-           Zeitaufwendungen Produktion– Flugblatt VI

Mit den Parametern der Tabelle 45 auf Seite 389 wurden in Tabelle 44 auf Seite 388 alle Arbeitsstunden für die einzelnen Arbeitsanforderungen der Produktion berechnet und in Tabelle 55 für das Flugblatt VI übersichtlich dargestellt.

Tätigkeiten Arbeitsstunden
Mechanische Adressierung 12,1
Schablonenbearbeitung 0,9
Vervielfältigung 5,0
Farbauftrag 0,1
Papierfüllung 0,1
Schablonenabriss (2) 1,7
Schablone technisches Problem 0,9
Kuvertieren 5,9
Frankieren 1,2
27,82

Tabelle 55: Arbeitsstunden aller Tätigkeiten aus Tabelle 44 Seite 388 entnommen, Arbeitsstunden wenn nur eine Person tätig wäre, Vervielfältigungszyklus beträgt 6 Sekunden pro Flugblattseite, Flugblatt VI Auflage 3000 Flugblätter (3000 Flugblattseiten))

Die errechneten Arbeitsstunden von 27,81 müssen in Abhängigkeit der anwesenden Personen und Aufgabengebiete gleichmässig aufgeteilt werden. Wenn die Arbeit nur durch eine Person in 4 Arbeitstagen erledigt werden müsste, beträgt die tägliche Arbeitsleistung ungefähr 7 Arbeitsstunden und das wäre sehr viel. Mit Tabelle 56 wurde eine theoretische Arbeitsteilung nachgestellt. Ausgehend davon, dass zwei Person am Rotationsvervielfältiger die Flugblätter vervielfältigen[1514] und eine Person die Schablonen fertigt, zwei Personen können Adressieren, eine Person Kuvertieren und peu à peu frankieren und die anderen unterstützen. Damit die Adressierung nicht zur Qual wird, können alle Beteiligten rollieren.

   Zwei Personen (P1, P2) können an diesem 12. Februar 1943 in 2,6 Arbeitsstunden 3000 Flugblattseiten vervielfältigen. Zu Beginn wurde eine Schablone, mit einer Bearbeitungszeit von 0,86 Arbeitsstunden, geschrieben. Üblicherweise können mit einer standardisierten Schablone ± 3000 Flugblattseiten vervielfältigt werden. Bei dieser Auflage treten dennoch zwei Schablonenabrisse auf, zusätzlich tritt auch noch ein technisches Problem ein. Deshalb werden 3 * 0,86 = 2,58 Arbeitsstunden durch die Bearbeitung von Schablonen hinzukommen. Insgesamt beträgt die Bearbeitung der Schablonen 4 * 0,86 = 3,4 Arbeitsstunden. Alexander Schmorell gab bei seiner Vernehmung an, am Nachmittag wurde mit der Vervielfältigung begonnen, am Abend seien sie fertig gewesen. Weil der Freundeskreis sehr wahrscheinlich mit einem kleinen Trick vervielfältigt, ist heute nachvollziehbar, wie das Alexander Schmorell für diesen Tag meinte.[1514] Freitagabend, endlich wohlverdientes Wochenende. Willi Graf verlässt gegen 20:15 Uhr die Wohnung der Geschwister Scholl, um in Gaissach bei Lenggries Skifahren zu gehen.[1515] Alexander Schmorell war laut Willi Graf etwas länger bei Hans Scholl.[1516] Vielleicht haben die beiden Freunde Hans Scholl und Alexander Schmorell noch ein wenig länger gearbeitet, vielleicht auch schon tagsüber die Adressierung fortgesetzt. Alexander Schmorell dürfte wesentlich länger als 4 Stunden bei Hans Scholl bei der Produktion mitgeholfen haben.[1515] Bis zum Abend wird ein Arbeitspensum von 11,5 Arbeitsstunden zusammengekommen sein, das mit 3 Personen in 6,1 Arbeitsstunden erledigt werden kann. Solange 3 Personen (P1, P2, P3) an der Produktion beteiligt sind, können zwei Personen (P1, P2) die Vervielfältigung übernehmen, (P1) kümmert sich um Farbauftrag und Papierfüllung mit 0,14 Stunden, parallel kann eine Person (P3) in 3 Arbeitsstunden die Adressierung für 277 Briefe vornehmen.

   Gisela Schertling erhält Kenntnisse von dieser Flugblatt-Herstellung.[1517] Wer weiss, vielleicht wirkte sie an dieser Flugblatt-Herstellung sogar mit. Hierzu scheinen keine Belege zu existieren.

