2           Przemysław Kędzierski über Grossvater Władysław Kędzierski

Unglaublich, aber eine wahre Begebenheit. Dankend, über das International Tracing Service (IST) und Rote Kreuz Polen konnte die Familie ausfindig gemacht werden, deren Familienmitglied einst am 24. Oktober 1943 an seine Familie aus dem Konzentrationslager Buchenwald-Weimar einen herzlichen Brief schrieb. Der Brief hat das Konzentrationslager nie verlassen, oder ging in den Wirren während des II. Weltkrieges verloren. Nun erhielt die Familie Kędzierski diesen Brief nach 75 Jahren, im 20. Todesjahr von Władysław Kędzierski.

   Der Enkel Przemysław Kędzierski berichtet über seinen Grossvater Władysław, er wurde 1919 geboren und hatte eine Schwester, Stefania Kędzierski. Er wuchs in einem pommerschen Dorf auf, in einer zahlreichen und armen Familie. Im März 1939 legte er eine Prüfung als Schmied ab und arbeitete anschliessend in seinem erlernten Beruf. Er arbeitete für einen Deutschen, der sich abschätzig gegen Polen verhielt. Am 1. September 1939 war Władysław Kędzierski unsicher, ob er zur Arbeit gehen solle. Er entschloss sich dennoch. Der deutsche Unternehmer begrüsste ihn an seiner Arbeitsstelle mit «"Heil Hitler"». Dann ging alles sehr schnell. Am gleichen Tag, als er mit dem Fahrrad nach Hause fuhr, geriet er zwischen die Fronten der deutschen und polnischen Armee. Glücklicherweise kam er unversehrt Zuhause an. Er sprach darüber, er sei bedingt durch diese Situation, noch nie so schnell Rad gefahren, wie an diesem Tag. In den Folgetagen wurde er zum Feind der Deutschen erklärt. Władysław Kędzierski hatte sehr gute Deutschkenntnisse. Eine Feindseligkeit ihm gegenüber sei durch einen jungen Deutschen entstanden, weil er und Władysław Kędzierski das gleiche Mädchen verehrten. Ein Gestapomann soll geäussert haben, er würde ihm gerne heraushelfen, doch das sei nicht so einfach und stellte ihn vor die Wahl. Entweder kämpfe er für die Wehrmacht, oder er komme in Haft. Władysław Kędzierski entschied sich für die Gefangennahme. Die Inhaftierung ins Konzentrationslager muss wohl an seinem 20. Geburtstag an jenem September vollzogen worden sein, erinnert sich sein Enkel Przemysław Kędzierski. Sechs lange Jahre war er im Konzentrationslager in Buchenwald-Weimar. Nach der Befreiung 1945 fand seine Familie durch Unterernährung einen entstellten jungen Mann vor. Der Enkel berichtet, nach seiner Ankunft habe sein Grossvater drei Tage lang geschlafen und zwischendurch etwas Milch getrunken. Mit der Zeit kam er zu Kräften und nahm wieder die Gestalt an, wie ihn seine Familie vor dem Krieg kannte. Während seiner Inhaftierung verstarb sein Vater Damazy Kędzierski 1943 in Stutthof[1627]. Nach dem Krieg zog Władysław Kędzierski nach [X.], das bereits im März 1945 komplett zerstört war. Vor dem Krieg war [X.] eine sehr schöne Stadt. Die Stadt gehörte noch zu Polen.

    Nach [X.] kamen viele Polen, insbesondere aus den östlichen Teilen des alten Polens, vor allem aus Lviv oder Vilnius. Aus Lviv, die Stadt war bis 1945 polnisch, kam meine Grossmutter – Helena[1628]. Die beiden heirateten bald. Sie bekamen einen Sohn, Adam Kędzierski. Sie wohnten in der zerstörten Altstadt. Langsam begann der Wiederaufbau. Mein Grossvater fand eine Arbeit als Handwerksmeister in der Danziger Werft, wo er viele Jahre arbeitete. Den Grosseltern ging es soweit gut. Meinen Grossvater mochten alle, er war ein fröhlicher Mensch. Die Kriegserlebnisse holten ihn immer wieder ein und in diesen Phasen berichtete er über die damaligen Erlebnisse. Der sinnlose Hitler-Krieg und die Gefangenschaft hinterliessen tiefbleibende Spuren. Nach dem Ableben von Władysław Kędzierski folgte ihm seine Frau Helena Kędzierski zwei Jahre später.[1629], [1630]

 

    Przemysław Kędzierski antwortete mir auf eine Frage: «Im letzten Abschnitt haben Sie geschrieben, dass Sie Friede und Freiheit vermissen. Diese Worte haben mich sehr berührt. Ich denke genauso wie Sie. Ich bedauere, wie der Zustand der Welt und der Menschlichkeit aussieht. Manchmal habe ich den Eindruck, dass die Menschen nicht lernen. Ich habe die Angst, dass die Gier, Xenofobie, der Egoismus und Macht unsere Welt zerstören könnten. So wie die Welt meines Großvaters ruiniert wurde. Leider sind die Narben noch sichtbar. Ich sehe diese jeden Tag, die Kugelspuren auf vielen alten deutschen Gebäuden in [X.]. Es macht mich traurig, dass die Kultur dieser multikulturellen Stadt unterbrochen wurde: Architektur, Märkte, Plätze, die nicht mehr existieren. Mich macht es traurig, auch die Geschichte den Vertriebenen. Ich hoffe, dass die Welt sich besinnen wird, und dass solche Albträume nie wiederkommen. Hoffentlich bin ich nicht zu naiv.» [1631]

    «Man könnte denken, dass diese Geschichte weit hinter uns ist. Es wurde aber anders. Nicht nur unsere Familie weiß dies, dass Władysław Kędzierski lebte. Dank Ihres Buches, werden die anderen diese Chance auch haben. Ich denke, auch er würde es erlauben, seinen Brief zu veröffentlichen. Ich denke sogar, er würde stolz sein, dass seine Geschichte aus der Kriegszeit in den 70er Jahren aufs Papier kam. Er hatte die Hoffnung, es gibt mal einen, der diese Geschichte veröffentlichen wird. Leider, das wollte keiner.

