6           Situation Geheime Staatspolizei München

Die Beamten standen in der Vorbereitung zum ersten Prozess zwar unter erheblichem Zeitdruck, am 18. Februar 1943 erfolgte die Verhaftung von Hans Scholl[1598] und Sophie Scholl,[1598] zwei Tage später die von Christoph Probst[1599]. Am 22. Februar 1943[1600] fand die Gerichtsverhandlung mit der Verkündung der Todesurteile statt, die am gleichen Tag vollstreckt wurden. Dennoch hätten die Vernehmungsbeamten die Kriminaltechnische Untersuchungsstelle stärker einbeziehen können. Würde heute ein Beschuldigter von sich sagen, bei mir findet ihr nichts, weil der Beschuldigte den Datenträger seines Computers gelöscht hat, so muss ein Kriminalbeamter zumindest wissen, dass möglicherweise das Speicher­medium durch die Kriminaltechnische Untersuchungsstelle (KTU) rekonstruiert werden kann. Vernehmungsbeamte müssen nicht wissen wie eine Datenrekonstruktion funktioniert, ihnen muss lediglich bekannt sein, dass die Kriminaltechnik gelöschte Daten unter Umständen wiederherstellen kann. Genau diese Situation lag bei der Geheimen Staatspolizei in München vor. Die KTU wurde ganz offensichtlich zu wenig einbezogen. Die involvierten Beamten, die bei den Vernehmungen des Widerstandskreises Weisse Rose technische Fragen stellten, waren, was das Vervielfältigungsverfahren und die Flugblatt-Herstellung betrifft, ungenügend oder vielmehr gar nicht ausgebildet.[1601] Dies zeigt sich durch die Antworten der Angeklagten. Wenn ein Auto durch die Folge eines leeren Tanks zum Stillstand gekommen ist, dann erübrigt sich jede weitere Frage warum der Motor nicht anspringt. Mag sein, dass die Vernehmungsbeamten die Beschuldigten absichtlich durch dilettantische Fragestellungen zu Aussagen und Versprechern verleiten wollten, das heisst, dass jemand etwas äussert, das er eigentlich nicht sagen wollte. Das würde einem klassischen Versprecher nach dem Psychoanalytiker der Tiefenpsychologie, mit jüdischer Abstammung, Sigmund Freud gleichkommen.[1602] Siegmund Freud dürfte jedoch durch seine Abstammung in der Ausbildung von Kriminalspezialisten während der nationalsozialistischen Zeit keinen Einfluss gehabt haben. Dennoch wurde an einigen Stellen der Vernehmungsniederschriften aufgezeigt, dass die zuständigen Beamten einiges aus den Mitteilungen ihrer Befragten nicht erkannten und infolgedessen wohl auch nicht verstanden. Sophie Scholl und Hans Scholl konnten sich mit ihren Darstellungen zur Flugblatt-Herstellung anfangs durchsetzen. Dem Kern des Widerstandskreises entstand daraus kein Vorteil, doch für jene aus ihrem Umfeld, die mitwirkten, wie die Weisse Rose in Ulm und den Mitwissern. Ob Sophie Scholl gleichfalls Flugblätter herstellte, geht aus den Gerichtsunterlagen nicht eindeutig hervor. Aus der Niederschrift von Sophie Scholl: «Die Abzüge haben wir dann gemeinsam auf unserem Vervielfältigungsapparat hergestellt.»[1603] Diese Aussage fiel allerdings erst in einer Phase, in der die Geschwister Scholl versuchten, das Umfeld zu schützen oder Vorhaltungen weitgehend herunterzuspielen oder umzudeuten. Die Vernehmungsniederschriften bezeugen, dass Sophie Scholl mit den technischen Abläufen auffällig gut vertraut war. Viele wichtige Aussagen zur Auswertung insbesondere der Flugblattauflage stammten von ihr. Ohne ihre präzisen Details wäre nach über 75 Jahren ohne Zeitzeugenaussagen eine Aufarbeitung der Flugblatt-Herstellung extrem schwierig geworden. Riesige Lücken wären die Folge gewesen. Ohne Sophie Scholl wäre die Flugblattauflage des V. und VI. Flugblatts nicht mit so hoher Genauigkeit bestimmbar gewesen. Dafür müsste ein Grund vorliegen. Kann sein, weil sie sich als junge Frau bei der Mitwirkung neben ihrem Bruder und ihren Freunden Akzeptanz und Anerkennung aneignen musste und das kannte sie auch durch Erfahrung aus ihrem Elternhaus mit fünf Geschwistern. Sie dürfte sich unweigerlich für alles interessiert haben, auch wenn dies möglicherweise nicht immer ihrem Naturell entsprach. Sie dürfte durch Kompetenz, auf breitem Gebiet innerhalb des Kreises, unentbehrlich geworden sein. Was machte sie nun mit ihrem technischen Wissen und wofür brauchte sie das? Viele Ideen stammten von ihr, bereits ab Mai 1942 vermutlich die Flugblatt-Verbreitung.