Datum 1943 FS [h] FS [h] ∑ FS S [h] ADR [h] ADR [h] ∑ ADR KUV [h] KUV [h] ∑ KUV FRA [h] ∑ FRA Summe [h] AV [h]
  P1 P2   P1 P3                  
12.2 2,6 2,5 3000 3,4 3,0   277     0     11,5 6,1
          P1 P2                
13.2         2,0 2,0 366     0     4,0 2,0
          P1 P2   P3            
14.2         1,6 1,6 284 1,45   275     4,6 1,6
          P1 P2   P1 P4   Alle      
15.2 Vormittags       1 1 183 0,75 0,75 284     3,5 1,75
15.2 Nachmittags             1,5 1,5 550     2,9 1,45
15.2 Abends                   1,2 1110 1,2 0,3
5,1 3000 3,4 12,1 1110 5,9 1110 1,2 1110 27,82 13,07

Tabelle 56: Arbeitsverteilung ab 12.2-15.2.1943, 1-n Personen übernehmen Postversand und 2 Personen die Vervielfältigung, Zeitangaben in [h], alle Daten sind Tabelle 44 Seite 388 entnommen, Vervielfältigungszyklus beträgt 3 Sekunden pro Flugblattseite, Flugblatt VI, Auflage 3000 Flugblätter (3000 Flugblattseiten), 1110 Postsendungen mit 1110 Frankierungen

Abkürzung

Bedeutung

P1 bis P4

Personen die an der Produktion beteiligt sind

FS

Zeit für Vervielfältigung von Flugblattseiten

S

Zeit Schablonen schreiben

ADR

Zeit für Adressierung

KUV

Zeit für Kuvertierung

FRA

Zeit für Frankierung

Summe

Arbeitsstunden, wenn eine Person alles alleine erledigen würde

AV

Arbeitszeitverkürzung, wenn mehrere Personen gleichzeitig arbeiten verkürzt sich die Arbeitszeit

Tabelle 57: Begriffserläuterungen für Tabelle 56

   Der Volksgerichtshof verhängt an diesem 12. Februar 1943 unerbittlich die Todesstrafe gegen die Geschäftsinhaberin Anna Krauss.[1518] Die Weisse Rose erfährt nichts darüber, auf welche Weise die Rote Kapelle zerschlagen wird. Ob der Widerstandskreis Anzeigen über Todesurteile aus der Münchner Tageszeitung las und sich darüber im Widerstandskreis austauschte, scheint unbekannt zu sein.

   Willi Graf befindet sich am Samstag, denn 13. Februar 1943, im Ski-Wochenende. In München wird sicherlich fleissig weitergearbeitet. Entweder ist Hans Scholl auf sich alleine gestellt oder Alexander Schmorell eilt zu seinem Freund und unterstützt ihn. Alexander Schmorell hat nach der Famulatur Russland nicht grundlos verlassen. Das schrieb er seiner Brieffreundin Fräulein Nelly.[1519] Sie müssen echte Freunde gewesen sein. Sophie Scholl schreibt noch an diesem Samstag aus Ulm an ihren Lebensgefährten Fritz Hartnagel einen Brief an die Front nach Russland.[1520]

   Am 13. Februar 1943 könnten 2 Personen (P1, P2) in 2 +2 = 4 Arbeitsstunden die Adressierung für 366 Briefe fortgesetzt haben. Durch die Arbeitsteilung wäre diese in 2 Stunden erledigt. Gisela Schertling berichtet später bei ihrer Vernehmung, dass am Samstag, den 13. Februar 1943, fertige Flugblätter fortgebracht wurden.[1521] Lieselotte Berndl? Josef Söhngen?

   Sonntag zum 14. Februar 1943 sollen die Briefsendungen weiterbearbeitet werden. Hans Scholl und Gisela Schertling machen an diesem Sonntag nach dem Ausschlafen ab 10 Uhr einen Tagesausflug bis 19:30 Uhr und holen Sophie Scholl gemeinsam um 21:06 Uhr in München am Bahnhof ab.[1522] Gisela Schertling ist angeblich müde und zieht sich auf das Zimmer von Sophie Scholl zurück. Nicht mehr nachprüfbar ist, ob Gisela Schertling beim Adressieren und bei der Abwicklung des Postversands nicht doch mithalf. Die Flugblatt-Herstellung und die Bearbeitung des Postversands müssen für den überwiegenden Teil des Tages des 14. Februar 1943 angehalten werden. Der Geburtstag von Gisela Schertling kam vor ein paar Tagen wahrscheinlich viel zu kurz, so bietet sich diese Gelegenheit, am Sonntag etwas gut zu machen. Aus der Vernehmungsniederschrift von Gisela Schertling geht hervor, dass Hans Scholl und Sophie Scholl sich ab 23 Uhr weitere Adressierungen vornehmen.[1523] Gleichzeitig falzt Alexander Schmorell Flugblätter zu Briefumschlägen und klebt diese.[1524] Am 14. Februar 1943 konnten in 1,6 + 1,6 = 3,2 Arbeitsstunden (P1, P2) weitere 284 Briefsendungen adressiert und in 1,5 Stunden (P3) 275 kuvertiert werden. Mit drei Personen ist die Arbeit in ungefähr 1,6 Arbeitsstunden pro Person für diesen Tag erledigt, macht ein gemeinsames Arbeitspensum von 4,6 Stunden. Willi Graf kommt noch am gleichen Tag um 22 Uhr nach München zurück und begibt sich direkt nachhause.[1525]