Wir sagen noch mal Danke! Ungeduldig warten wir auf den Brief vom Großvater. Der ist sehr wertvoll für uns

Mit freundlichen Grüßen,

 Adam, Radek und Przemek Kędzierski.»[1631]

    Familie Kędzierski überliess mir dankenderweise verschiedene Dokumente in polnischer Sprache. Eines umfasst 33 handschriftliche Seiten, die Władysław Kędzierski in den 70er Jahren dem International Tracing Service IST zukommen liess. Władysław Kędzierski beschreibt die damalige Zeit vom Überfall auf Polen und seiner Gefangennahme ins Konzentrationslager Buchenwald-Weimar. Władysław Kędzierski wurde mehrere Male schwer niedergeschlagen und ihm wurde mehrmals angedroht, dass er hingerichtet werden würde. Auch Scheinhinrichtungen wurden an ihm verübt. Immer wieder wurde er mit Handfeuerwaffen bedroht. Durch äusserst brutal Schläge gegen den Kopf und ins Gesicht ging er vielfach zu Boden, war bewusstlos, verletzt und verlor Blut. Dobra, ein Kamerad von Władysław Kędzierski, starb in seinem Beisein an den Folgen der unmenschlichen Traktierungen im Konzentrationslager. Er selbst war so geschwächt, dass er ihm nicht helfen konnte.[1632]

   Warum er die brutalen und menschenverachtenden Strapazen überlebte, dürften zwei wesentliche Gründe belegen. Seine Deutschkenntnisse die ihm die Kommunikation mit den Wehrmachtssoldaten, SS-Angehörigen und mit der Geheimen Staatspolizei ermöglichten und seine Behutsamkeit wie er auf die brutalen Besatzer reagierte. Das dürfte ihm neben viel Glück, das Überleben ermöglicht haben. Seine Verletzungen alleine betrachtet, hätten tödlich enden können. Die erschütternde rohe Gewalt an ihm, an einem jungen unschuldigen und beinahe hoffnungslos ausgelieferten polnischen Bürger, zieht sich durch alle 33 Seiten Zeitgeschichte. Bei der Übersetzung konnte ich nicht jedes Wort exakt ins Deutsche übersetzen. Doch so viel habe ich verstanden. Wie tief muss ein Volk gefallen sein, eine solche und zugleich sinnlose Grausamkeit an unschuldigen und wehrlosen Menschen als selbstverständlich auszuleben. Wer gab ihnen dieses Recht.

   Die damaligen Kommandeure, die unter anderem mit Krieg in Polen einmarschierten und jene, die unsägliches Leid der polnischen Bevölkerung aufbürdeten, leben wohl nicht mehr und wurden mehrheitlich ihrer Taten vermutlich auch nie belangt. Die einzige Genugtuung, sie lebten in ständiger Angst, dass nicht doch noch eines Tages der Staatsanwalt mit der Anklageschrift sie zur Verantwortung zieht. Auch eine Form der Bestrafung. Umso mehr müssen nachfolgende Generationen heute dafür sorgen, dass sich nie mehr eine solche Grausamkeit wiederholt. Schon zweimal ging wegen Deutschland ein Krieg hervor. Wir können uns mit nichts herausreden. Jeder hat einen Kopf zum Denken. Nach jedem Weltkrieg wurde Deutschland eine neue Chance zuteil und die Schuld grosszügig beglichen. Die meisten der Opfer blieben mit ihren Verlusten sich selbst überlassen. Allen dürfte bewusst sein, was geschieht, wenn Deutschland einen dritten Krieg heraufbeschwören würde. Derzeitige Tendenzen lassen Zweifel aufkommen, gehen sie vom Volke oder durch unsere Politik aus, ob das alle verstanden haben. Auch was die Flüchtlingspolitik, Ausländerfeindlichkeit, den erneuten Judenhass, die Armut und die unverhältnismässige Geldverteilung betrifft. Ein unüberlegter, um nicht zu sagen, ein dummer Spruch, könnte manches, auch unkontrolliertes Feuer entfachen.

    Analog der renommierte Historiker Niall Ferguson: «...Wir erleben eine Art Kulturkrieg... ...Wir schlafwandeln in Europa und den USA in eine Art Bürgerkrieg, weil wir unterschätzen, wie toxisch der Hass in den Onlinemedien ist... ...Eine Politik, die Deutschland an die erste Stelle setzt und Europa an die zweite, wird in einem Desaster enden...»[1633]

   Niemand und kein Land kommt zuerst. Alle Menschen haben gleiches Anrecht, auf ein glückliches Leben, nebeneinander.

    Meine innigste Dankbarkeit gegenüber der Familie Kędzierski habe ich auf Seite 744 unter "Danksagung" zum Ausdruck gebracht.