geschwister verständigt haben. Eine Absprache dürfte deshalb zwischen dem 11. Februar 1943 und dem 14. Februar 1943, möglicherweise noch viel früher, in Betracht kommen. Oder wussten Hans Scholl und Sophie schon viel früher, dass ihr Professor mit einem Flugblattentwurf auf sie zukommen würde? Bei seiner Vernehmung erwähnt Professor Kurt Huber: «Herr hatte mich aufgefordert, den Entwurf in der Sprache eines jungen Studenten abzufassen.»[1854] Professor Kurt Huber dürfte bewusst gewesen sein, dass sein Flugblattinhalt seine Studentinnen und Studenten lesen werden. Worüber ihr Professor überrascht gewesen sein könnte, dass direkt vor seinem Vorlesungssaal 201 Flugblätter ausgelegt werden. − Sicherlich kein Zufall, denn eine ganz bestimmte Klientel der Studentenschaft besuchte seine Vorlesungen. Stark anzunehmen, die Geschwister Scholl dürften ebenfalls davon Kenntnis gehabt haben. − Der Verdacht eines Vorgesprächs bekräftigt sich. Dieses Gespräch muss tagsüber oder vor dem 8. Februar 1943, an dem ihr Professor seinen Flugblattentwurf aufsetzt, stattgefunden haben.[1855] Dies könnte teilweise erklären, warum nach der Abreise am 5. Februar 1943 von Sophie Scholl und Elisabeth nach Ulm die Flugblatt-Herstellung nicht sofort wiederaufgenommen wird. Hat Hans Scholl den neuen Plan alleine ausgearbeitet, bevor er ihren Professor aufsuchte, oder wurde dieser zusammen mit seiner Schwester Sophie Scholl, als sie noch in München war, also vor ihrer Abreise zum 5. Februar 1943, bereits gefasst? Auslöser könnte der 2 Tage zuvor bekanntgegebene Verlust der Ostfront gewesen sein.[1856] «Als etwa um den 10. Febr. herum unsere Rückschläge im Osten bekannt wurden und sich infolgedessen die Stimmung innerhalb der Studentenschaft sehr verschlechterte, kam ich auf den Gedanken, dieser Situation gerecht zu werden und ein neues Flugblatt herauszugeben.»[1857] Warum der 10. Februar 1943 niedergeschrieben wird, anstatt der 3. Februar 1943, kann nicht beantwortet werden. Aufgrund der Vorereignisse wäre erklärbar, warum am 14. Februar 1943, als Sophie Scholl am Abend in München eintraf, noch in der Nacht zur Adressierung übergegangen wurde. Sie dürfte nicht überrascht gewesen sein, nur vom hervorragenden Inhalt des Flugblatts ihres Professors. In der Sprache eines jungen Studenten. Eine männliche Form. Und warum nicht allgemein an Studentinnen und Studenten jeden Alters? Dafür könnte ein Grund vorgelegen haben. Der Freitag, der 19. Februar 1943, dürfte für eine Aktion in der Universität ausgeschlossen gewesen sein, weil Sophie Scholl sich dann bereits in Ulm befunden hätte und Hans Scholl kurz darauf nachkommen wollte. Nach der Aktion in der Universität soll ein weiterer Vervielfältigungsapparat über Eugen geliefert werden.[1858] Hans Scholl soll die Maschine am 18. Februar 1943 in Empfang nehmen. Die Termine hätten vielleicht abgesagt oder verschoben werden können, doch dies geschieht nicht. Vielmehr entsteht der Eindruck, beide planen ganz gezielt. Dann sollte über den 17./18. Februar 1943 endlich mal ausgeschlafen werden. Andere nutzen den Freitag für ihr Studium oder ruhen sich ebenfalls vor den anstehenden Prüfungen aus. Viele Studentinnen und Studenten könnten Freitag, den 19. Februar 1943, genutzt haben, um nach Hause zu ihren Familien zu fahren. Nicht alle werden bereits montags wieder in München eintreffen, manche erst am Dienstag. Sozusagen sich noch ein verlängertes Wochenende vor den Prüfungen gönnen. Letztendlich planten die Geschwister gleiches. Am 27. Februar 1943 endet offiziell das Semester und im Anschluss folgen die Prüfungen und die Semesterferien.[1859] Das wurde zu einem Problem. Dazwischen befanden sich noch zwei Wochenenden und deshalb nur noch zehn Vorbereitungstage zur Prüfung bzw. 5 Tage für den Besuch von Vorlesungen. Studentinnen und Studenten, die nach Semesterende im Fachbereich Medizin ihre Prüfung für das Physikum oder für ihr Staatsexamen ablegten, nutzten sicherlich die Zeit zum intensiven Lernen ins Kurzzeitgedächtnis. Hans Scholl und seine Kommilitonen bereiteten sich für ihre Prüfung für das Physikum, das ab dem 13. Januar 1941 abgelegt wurde, 10 Wochen lang vor.[1860] Ich befragte die Medizinerin Traute Lafrenz-Page, ob bereits in der letzten Woche vor den Semesterferien Klausuren geschrieben wurden. Die Medizinerin antwortet dankend am 29. September 2016: «Klausuren im Sinne gab es damals nicht. Jeden falls nicht in der medizinischen Fakultät. Wir hatten damals nach etwa 2 Jahren das Physikum abzulegen, wo alle vormedizinischen Fächer geprüft wurden, dann nach weiteren 2-3 Jahren das medizinische Staatsexamen. Zwischendurch gab es keine Examen. Ob das bei anderen Fakultäten anders war, kann ich nicht sagen.» Hans Scholl erwähnte in seiner Vernehmung und das deckt sich mit Traute Lafrenz-Page, «irgendwelche Vorlesungen wollte ich heute an der Universität nicht besuchen, weil ich mich gegenwärtig zum Staatsexamen vorbereite[1861]