   Die grösste Flugblattauflage begann mit der Herstellung am 20. Januar 1943 mit vier Personen und endete mit den gleichen am 15. Februar 1943 mit der restlichen Bearbeitung des Postversands. Vor fast 4 Wochen wurden 8000 Flugblattseiten vervielfältigt. Hans Scholl, Sophie Scholl, Alexander Schmorell und Willi Graf legen nochmals alle Kraft in ihren Widerstand, dem wird jener schwarze Tag folgen, an dem die ersten Verhaftungen erfolgen. Ein Zitat lautet, auch eine schwarze Stunde hat nur 60 Minuten, doch die kommenden Stunden konnten dunkler nicht sein. Der Anfang vom tragischen Ende.

   Sophie Scholl bekommt am 15. Februar 1943 von Otto Aicher Besuch und holt ihn um die Mittagszeit am Holzkirchnerbahnhof in München ab.[1526] Warum an diesem Tag keine Produktionspause eingelegt wird, muss geklärt werden.[1527] Die weitere Verarbeitung der Postsendungen in der eigenen Wohnung kann erst wieder vonstattengehen, als der Besuch von Sophie Scholl die gemeinsame Wohnung noch am Abend verlässt. Um unbemerkt weitermachen zu können, wird die Bearbeitung des Postversands kurzfristig von der Franz-Joseph-Strasse ins Atelier der Leopoldstrasse verlagert.[1528], [1529] In dieser Zeit steht Adressierung, Kuvertierung und ein Teil der Frankierung an. Montags ist Professor Wilhelm Geyer für gewöhnlich nicht in München und laut Gisela Schertling sogar für einige Tage auswärts.[1530] So kann Sophie Scholl ihren Gast in die gemeinsame Wohnung in die Franz-Joseph-Strasse mitbringen, ohne in Verlegenheit zu kommen. Am Vormittag bearbeiten Hans Scholl und Sophie Scholl (P1, P2) im Atelier den Postversand für etwa 1,75 Stunden. In dieser Zeit können zu zweit in 1 Stunde 183 Adressierungen erledigt werden und in einer ¾ Stunde 284 Kuvertierungen. Während ihre beiden Lieben sich an den Postversand machen, kocht Gisela Schertling das Mittagessen.[1531] Um 12 Uhr ist der Mittagstisch gedeckt. Nur einer kommt leider erst später. So erfahren wir nicht aus seinem Tagebuch, ob die Künste der Köchin löblich waren. Vielleicht wurde nach dem Mittagessen sogar ein guter Kaffee gereicht? Das mit dem Kaffee hätte die Köchin ihm vorher ankündigen sollen. Am Nachmittag machen Hans Scholl und Alexander Schmorell für 1,45 Stunden mit der Kuvertierung von 550 Umschlägen weiter (P1, P3).[1532] Um 15 Uhr kommt Otto Aicher zu Sophie Scholl, die beiden haben etwas zu bereden und gehen spazieren.[1531] Willi Graff[1533] kommt um 18 Uhr in die Wohnung der Geschwister Scholl.[1534] Auch Sophie Scholl und Otto Aicher kommen zeitgleich hinzu. Otto Aicher möchte noch Hans Scholl sehen. Doch daraus wird nichts, obwohl er nur wenige Schritte entfernt arbeitet. Zumindest besagen das ihre Vernehmungsniederschriften. Otto Aicher und Inge Scholl dürften über die Widerstandstätigkeit nichts gewusst haben, zumindest stellt sich die Situation für Hans Scholl so dar, ansonsten hätten die Freunde den Postversand nicht ins Atelier verlagern müssen. Dazu Weiteres später.[1535] Während dieser Arbeit wird Hans Scholl bereits gewusst haben, warum dieser Briefversand nur an die Studentenschaft verschickt wird, spricht vermutlich mit seinem Freund "Alexander" nicht über Details. Was Freundschaft alles aushalten muss… Otto Aicher muss sich gegen 22 Uhr zurück auf den Weg zu Carl Muth machen, denn er übernachtet dort. Gisela Schertling ist bereits um 21 Uhr nachhause in die Lindwurmstrasse gegangen.[1531] Das sagt sie zumindest gegenüber der Geheimen Staatspolizei. Vermutlich verliess Alexander Schmorell für kurze Zeit am Nachmittag das Atelier und kam nach dem Eintreffen von Willi Graf am Abend ebenfalls zur Bearbeitung des Postversands direkt in die Wohnung der Geschwister Scholl zurück (P1 bis P4).[1536] Das dürfte nach dem Weggang von Otto Aicher stattgefunden haben. So werden alle noch die Frankierung, mit etwa 1,2 Arbeitsstunden auf 4 Personen verteilt, vollbracht haben. An diesem Tag wurde mit 4 Personen eine Arbeitsleistung von 7,6 Stunden erbracht.