[1604], [1605] Aus der Vernehmungsniederschrift von Sophie Scholl: «Sehr bald mussten mein Bruder und ich einsehen, dass durch dieses Vorgehen unsererseits eigentlich nichts getan sei, das geeignet sein könnte, den Krieg auch nur um einen Tag abzukürzen. Bei der gegenseitigen Aussprache mit meinem Bruder kamen wir schliesslich im Juli vorigen Jahres überein, Mittel und Wege zu finden auf die breite Volksmasse in unserem Sinne einzuwirken. Es tauchte damals auch der Gedanke auf, Flugblätter zu verfassen, herzustellen und zu verbreiten, ohne die Verwirklichung dieses Planes schon ins Auge zu fassen. Ob der Gedanke der Flugblatt-Herstellung von meinem Bruder oder mir ausging, weiss ich heute nicht mehr genau.»[1606], [1607] Fritz Hartnagel antwortet Sophie Scholl aus Russland in einem Brief vom 31. August 1942 auf eine offene Frage von Anfang Mai 1942 bezüglich der Beschaffung eines Bezugscheines zum Erwerb eines Vervielfältigungsapparates: «Den gewünschten Bezugschein kann ich nur unter Schwierigkeiten erhalten, ich habe immer noch Bedenken und weiß nicht, ob der Zweck eventuelle Unannehmlichkeiten rechtfertigen würde. Nimm meinen Gruß von Herzen, Dein Fritz».[1608], [1607]

München Wittelsbacher-Palais, Schaltzentrale der Geheimen Staatspolizei München 1943, Postkarte gelaufen 29.3.1900, Privatbesitz

Abbildung 222: München Wittelsbacher-Palais, Schaltzentrale der Geheimen Staatspolizei München 1943, Postkarte gelaufen 29.3.1900, Privatbesitz

Offensichtlich leistete Sophie Scholl die Vorarbeit zur Finanzierung des Widerstandskreises, indem sie im Vorfeld mit Eugen Grimminger persönlichen Kontakt pflegte, «[d]en Mann einer Jüdin, deren Verwandte bereits in den Osten deportiert sind, hat sie als möglichen Finanzier für weitere Aktionen ins Auge gefasst.»[1609] Während die Kommilitonen im Russlandeinsatz sind, organisiert Sophie Scholl Material, Vervielfältigungsapparat und Personal zur Ausweitung des Widerstands. Die Historikerin Barbara Ellermeier: «Sie hat die Infrastruktur aufgebaut, die die beiden Männer in den folgenden Wochen mit Inhalt füllen sollten und sich damit ihren Platz in der Widerstandsgruppe der Münchner Studenten erarbeitet.»[1610] Und sie brachte sich weiter bei ihrem Bruder ein und der folgte nicht grundlos seiner jüngeren Schwester. Als Sophie Scholl sich erfolgreich in diese Männerdomäne integrieren konnte, stellt sich gleich die Frage, war sie in dem Moment, als sie für alle Belange gebraucht wurde, immer noch als Frau diplomatisch zurückhaltend, oder behauptete sie sich dann auf ganzer Linie? Ihre Vernehmungsniederschrift lässt mehr zu, denn dort behauptete sich Sophie Scholl mit ihren nur 21 Jahren gegenüber dem lebenserfahrenen Robert Mohr auffallend stark. Und genau das soll sie auch in ihrem Elternhaus gelebt haben.[1611] Ob der Beamte aus Scham nicht tiefer nachfragte, „Fräulein Scholl haben Sie selbst auch Flugblätter vervielfältigt?“, bleibt offen. Diese Frage hätte von Robert Mohr erwartet werden dürfen. Frauen und Politik, ein technisches Thema wie Flugblatt-Herstellung, das gehörte nicht ins gesellschaftliche Weltbild deutscher Männer der damaligen Zeit.