Mo Di Mi Do Fr Sa So
8 9 10 11 12 13 14

Treffen in Franz-Joseph-Strasse mit Falk Harnack

 

Prof. Kurt Huber schreibt Flugblatt VI

Treffen vor der Universität

 

Prof. Kurt Huber schreibt Flugblatt VI zu Ende

Tag für persönliche Anliegen…

Treffen in Franz-Joseph-Strasse mit Falk Harnack, Prof. Kurt Huber

 

Übergabe Flugblatt VI

 

Produktionsbeginn?

Bearbeitung Post

Flugblatt-Herstellung Flugblatt VI, Hans Scholl , Alexander Schmorell, Willi Graf

Ausflug

 

Sophie Scholl  kommt aus Ulm

 

Nachts Bearbeitung der Post, Hans Scholl, Sophie Scholl, Alexander Schmorell

15 16 17 18 19 20 21

Besuch von Otto

Aicher

 

Bearbeitung Post im Atelier

 

Post-Versand

 

Parolen

Post-Versand Hans Scholl, Alexander Schmorell, Willi Graf, Sophie Scholl, Gisela Schertling

Besuch von Otto Aicher

 

24-h Puffer

Aktion in Universität

 

Sophie Scholl, Otto

Aicher Abreise nach Ulm

 

Lieferung Apparat

? Geplante Abreise Hans Scholl nach Ulm

Geplante Abreise Hans Schollnach Ulm

 

Hans Schol und Sophie Scholl wären in Ulm

22 23 24 25 26 27 28
Ulm? Lernen? Lernen? Mögliches Treffen Falk Harnack,  Hans Scholl,  Alexander Schmorell in Berlin? Lernen? Semesterende ?