   Kaum vorstellbar, dass Gisela Schertling sich die Produktion nur aus der Ferne ansieht, denn sie liefert bei der Geheimen Staatspolizei am 18. Februar 1943 wertvolle Details zum 15. Februar 1943. Gisela Schertling teilte der Geheimen Staatspolizei München mit, dass sie mit den Geschwistern Scholl und insbesondere mit Hans Scholl fast täglich beisammen war. Hätte Gisela Schertling zu ihrem geliebten "Hans" gesagt, so weit geht unsere Liebe nun doch nicht oder hat Hans Scholl abgelehnt?[1537] Letzteres scheint laut Gisela Schertling zuzutreffen. Wenn eine Partnerin oder ein Partner angeblich etwas tut, was einem so dermassen gegen den Strich geht und absolut nicht mit den eigenen Lebensvorstellungen und dem eigenen Weltbild in Einklang zu bringen ist…? Gisela Schertling muss bei ihrer Vernehmung retten, was zu retten ist, um den bevorstehenden Prozess nach den Verhaftungen ab dem 18. Februar 1943 vor dem Volksgerichtshof bestehen zu können. So schloss sie eine Mitwirkung im Widerstandskreis aus, räumte eine gewisse Gefälligkeit mit Unwissenheit ein. Hier ist sicherlich nicht kochen gemeint. Nach dem II. Weltkrieg wäre ihre Glaubwürdigkeit in Zweifel gezogen worden, wenn sie nachträglich eine Mitwirkung selbstdarstellend angegeben hätte. Dem Anschein nach lebte Gisela Schertling bis zu ihrem Lebensende zurückgezogen und vollkommen unauffällig. Durch welche Umstände sie Namen genannt haben soll oder nennen musste, kann nicht rekonstruiert werden. Das geben die Gerichtsunterlagen nicht her. So soll ihre Aussage wie auch weitere gewesen sein, Wilhelm Geyer sei antinationalsozialistisch gesinnt.[1538] Ob ihr das in den Mund gelegt wurde? Gleiches gilt für Hans Hirzel, der mit dem Namen Sophie Scholl in Verbindung gebracht wird,[1539] Franz-Josef Müller, der seinen Schulkameraden und Freund Hans Hirzel angeblich schwer bei der Geheimen Staatspolizei belastet haben soll.[1540] Dies kann mangels Überprüfbarkeit ebenfalls nicht rekonstruiert werden. Eigentlich ist ein separates Kapitel notwendig, um die Methodik der Geheimen Staatspolizei bei ihren Vernehmungen einmal zu durchleuchten. Dann wird vielleicht deutlich, dass nicht in jedem Fall Namen und Belastungsaussagen leichtfertig mitgeteilt wurden. Aus den Vernehmungsniederschriften geht nicht hervor, wie die angeblichen Aussagen zustande kamen. An manchen Stellen der Vernehmungsniederschriften könnte vermutet werden, dass die Beschuldigten mit haltlosen Anschuldigungen oder mit angeblichen Aussagen aus dem Umfeld konfrontiert wurden. Sehr deutlich zeigt sich die nationalsozialistische Sprache, die in die Vernehmungsniederschriften einfliesst. Keiner der Beschuldigten würde sich selbst vor der Geheimen Staatspolizei schlechtreden. Gisela Schertling und Sophie Scholl waren enge Freundinnen und von Hans Scholl war sie die Lebensgefährtin. Die beiden Studentinnen befinden sich mitten im Geschehen und beteiligen sich zusammen am Einkauf von Briefumschlägen, Briefmarken in auffälliger Menge und gleiches gilt beim Versenden der vielen lebensgefährlichen Briefsendungen. Die grosse Menge an Briefsendungen, die zur Post gebracht werden und Gisela Schertling eine Beteiligung bei ihrer Vernehmung einräumt, werden ihr vor Gericht zur Last gelegt.[1541] Darüber hinaus hat Gisela Schertling kein einziges Flugblatt kuvertiert, kein Flugblatt gelesen, nicht das von ihrem "Hans"? Hatte er doch in dieses Flugblatt seine edelsten Gedanken gelegt. Hans Scholl: «Das kommende Deutschland kann nur föderalistisch sein. Nur eine gesunde föderalistische Staatenordnung vermag heute noch das geschwächte Europa mit neuem Leben zu erfüllen». Und die Menschen folgen ihm später, ohne zu wissen, dass ein junger Student ihnen den neuen Weg bereits prophezeite. Ein Vordenker, an den die Welt erinnern wird und an all seine Weggefährten. Laut Anklageschrift vom 5. April 1943 geht hervor, dass Gisela Schertling vom Inhalt des VI. Flugblatt Kenntnis hatte.[1542] Die Gerichtsunterlagen über Gisela Schertling vermitteln den Eindruck, dass sie sehr genau über die Vorgänge im Bilde war. Fragen die Beamten konkret nach, kann Gisela Schertling dem Anschein nach keine Details liefern, was Hans Scholl und seine Freunde genau machen. Dies zieht sich durch das gesamte Aktenmaterial. Auch bei Gisela Schertling besteht wohl noch viel Aufarbeitungsbedarf. Allerdings dürfte dies sehr schwierig sein, denn sie sprach nach dem Krieg wenig über die damaligen Ereignisse.