[1612] Vermutlich wurden ähnlich gelagerte Gedanken nicht zugelassen oder wie Sigmund Freud jetzt sagen würde, gar verdrängt. Hinzu könnte kommen, dass dem Vernehmungsbeamten Robert Mohr klar gewesen sein musste, dass Sophie Scholl ihm in Angelegenheiten der Flugblatt-Herstellung überlegen war. Vielleicht nicht nur in dieser Frage, sondern auch durch ihr gutgesinntes Wesen, durch ihre Wertvorstellungen, die sie unmissverständlich vertrat und der Nachwelt erhalten blieben.[1613] Robert Mohr verblieb in seiner minimalistischen nationalsozialistischen Beamtenrolle, der vielleicht auf Karriere durch Beförderung hoffte und offensichtlich nicht erkannte oder erkennen wollte, dass er zu jenen gehörte, die für die schmutzige Vorarbeit verantwortlich waren, weil am Ende die Todesstrafe drohen konnte und nach Kriegsende bei Vater Robert Scholl um ein Entlastungszeugnis winselte, anstatt sein begangenes Unrecht einzugestehen und die Verantwortung durch Einsicht zu übernehmen. Perfide wirken die in den Vernehmungsniederschriften zu lesenden Ermahnungen durch den Vernehmungsbeamten Robert Mohr gegenüber Sophie Scholl: «Ich gebe Ihnen den dringenden Rat, speziell auf diese Frage uneingeschränkt und ohne Rücksicht auf etwaige Nebenumstände, die Wahrheit zu sagen.»[1614] Ein weiteres Beispiel: «Wollen Sie, nachdem ich Ihnen die Angaben besonders Schmorell vorgehalten und ich Sie diesem gegenübergestellt habe nicht auch die Wahrheit sagen, zumal Sie durch ein längeres Leugnen Ihre Lage in der Sie sich befinden keinesfalls verbessern?»[1615] Willi Graf hatte an seiner Situation nichts zu verbessern, nichts konnte ihn retten, er wusste dies tendenziell und signalisierte das auch seiner Schwester, die ihm bei ihren Besuchen im Gefängnis gut zuredete. Eine weitere Stelle bezeugt die perfide Arbeitsweise der Geheimen Staatspolizei München. Am 26. Februar 1943, vier Tage nach den Hinrichtungen von Hans Scholl, Sophie Scholl und ihrem gemeinsamen Freund Christoph Probst, gibt Alexander Schmorell bei seiner Vernehmung zur Antwort: «Wo sich gegenwärtig Christoph Probst und die Geschwister Scholl aufhalten könnten, weiss ich nicht.»[1616] Die Beamten wussten, dass auf die Beschuldigten am Ende die Todesstrafe warten würde. Doch die Beamten schüchterten ihre Beschuldigten ein und drohten, um an Informationen zu gelangen, nur um ihre eigene Situation durch Ermittlungserfolg zu verbessern und nicht die der Beschuldigten. Armselig[1617] waren nicht die Maschinen, die der Widerstandskreis gegen Adolf Hitler in Stellung brachte, sondern all jene, die am Tod dieser unschuldigen Menschen mitgewirkt haben, denen ihr Seelenleben abhandengekommen sein musste. Die am Unrechtsstaat Beteiligten, hinterliessen nach Kriegsende Millionen tote und entstellte Menschen, in Grausamkeit nicht zu überbieten. Abertausende hatten sich zu keinem Zeitpunkt je zu verantworten. Manche machten sogar nochmals richtig Karriere oder unterhielten unbehelligt Jahrzehnte ein Millionenpublikum weltweit. Gerechtigkeit besteht nicht um jeden Preis durch eine Verbüssung einer Haftstrafe, sondern durch das einsichtige Eingeständnis einer persönlichen Fehlleistung gegenüber den Opfern und Hinterbliebenen. Das ist heute von Betroffenen nach jüngsten Gerichtsverhandlungen zu hören. Nicht die Rache, sondern das Eingeständnis befreit. Erstaunlicherweise hat uns die Weltgemeinschaft den Frieden sehr bald nach dem II. Weltkrieg, wenn ich das so sagen darf, angetragen. So handelt eine europäische Minderheit heute vollkommen zurecht, wenn sie einfordert, Europa dürfe den Dialog durch Gespräche niemals abbrechen, auch wenn die Gräben noch so gross sind. Was soll sich denn auf hoher politischer Ebene verändern, wenn keiner mehr miteinander spricht?