Hans Scholl wird seinen Prüfungsstoff kurz vor Semesterende ins Kurzzeitgedächtnis abgelegt haben und dafür braucht er mindestens die letzten 10 Tage vor dem Staatsexamen. So musste Hans Scholl für die beiden Termine der Flugblattaktion in der Universität und dem anstehenden Staatsexamen eine sinnvolle Planung vornehmen. Mehr und mehr aus der Studentenschaft dürften aus anderen Fakultäten die letzten Vorlesungen vor den bevorstehenden Prüfungen ebenso nicht mehr besucht haben. Nach den Prüfungen würde wieder Reichsarbeitsdienst und Fronteinsätze, möglicherweise mit ungewisser Heimkehr, bevorstanden haben. Reichsarbeitsdienst befürchtete Sophie Scholl.[1862] Weil die kommenden Semesterferien nur kurz sind, könnte auch aufgrund der Kriegsbedingungen ein längerer Einsatz drohen. Hans Scholl bekam das VI. Flugblatt von ihrem Professor am 11. Februar 1943.[1863], [1864] Die nächste Gelegenheit in der Universität Flugblätter zu streuen, würde erst wieder zum Sommersemester ab 29. April 1943 möglich sein.[1865] Das sind genau 70 Tage vom 18. Februar 1943 gerechnet. In den Semesterferien dürfte in der Universität erstmal weitgehend gähnende Leere sein. Doktorin Traute Lafrenz-Page in ihrem Brief: «Es hatte sich alles so etwas sehr zugespitzt: die Studentenunruhe am Deutschen Museum, die provokativen Anstreichungen an der UNI usw. Mir scheint es immer etwas fieberhaft.» Unter dem enormen Zeitdruck unterläuft eine gravierende Nachlässigkeit, aus dessen Risiko sich die Geschwister nicht mehr befreien können. Hans Scholl ist sicher auch der Juni 1942 bewusstgeworden und jetzt sehr deutlich der Januar und Februar 1943. Mit Vorbereitungszeit sind sie seit über 3 Monaten an der Umsetzung des zehrenden, ermüdenden, kostenintensiven und extrem lebensgefährlichen Widerstandsunternehmens aktiv. Hier kann möglicherweise auch der Grund gesucht werden, warum am 18. Februar 1943 so viele belastende Gegenstände in der Franz-Joseph-Strasse 13b zurückbleiben. Nichts deutet darauf hin, dass eine äussere Ursache für eine spontane Aktion in der Universität vorgelegen haben könnte. Ohne jeglichen Quellennachweis, reine Annahme, auch weil sich nach tagelanger Suche nichts finden liess, vielleicht haben Hans und Sophie Scholl an diesem Donnerstag, an dem verschiede Termine anstanden, sich auf das Wesentliche konzentriert. Sie werden vermutlich in Ruhe gefrühstückt haben und sind dann nicht mehr unter Zeitdruck ins Atelier gegangen, um sich von den restlichen belastenden Gegenständen noch zu entledigen. Die vorausgegangenen Wochen haben viel Kraft gekostet und bestimmt für wenig Schlaf gesorgt. Sophie Scholl und ganz sicher auch Alexander wussten wie schwierig die Bemühungen von Willi Graf bei der Suche nach Unterstützern sich gestaltete. Was Hans Scholl klar gewesen sein durfte, der Widerstandskreis braucht nun bald eine Erfolgsmeldung um alle zusammenzuhalten und das Umfeld an Unterstützer nicht zu verlieren. Auf Hans Scholl muss ein hoher Erwartungsdruck gelastet haben. Er war die Leitperson neben Sophie Scholl. Ein kleiner Erfolg, wie sich zeigt, wurde nicht erwogen. Aus der Sicht von Hans würde eine grössere Aktion durchaus seinen Vorstellungen entsprechen.