   Am 15. Februar 1943 konnte ein Arbeitspensum von 8,6 Arbeitsstunden mit 4 Personen in 4 Stunden abgearbeitet werden. Bis zur Nacht kann die Vorbereitung für den Postversand vollständig abgeschlossen sein. In der Nacht gehen rechnerisch etwa 1060 Briefsendungen laut Protokoll um 222[1543] Uhr, vielleicht auch erst zwischen 23 Uhr und 23:30[1544] Uhr durch Hans Scholl, Alexander Schmorell und Willi Graf zur Post.[1545], [1546]

   Alexander Schmorell beschreibt die Aktion bei der Geheimen Staatspolizei München, diese notiert dazu: «Hans Scholl, Willi Graf und ich haben die von uns verfertigten Flugblätter gemeinsam zu verschiedenen Postämtern getragen und dort am 15.2.43 in den späten Abendstunden aufgegeben. Es mag ungefähr 22:00 Uhr gewesen sein. Wir gingen zunächst von Scholl's Wohnung weg zum Postamt in der Vetrinärstrasse, wo einer von uns seine Flugblätter in den Kasten warf. Wer das als erster war, weiss ich nicht mehr. Wir gingen von der Vetrinärstrasse aus durch die Kaulbachstrasse zur Hauptpost an der Residenzstrasse, wo der zweite von uns seine Sendung in den Kasten warf. Von der Residenzstrasse aus gingen wir durch die Maffeistrasse zur Neuhauser-Post, wo der Dritte seine Post absetzte. Einer von uns hatte dann noch einen kleinen Rest in seiner Aktenmappe. Um auch diese Flugschriften los zu werden, gingen wir zum Telegraphenamt am Hauptbahnhof, wo wir den Rest in den Kasten warfen.»[1547]

   Und weil alles auf dem Weg liegt und sich unweigerlich aufdrängt, folgen Wandparolen ohne Schablonenvorlage in Handzeichnung frei raus wie: «"Nieder mit Hitler" und "Massenmörder Hitler"»[1548], [1549] Sie sprechen jenen direkt an, der sich als Führer ansprechen lässt und für diese Weltkatastrophe, für eine zuvor noch nie da gewesene Grausamkeit, hauptverantwortlich ist. Der fabrikmässige Massenmord war mit nichts zu überbieten. Sie pinseln diese deutlichen Botschaften für ihre Bürgerinnen und Bürger, für ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen dieser Stadt an, und wieder ohne Sophie Scholl.[1550] Um den 15. Februar 1943 spricht Hans Scholl mit Alexander Schmorell darüber, die restlichen Flugblätter eventuell in der Universität auszulegen. Wann dies geschehen soll, bleibt nach "aussen" hin offen. Einen genauen Termin nannte Alexander Schmorell bei seiner Vernehmung nicht. Auch Willi Graf wusste von einer beabsichtigten Streuaktion in ihrer Universität.[1551] Die Vorstellung war, kurz vor dem Ende der Vorlesungen den Rest der Flugblätter vor den Hörsälen auszulegen.[1552] Ähnlich beschrieb dies Willi Graf bei seiner Vernehmung.[1551] ans Scholl schreibt irgendwann an diesem Montag, den 15. Februar 1943, einen Brief an seine Eltern.[1553] Inhaltlich wichtig ist an diesem Brief, Hans Scholl plant am Wochenende des 20. oder 21. Februar 1943 einen Besuch bei den Eltern in Ulm. Märtyreraktion − 18. Februar 1943 − ? Wie weit durchdacht lag die Planung zur bevorstehenden Aktion am 18. Februar 1943 innerhalb der Universität vor? An anderer Stelle dazu mehr.[1554]