    Über Motivation wurde viel geforscht. Hier nur ein paar wenige prägnante Erkenntnisse. Der amerikanische Psychologe Leon Festinger kommt zu der Feststellung, je grösser Dissonanzen auf uns wirken, um so grösser ist das Bestreben diese zu reduzieren.[1866] Der österreichische Neurologe und Psychiater Viktor Emil Frankl kommt in den 80er Jahren zu dem Ergebnis, das dem Menschen eine primäre Motivationskraft, ein angeborenes Streben nach einem höheren Sinn vorliege.[1867] Ein weiterer Ansatz, bezogen auf den 18. Februar 1943: Motivationsstreben ist nachvollziehbar, nicht bei allen Menschen gleich stark ausgeprägt und wird durch unterschiedliche Umgebungsparameter beeinflusst. Eine zielführende Veränderung die anspornt zum Weitermachen, eine Belohnung für all die vielen Anstrengungen die verdeutlicht, was wir denken und tun wie wir handeln, ist richtig. Erfolg schafft ein inneres Gleichgewicht, begleitet von einer Selbstbelohnung, befriedigt eigene Bedürfnisse, stärkt die Einstellung durch Selbsterlebnis, stützt die Bereitschaft zur Fortführung und Wiederholung, verstärkt Vertrauen, wirkt gegebenenfalls einer etwaigen Infragestellung des Vorhabens entgegen und stärkt das kollektive WIR Gefühl und verbessert dadurch die Gruppendynamik.[1868] In naher Zukunft musste eine Aktion zum Erfolg führen. Über Falk sollte in Berlin mit anderen Widerstandsgruppen, vielleicht sogar mit der Wehrmacht Kontakte hergestellt werden.[1869] Hierfür brauchte der Widerstandskreis eine ebenbürtige Begegnung auf gleicher Höhe um Anerkennung zu erfahren. Dafür musste Hans Scholl etwas vorweisen können. Hans Scholl war Soldat und kannte die militärischen Strukturen und mit welchen Massstäben Offiziere Entscheidungen trafen. Eugen wurde gebraucht für weitere finanzielle Unterstützung weiterer Aktivitäten. Wenn Berta Wagner[1870] den Widerstandskreis mitfinanziert haben sollte, so musste auch Eugen ihr gegenüber etwas vorzeigen können. Die Widerstandkasse hatte am 18. Februar 1943 gerade mal noch 40 RM.[1871] Ein leistungsfähigerer Vervielfältigungsapparat sollte an diesem 18. Februar 1943 über Eugen geliefert werden.[1872] Dafür waren weitere Anschaffungen notwendig. Kostspielig war weniger das Saugpostpapier zum Vervielfältigen, auch nicht die Briefumschläge, sondern der Briefmarkenkauf für den Postversand. Dieser verschlang Unsummen.[1873] Für eine neue Aktion lag vorerst zu wenig Geld in der Kasse, zumal noch überschaubare Aussenstände durch geliehene Geldsummen offen gewesen sein könnten.[1874] Für 40 RM konnten gerade mal 40 * 100 8 = 500 Briefmarken zu 8 Pf. gekauft werden. Dann fehlt immer noch Saugpostpapier und Briefumschläge. Eugen reflektiert seine rückerinnerte Wahrnehmung nach dem Krieg, «Hans habe es ihm so phantastisch geschildert, als sei bereits eine ganze demokratische Regierung auf dem Plan, in der er quasi Minister werden sollte.»[1875] Hans Scholl musste nun liefern und sich gegebenenfalls für erneute Zuwendungen rechtfertigen, um vor allem vertrauenswürdig zu bleiben. Hans Scholl dürfte bestimmt nicht gewusst haben, dass Jenny Grimminger ihren Ehemann darum bat, sich nicht am Widerstand in München zu beteiligen. Für Eugen eine äusserst schwierige Situation, bei der er am Ende seine Frau "Jenny", wie er später annimmt, in den Gaskammern von Auschwitz verliert.[1876] Hans Scholl konnte seinen Kommilitonen eine Mitfinanzierung der Unternehmung dauerhaft nicht aufbürden. Also mussten sich in der Sache weiterhin alle bestätigt finden, warum sie dieses immens grosse Lebensrisiko weiterhin eingehen und immer mal wieder einige Reichsmark beisteuern sollen. Willi Graf brauchte dringend bei der Suche nach Unterstützern eine Visitenkarte, die ihm belegt, was wir machen, zeigt Wirkung, eine Mitwirkung am Widerstand wird am Ende belohnt. Im Vergleich, Angriffe von Partisanen auf militärische Nachschubkonvois zeigten Wirkung. Ähnliches stellte sich durch den edlen, geistigen, literarischen Widerstandskreis bisher nicht ein. Das musste Hans Scholl nun sehr deutlich geworden sein. Strenggenommen konnte so nicht länger weitergemacht werden. Eine gewisse Ungeduld dürfte sich eingeschlichen haben, weil in der Sache nichts Überprüfbares an Veränderung bisher feststellbar war. In Russland zeigt sich die Enttäuschung im Sommer 1942 von Hans Scholl deutlich. Auf einen undatierten Briefumschlag notierte Hans Scholl wie sehr er von der geistigen Elite Deutschlands enttäuscht ist.[1877] Nun wurde Hans Scholl ein weiteres Mal schwer versetzt und änderte daraufhin seine Strategie. Der Historiker Sönke Zankel erwähnt einen Brief von Hans Scholl an Olga Habler vom 28. Dezember 1942: «Uns beseelt nur der Wunsch, glücklicher aus dem kommenden hervorzugehen, als es uns aus dem alten vergönnt war[1878] Im Dezember 1942 befand sich der Widerstandskreis inmitten der Planung für neue Aktivitäten. Zu dieser Zeit dürften die bereits erwähnten 3200 Adressen für die Flugblattauflage V. Flugblatt handschriftlich notiert worden sein. Die Historikerin Barbara Ellermeier, «Sönke Zankel hat überdies herausgearbeitet, dass sich Hans Scholl und Alexander Schmorell während der ersten Flugblatt-Phase im Sommer 1942 gezielt an die Elite wenden wollten, und erst in der zweiten Phase ab November 1942 an die breite Masse[1879] Die Historikerin würde ihren Fachkollegen vermutlich nicht zitieren, wenn sie nicht eine ähnliche oder gleiche Auffassung verträte. Die Enttäuschung dürfte sich fortgesetzt haben, weil die Flugblatt-Herstellung durch Hans Scholl und Alexander Schmorell keine spürbare Resonanz zeigte. In Hans Scholl werden viele Gedanken bewusstgeworden sein, die vermutlich von sehr starkem Erfolgsdruck geplagt waren. Welche Möglichkeiten kämen sonst noch in Betracht? Hans empathisch verstanden, wird vermutlich ähnlich empfunden und seine Situation gedanklich geordnet haben, bestärkt durch einen treuen Begleiter, der treuer in Person ihm nicht hätte sein können, seine Schwester "Sophie". In wieweit ihm dies selbst bewusst war, schwierig zu ermessen. Hans Scholl konnte nicht wissen, wie seine Schwester sich gegenüber der Geheimen Staatspolizei in München verhalten würde. Keiner konnte dies vorahnen, was die Welt über Sophie zum Ende ihres Lebens eines Tages über sie lesen würde.[1880] Ein gutes Gefühl dürfte Hans Scholl dennoch zu Lebzeiten von seiner Schwester erfahren haben.

    Ein paar Kleinigkeiten anders gestaltet, wäre dem Widerstandskreis die Geheime Staatspolizei vielleicht nie auf die Schliche gekommen, auch wenn insbesondere Hans Scholl sich von der Geheimen Staatspolizei beobachtet fühlte.[1881] Doch sagt sich das heute so einfach. Am Samstag den 27. Februar 1943 war bereits das Wintersemester 1942/1943 zu Ende.[1882] In der letzten Lernwoche vor den Prüfungen und während den Klausurterminen hätten Hans Scholl und Sophie Scholl sicherlich keine Aktion gestartet. Beide hätten der Studentenschaft kurz vor den Prüfungen sicherlich keine Unruhe aufgebürdet. Diese Situation ähnelt einer früheren Entscheidung: Keine Flugblattaktivitäten an der Front bei den Kameraden.[1883] Hinzukommt, dass sich Hans Scholl und seine Kommilitonen auf ihr eigenes Staatsexamen vorbereiten mussten. Eine später angelegte Aktion hätte auch wenig Sinn gemacht, weil die Universität zu diesem Zeitpunkt sicherlich nicht mehr durch die Studentenschaft vollbesetzt gewesen wäre. Nach den Unruhen am Deutschen Museum bot sich eine Flugblatt-Auslegung in der Universität erst an diesem Donnerstag, den 18. Februar 1943. Eine Aufschiebung der Streuaktion zum Sommersemester und ein weiterer Zeitverzug nach dem 13. Januar 1943,[1884], [1885] an dem die Studentenschaft unerwartet aufbegehrte, hätte die vorliegende günstige Gelegenheit tendenziell zunichtegemacht. Wer möchte schon ausgeruht zum Semesterbeginn grundlos revolutionäre Stimmung ausleben? Wenn, dann musste die Streuung in der Universität ohne weiteren Zeitverzug jetzt im Februar 1943 bündig erfolgen, bevor der Groll vollends verflog. Der Inhalt des neuen Flugblatttextes ihres Professors bezog sich auf die neuen Ereignisse an der Ostfront und auf die Ereignisse im Deutschen Museum, dem eine überfällige Abrechnung mit dem Führer einfloss.[1886]