   Am 16. Februar 1943 besorgt Sophie Scholl mit Gisela Schertling 50 Briefmarken für eine weitere Postsendung.[1555], [1556] Vermutlich wurde ein kleiner Posten weiterer Adressierungen vorgenommen. Bis auf 140 Briefmarken werden alle für den Postversand eingesetzt.[1557] Warum Sophie Scholl und Gisela Schertling 50 Briefmarken kauften, bleibt unklar. Eventuell hat Hans Scholl die restlichen Briefmarken verstaut und Sophie Scholl konnte diese nicht auffinden oder sie waren für eine gesonderte Aktion reserviert. Alle frankierten Briefe gehen noch an diesem Tag zur Post. Tagsüber räumen die beiden Freundinnen das Atelier auf.[1558] Am Abend gehen Hans Scholl, Sophie Scholl, sicherlich auch Gisela Schertling und Professor Wilhelm Geyer ausser Hause in ihrem Stammlokal essen und unterhalten sich über die politischen Verhältnisse.[1559] Bezahlen wird wohl der Professor, denn Studenten sind oft knapp bei Kasse, das war Professor Wilhelm Geyer sicherlich bewusst. Gegen 22 Uhr geht Gisela Schertling in die Lindwurmstrasse.[1560]

München Stadtkarte von 1894, Route Postversand 15./16.2.1943 Hans Scholl, Alexander Schmorell, Willi Graf, Privatbesitz

Abbildung 214: München Stadtkarte von 1894, Route Postversand 15./16.2.1943 Hans Scholl, Alexander Schmorell, Willi Graf, Privatbesitz

   Einem Nachkriegsbericht zu Folge soll Hans Scholl den Buchhändler Josef Söhngen an diesem Tag des 16. Februar 1943 aufgesucht haben.[1561] Hans Scholl hätte in der Nacht gegenüber Josef Söhngen von einer Flugblattstreuung in der Universität gesprochen und dass Hans Scholl das Gefühl habe, von der Geheimen Staatspolizei beobachtet zu werden.[1561] Josef Söhngen riet nach eigenen Angaben von einer Flugblattstreuung in der Universität ab.[1562] Wenn auch die letzten Tage anstrengend waren, schreibt Sophie Scholl[1563] an ihren "Fritz" noch ein paar liebe Zeilen nach Russland und Hans Scholl[1564] scheint auch noch bei guten Kräften zu sein, denn er schreibt seinen Brief an Rose Nägele nach Stuttgart. Sein letzter Brief, den Hans Scholl in Freiheit schreiben wird. Etwa zu diesem Zeitpunkt werden einige Gegenstände bis zur nächsten Aktion[1565] aus Sicherheitsgründen[1566] ins Atelier gebracht, wie auch der Vervielfältigungsapparat ROTO-PREZIOSA und die Schreibmaschine Remington Portable 2. Vermutlich geschah dies erst, als Wilhelm Geyer sich um einen externen Auftrag ausserhalb von München kümmerte und deshalb nur noch teilweise zum gemeinsamen Frühstück in die Franz-Josef Strasse gekommen sein dürfte.[1567] Gegenüber der Geheimen Staatspolizei schildert Sophie Scholl um den 19./20. Februar 1943, dass der Vervielfältigungsapparat vor 14 Tagen oder 3 Wochen ins Atelier gebracht worden sei.[1568] Innerhalb dieses Zeitraums zwischen dem 30. Januar 1943 und 5. Februar 1943 konnte keine Flugblatt-Herstellung festgestellt werden. Der Vervielfältigungsapparat müsste in dieser Zeit bei Josef Söhngen untergerbacht worden sein. Erst nach der Vervielfältigung des VI. Flugblatts konnte der Vervielfältigungsapparat im Atelier untergestellt werden. Dies wäre möglich gewesen, denn Professor Wilhelm Geyer war laut Gisela Schertling einige Tage (vermutlich tagsüber) nicht in München.[1569] Professor Wilhelm Geyer hätte dennoch unverhofft plötzlich in München eintreffen können. So muss angenommen werden, dass Sophie Scholl ihre Darstellung ohne erkennbaren Grund bewusst longierte. Möglicherweise versuchte sie, Josef Söhngen durch ihre Aussage zu schützen.