   «Erschüttert steht unser Volk vor dem Untergang der Männer von Stalingrad. Dreihundertdreissigtausend deutsche Männer hat die geniale Strategie des Weltkriegsgefreiten sinn- und verantwortungslos in Tod und Verderben gehetzt. Führer, wir danken dir!».

   Und weiter im Flugblatt von Professor Kurt Huber:

   «Frontkämpfer werden von Studentenführern und Gauleiteraspiranten wie Schuljungen gemassregelt, Gauleiter greifen mit geilen Spässen den Studentinnen an die Ehre. Deutsche Studentinnen haben an der Münchner Hochschule auf die Besudelung ihrer Ehre eine würdige Antwort gegeben, deutsche Studenten haben sich für ihre Kameradinnen eingesetzt und standgehalten. Das ist ein Anfang zur Erkämpfung unserer freien Selbstbestimmung, ohne die geistige Werte nicht geschaffen werden können. Unser Dank gilt den tapferen Kameradinnen und Kameraden, die mit leuchtendem Beispiel vorangegangen sind!»[1887]

    Dieses Flugblatt musste jetzt erscheinen und nicht erst in einem viertel Jahr zum Semesterbeginn im April 1943. Dies muss Hans Scholl und Sophie Scholl bewusst gewesen sein. Mit dieser (Vor)Entscheidung kam der Flugblattentwurf von Christoph im Wesentlichen aus zeitlichen Gründen nicht mehr vor dem Semesterende in Betracht und zum nächsten Semesterbeginn wohl auch nicht, weil bis dahin die Ereignisse um Stalingrad überholt waren. Darüber hinaus hätten die Studenten ihren Professor bezüglich seines Flugblatt-Entwurfs nur schwerlich zurückweisen können. Der älteste unter ihnen dürfte den Vorzug erhalten haben. Im April 1943 hätte der Widerstandskreis einen aktuellen Flugblatttext gebraucht, um mit neuen Gedanken die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf sich zu lenken. Ob der Flugblattentwurf von Christoph innerhalb des Widerstandskreises grundsätzlich Zustimmung fand, ist aus den Gerichtsunterlagen nicht erkennbar. Wegen des aktuellen und brisanten Postversands musste der Freundeskreis am 15. Februar 1943[1888], [1889], [1890] die Adressierung im Atelier für ein paar Stunden nachvollziehbar improvisieren. Als am Abend wieder in der Franz-Joseph-Strasse weitergearbeitet wird, kommt auch Willi Graf unterstützend hinzu. Ohne die Mithilfe ihrer Freunde Alexander und Willi Graf, hätte die geplante Aktion mit allen Aktivitäten bis zum 18. Februar 1943 kaum stattfinden können. Auf den Postversand hätte dann verzichtet werden müssen. Doch der sollte gewiss Sinn machen. Nach der Entwurfsübergabe durch Professor Kurt Huber begann die Produktion des neuen Flugblatts bis am 14. Februar 1943[1891] Sophie Scholl in München eintrifft.[1892] Willi Graf befand sich am 13. Februar 1943 auf einem Ski-Wochenende.[1893] So konnten nur Hans Scholl, Alexander Schmorell, und in der Nacht zum 14. Februar 1943 mit Sophie Scholl, die Bearbeitung des Postversands fortsetzen. Der Plan muss für den 18. Februar 1943 zu dieser Zeit festgestanden sein. Warum in diesem Moment ein Postversand mit relativ hohem Zeitaufwand priorisiert wurde, das haben die FREUNDE für sich behalten. Rein hypothetisch betrachtet, vielleicht bestand eine Absicherung darin, wenn der Plan in der Universität nicht glücken sollte, dass die Studentenschaft ihnen wenigstens zu Hilfe eilen würde, um sie vor Übergriffen durch Universitätsbedienstete und vor der Geheimen Staatspolizei zu schützen. Sollte deshalb das VI. Flugblatt in der Sprache eines jüngeren Studenten abgefasst werden? Der Flugblatttext ihres Professors könnte sie angesprochen haben, denn dieser ist hochgradig extravagant formuliert. Eigentlich kann die Kritik ihres Professors am Staat im Widerstandskreis nicht regungslos geblieben sein. Denn dieser Lieblingsprofessor sprach ihnen wohl aus tiefer Seele, er bestärkt und ermutigt sie regelrecht. Hier wird wiederum die bereits erwähnte Feststellung des Historikers Sönke Zankel deutlich, warum das Ereignis im Deutschen Museum eine besondere Wende für die Geschwister für den 18. Februar 1943 bedeutet haben dürfte.[1894] Selbst ihr Professor Kurt Huber nimmt Bezug auf dieses Spektakel.