   Hans Scholl übernachtet heute bei seiner Lebensgefährtin Gisela Schertling.[1570] Er dürfte erst in den frühen Morgenstunden zu ihr gekommen sein. Für beide ihre letzte Zweisamkeit. Nur noch über einen letzten Brief vom 21. Februar 1943 wird Gisela Schertling die letzten Gedanken ihres geliebten "Hans" lesen können und diese verschwiegen bis zu ihrem Ableben 1994 für sich wahren.[1571] Auf ihrem Grabstein steht "Widerstandskreis Weiße Rose". Zwei Tage vor der Festnahme von Hans Scholl und Sophie Scholl wurde die Literaturwissenschaftlerin Mildred Harnack-Fish[1572] hingerichtet. Laut Überlieferung sollen ihre letzten Worte gewesen sein «und ich habe Deutschland so geliebt». Zunächst bestand eine langjährige Haftstrafe, die auf Drängen des Führers zu einem Todesurteil umgewandelt und am gleichen Tag vollzogen wurde. In den Jahren 1942 und 1943 ergingen viele Todesurteile gegen die Rote Kapelle. Sehr viele im Dezember 1942, im Mai, August und Oktober 1943 und auch 1944. In München ahnt bestimmt niemand, welches grauenvolle Schicksal andere bereits heimsuchte.

   Willi Graf nimmt in diesen Stunden des Dienstags zum 17. Februar 1943 unermüdlich Anlauf ins Rheinland.[1573]

   Hans Hirzel muss am 17. Februar 1943 bei der Geheimen Staatspolizei vorsprechen, unglücklicherweise fällt der Name Sophie Scholl.[1574] Die Beamten nehmen die Mitteilungen von Hans Hirzel vorerst nur zur Kenntnis, ohne Einleitung einer sofortigen Massnahme. Hans Hirzel weiss nichts davon und löst im Widerstandskreis, für den Notfall, einen vereinbarten Alarm aus. Möglich, dass der Notruf durch die Kette der Überbringer bei den Geschwistern Scholl nie ankam.[1575] Nach dem Frühstück mit Professor Wilhelm Geyer besucht Sophie Scholl mit ihrer Freundin Gisela Schertling die Vorlesung bei ihrem Professor Kurt Huber.[1576] Laut Vorlesungsverzeichnis dürften die beiden Studentinnen die Vorlesung Psychologisches Praktikum für Fortgeschrittene, Sprache und Charakter, Mi. 10-12 Uhr, besucht haben.[1577] Aus der Vernehmungsniederschrift von Gisela Schertling geht hervor, dass sie gemeinsam mit Sophie Scholl die Vorlesungen von Professor Kurt Huber von 10:15 Uhr bis 11 Uhr besuchte. Laut Vorlesungsverzeichnis bis 12 Uhr. Anschliessend seien die beiden zum Mittagessen gegangen. Zu diesem Zweck gingen sie entweder in die "Brennnessel", "Deutscher Kaiser" in der Wilhelmstrasse oder in die italienische Gaststätte "Bodega" in Schwabing. Manchmal hätten sie auch in der Geschwister Scholl Wohnung gekocht, wo Hans Scholl meistens zugegen war.

Gaststätte Seehaus am Kleinhesseloher See des Englischen Garten, Postkarte gelaufen 5.7.1942, Privatbesitz

Abbildung 215: Gaststätte Seehaus am Kleinhesseloher See des Englischen Garten, Postkarte gelaufen 5.7.1942, Privatbesitz