    Eine Zwischenfrage ergibt sich aus der Darstellung ihres Professors und der des Widerstandskreises. Wo stand die Studentenschaft politisch? Traute sich die Studentenschaft nicht oder waren sie dem Nationalsozialismus verfallen. Diese Frage beantwortet die Historikerin Barbara Ellermeier in ihrer Hans Scholl Biographie: «In die NS-Studentenorganisation tritt Hans Scholl nicht ein. Insgesamt sind 30 Prozent der Studenten Mitglied im nationalsozialistischen Studentenbund, 40 Prozent in der Partei und über 50 Prozent in Parteigliederungen erfasst.»[1895]

München Justizpalast, Postkarte gelaufen 1913, Privatbesitz

Abbildung 233: München Justizpalast, Postkarte gelaufen 1913, Privatbesitz

Weil der Postversand bereits wenige Stunden vor dem 18. Februar 1943 vorauseilt, spätestens am 17. Februar 1943 bei etwa 1110 ihrer Kommilitoninnen und Kommilitonen eintrifft, entsteht der Eindruck, und soweit das finanziell noch möglich war, die Studentenschaft sollte schon mal in die bevorstehende Aktion eingestimmt werden, um sicher zu sein, dass "es" am Donnerstag in der Universität für den Notfall auch richtig "raucht". Der Postversand machte nur Sinn, wenn dieser unmittelbar der Streuaktion in der Universität folgen würde und nicht erst gar eine Woche später. Stille Leserinnen und Leser, die sich nichts zutrauten, waren ganz sicher nicht gewünscht. Dafür war das eingegangene Risiko zu gross. Wenn das zutreffen würde, stellt sich eine der letzten Fragen: Von wem kam dieser virtuoser Plan? Unterschiedliche Gründe bezeugen, warum bis zuletzt akribisch am Postversand gearbeitet wurde und noch ein Pfünder mit 50 Briefsendungen[1896] durch die beiden befreundeten Studentinnen Sophie Scholl und Gisela am 16. Februar 1943 nachgelegt wurde.

München Justizpalast-Innenansicht, Postkarte gelaufen 9.11.1907, Privatbesitz

Abbildung 234: München Justizpalast-Innenansicht, Postkarte gelaufen 9.11.1907, Privatbesitz

München Universität von der Amalienstrasse, Postkarte gelaufen 4.5.1942, Privatbesitz

Abbildung 235: München Universität von der Amalienstrasse, Postkarte gelaufen 4.5.1942, Privatbesitz