Meist verliess Gisela Schertling erst gegen 13:30 Uhr die Wohnung der Geschwister Scholl. Nach Austausch auch in literarischer Hinsicht wurde gemeinsam zu Abend gegessen, oft im Beisein von Professor Wilhelm Geyer.[1578] Gisela Schertling gehörte zum Lebensgeschehen der Geschwister Scholl, für beide die "Freundin" und für Hans Scholl sogar mehr. Am Nachmittag schreibt Sophie Scholl ihren letzten Brief in Freiheit an Lisa Remppis. Sie wirkt fröhlich und hört sich auf dem Grammophon das bekannte Forellenquintett von Franz Schubert an und schreibt, «lass doch bald von Dir hören».[1579] Gegen 16:30 Uhr bis 17:30 Uhr besucht Otto Aicher Sophie Scholl und Hans Scholl und verlässt sie gegen 19 Uhr wieder.[1580], [1581] Am Abend gehen Hans Scholl, Gisela Schertling und Sophie Scholl auswärts essen und gehen danach wieder in die Franz-Joseph-Strasse zurück. Laut Vernehmungsniederschrift von Sophie Scholl waren sie im Seehaus des Englischen Gartens.[1582] , [1583] Gisela Schertling schläft heute zuhause und verlässt gegen 22 Uhr die Geschwister Scholl. Sophie Scholl möchte ausschlafen und besucht deshalb am nächsten Vormittag die Vorlesung ihres Professors Kurt Huber, "Systematische Einführung in die Philosophie" Di, Do, Fr 10-11 Uhr, nicht.[1584], [1585], [1586] Otto Aicher soll sich noch telefonisch irgendwann am Abend bei den Geschwistern Scholl gemeldet haben.[1581] Über was wurde noch gesprochen, er war vor gut einer Stunde erst bei ihnen zu Besuch? Wann kamen die beiden zur Nachtruhe? Reichte die Zeit, um mal richtig ausgeschlafen zu sein? Für den 18. Februar 1943 sind Hans Scholl und Gisela Schertling am Donnerstag zum Mittagessen im Gasthaus Kaiser Friedrich in der Hohenzollernstrasse bereits verabredet.[1587] Am Nachmittag gegen 15:15 Uhr ruft Alexander Schmorell bei Willi Graf an. Sie verabreden ein Treffen an der Strassenecke bei der Ursulakirche. Alexander Schmorell: «Habe erfahren, dass in der Universität zwei Leute verhaftet worden seien beim Flugblatt-Verteilen und habe er in der Wohnung Scholl angerufen, keine Antwort erhalten, weshalb vermute, dass man Scholl und seine Schwester verhaftet habe».[1588], [1589]

   Weitere Todesurteile und Vollstreckungen ergehen an Kameradinnen und Kameraden der Widerstandsgruppe Rote Kapelle.[1590] Der jüdische Widerstand im Warschauer Ghetto ist so massiv, dass der Einmarsch durch die SS vom 19. April 1943 erst am 8. Mai 1943 endet. Verschiedene Quellen berichten, Mordechaj Anielewicz sei mit seiner 23-jährigen Lebensgefährtin Mira Fuchrer  auf ungeklärte Weise zu Tode gekommen, gefolgt von treuen Kameradinnen und Kameraden. Einige seien entkommen und sollen den Krieg überlebt haben.

Alexander Schmorell und Willi Graf, Treffpunkt am Nachmittag des 18. Februars 1943 bei der Ursulakirche, Postkarte gelaufen 20.7.1915, Privatbesitz

Abbildung 216: Alexander Schmorell und Willi Graf, Treffpunkt am Nachmittag des 18. Februars 1943 bei der Ursulakirche, Postkarte gelaufen 20.7.1915, Privatbesitz

   Der ehrerweisende Kniefall am Denkmal durch den deutschen Bundeskanzler Willy Brandt, der dem jüdischen Warschauer Ghetto Widerstand gewidmet war, dürfte vielen noch in guter Erinnerung sein.[1591] Im eigenen Land wurde Willy Brandt für seine Geste zwiespältig verstanden, für das Gastgeberland Polen war der unerwartete Kniefall vor dem Denkmal von grosser Bedeutung. Heute befindet sich an dieser Stelle eine Gedenkplatte, die an den 7. Dezember 1970, an den Kniefall und an die grosse Symbolik, die weltweit wahrgenommen wurde, erinnert. Demgegenüber liegt ein Schatten, den der Journalist Felix Bohr in einer Spiegel-Ausgabe mit der Überschrift "Barmherzigkeit für Massenmörder" veröffentlichte. «Kirchen halfen Kriegsverbrechern… Sie trugen Schuld an Massakern und Deportationen - und fanden Beistand bei Bischöfen. Irritierend energisch verlangten christliche Würdenträger die Freilassung von Nazitätern.» Darunter «Der Henker von Rom: Herbert Kappler hatte als Kommandeur der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes (SD) des Reichsführers SS in Rom am 24. März 1944 das Massaker in den Ardeatinischen Höhlen organisiert und mit durchgeführt, als 335 Italiener durch Genickschuss hingerichtet worden… Jahrzehntelang setzten sich hohe geistliche Würdenträger für Kappler und andere NS-Kriegsverbrecher ein - das ganze Ausmaß dieser Hilfe war bisher unbekannt Die Kanzler Adenauer, Brandt, Schmidt und weitere Spitzenpolitiker engagierten sich für ihn und andere im Ausland inhaftierte NS-Verbrecher. …»[1592]

Was mögen die Hinterbliebenen der Opfer gefühlt haben?