    Hans Scholl: «Nachdem ich mit der Versendung fertig war und mich davon überzeugen konnte, dass ich mit meinem Vorhaben keinen Erfolg hatte (ich habe mir selbst geschrieben und würde zumindestens von und verständigt worden sein) kam ich auf den Gedanken, die noch übrigen Flugblätter selbst innerhalb der Studentenschaft bzw. Universität zu verteilen.» Alexander bestätigt die Situation: «Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, vor meiner Flucht diese Sendung erhalten zu haben.»[1897] An anderer Stelle der Vernehmungsniederschrift von Hans Scholl: «Nach meiner ersten Flugblattaktion, die in der Nacht vom 28./29.1.1943 in München durch mich und durchgeführt wurde, konnte ich keine besondere Wirkung dieser Flugblätter feststellen. Ich habe von keiner Seite zu dieser Aktion einen Widerhall gefunden.»[1898] Offensichtlich wurde ein Teil der Postsendungen von der Geheimen Staatspolizei abgefangen.[1899] Die Briefsendungen an die eigene Adresse kommen nicht mehr an. Grund genug einen neuen Weg einzuschlagen, um etwas Neues zu probieren, in der Universität. Nüchtern betrachtet, welche Alternative bot sich noch? Eine Aktion in der Universität drängte sich ihnen regelrecht auf und bot eine reale und vielversprechende Möglichkeit für einen langersehnten Erfolg.

   Aus dem Vorausgegangenen wurde ersichtlich, dass für die Aktion am Donnerstag kein kurzfristiger Auslöser vorgelegen haben dürfte, der zu einer spontanen oder gar ungeplanten Aktion führte. Etwa 2 Wochen lang wurde die Aktion gezielt und durchdacht vorbereitet. So konzentriert sich nicht nur aus biographischen Erkenntnissen, sondern auch aus produktionstechnischer Sicht unausweichlich alles für Frieden und Freiheit auf den Donnerstag, den 18. Februar 1943, dem am 22. Februar 1943 im Justizpalast des Sitzungssaals 216 die Todesstrafe verhängt wird und noch am gleichen Tag vollzogen.[1900] Letzteres, ohne dass die Familienangehörigen davon in Kenntnis gesetzt wurden.[1901] In einem weiteren Prozess folgten lange Haftstrafen, ein Freispruch und drei Todesurteile. Zu den zum Tode Verurteilten gehörten Alexander Schmorell, Willi Graf und ihr Professor Kurt Huber.[1902] Ein anderer Tag als der Donnerstag, den 18. Februar 1943, ist unter der Berücksichtigung aller Gegebenheiten kaum vorstellbar. Durch den vorauseilenden Postversand vom 15. und 16. Februar 1943 musste genügend Zeit vergehen bis dieser die Adressaten erreicht. So diente der 17. Februar 1943 als Zeitpuffer, damit auch von allen ihre Post gelesen werden konnte. Ein Verzug nach dem 18. Februar 1943 kam, dies wurde bereits umfassend dargelegt, nicht mehr in Betracht. Mit der Absendung des Postversands an ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen, war der 18. Februar 1943 als Tag für die Auslegung von Flugblättern in ihrer Universität bestimmt.

    Umfangreiche Indizien mit hoher Wahrscheinlichkeit vermitteln den Eindruck, dass die Flugblattstreuung in der Universität durch und durch bis ins Detail geplant gewesen sein muss und sogar beinahe gelang. Was sicherlich nicht zum Plan gehörte, statt den Universitätsausgang zur Amalienstrasse zu nehmen, noch ein zweites Mal mit einer Flugblattauslegung anzusetzen. Den Tod als Begleiter, bekamen Hans Scholl und Sophie Scholl nicht mehr von sich los. Die Überzeugungen müssen grösser gewesen sein als die Angst.

Die Weisse Rose starb an ihren Idealen

    Trotz rigidem Zusetzen durch den nationalsozialistischen Unrechtsstaat gegen den Freundeskreis Weisse Rose, haben ihr Gedankengut, ihr Mut und ihr einzigartiges Handeln und das an ihnen begangene Unrecht, überlebt. Die Seelen der Besten, die dieses Land hatte, starben für Frieden und Freiheit.

    Genau 515 Tage später folgt die Zerschlagung des 20. Juli. Auch sie hätten sich möglicherweise begegnen können. Mit ihren aufrichtigen Überzeugungen verloren viele auf bittere, tragische und grausame Weise ihr Leben.