-           Überblick München – Streuung Flugblatt V Charge-2

Zunächst stellt Hans Scholl die Situation so dar, er habe vollkommen alleine die Flugblätter in München verteilt. Später räumte Hans Scholl ein, dass ihn Alexander Schmorell unterstützte. Hans Scholl verhält sich bezüglich Willi Graf weiterhin bedeckt. Die Geheime Staatspolizei kann nur das Notieren, was Hans Scholl zwangsläufig preisgeben muss: «Nach meiner ersten Flugblattaktion, die in der Nacht vom 28./29.1.1943 in München durch mich und Schmorell durchgeführt wurde, konnte ich keine besondere Wirkung dieser Flugblätter feststellen.»[1382] Hans Scholl muss versuchen, glaubwürdig zu wirken, wo er und sein Freund Alexander Schmorell Flugblätter in München verbreiteten, ohne dabei Willi Graf nennen zu müssen. Hans Scholl war deshalb gezwungen, den Bereich von Willi Graf auf sich und Alexander Schmorell bei den Mitteilungen über die Flugblatt-Verbreitung geschickt und nachvollziehbar aufzuteilen. Interessant ist, dass sich eine weitere Absprache zwischen den Geschwistern Scholl zeigt. Sophie Scholl äusserte zur Flugblattauslegung in München: «Mein Bruder hat angeblich vom Bahnhof aus in nördlicher Richtung die Flugblätter verteilt, während Schmorell den südlichen Teil der Stadt bearbeitete.» Die Geheime Staatspolizei konnte die Aussage von Hans Scholl quantitativ überprüfen, weil die Strassen bekannt waren, wo Flugblätter verteilt wurden.[1383] Wenn Willi Graf von der Franz-Joseph-Strasse Ecke Ludwigstrasse (WG-1) mit der Strassenbahn bis zum Odeonsplatz (WG-2) fährt, und die ersten Flugblätter in der Müllerstrasse (WG-3) Richtung Isar verteilt, wird Hans Scholl sehr wahrscheinlich nicht am Sendlingertorplatz gewesen sein, um dort selbst Flugblätter zu verteilen. Alexander Schmorell wird alleine in der Kaulbachstrasse (AS-2) Flugblätter ausgelegt haben. Hans Scholl hatte ein grosses Gebiet zu versorgen. Tabelle 53 zeigt in den jeweiligen Spalten, in welcher Reihenfolge jeder seine Flugblätter verteilt haben dürfte. Begonnen wird jeweils mit Ziffer eins. Die Thalkirchnerstrasse (WG-5) zieht sich sehr, das ist auf der Stadtkarte nicht vollständig ersichtlich. Damit die Strassennamen gut lesbar sind, musste das Kartenende etwas gekürzt werden, um mehr Vergrösserung für die Lesbarkeit der Strassennamen zu bekommen. Die Strassen, die ein "X" enthalten, kommen als Aktion für Hans Scholl eher nicht in Betracht. Die Kaulbachstrasse (AS-2) dürfte deshalb wohl Alexander Schmorell bedient haben und den Sendlingertorplatz (WG-1) übernahm sicherlich Willi Graf. Vermutlich nahm Hans Scholl den direkten Weg zurück in die Franz-Joseph-Strasse und nicht über die Ludwigstrasse (HS-10). Wo wer, in welcher Strasse Flugblätter auslegt, wird aus logischen Gesichtspunkten vorgenommen worden sein. Hans Scholl konnte nicht alles alleine bewerkstelligen und Willi Graf erinnerte sich nicht mehr an alle Strassen, in denen er aktiv war. Wenn sich zwei Personen am gleichen Ort aufhielten, würde dies keinen Sinn ergeben.

Strassen

Hans
Scholl

Alexander
Schmorell

Willi
Graf

Franz-Joseph-Strasse 13b, WG-1 Strassenbahn

HS-1

AS-1

WG-1

Schellingstrasse

HS-2

 

 

Theresienstrasse

HS-3

 

 

Maximilianplatz

HS-4

 

 

Promenadenplatz (Ritter-von Epp.-Platz)

HS-5

 

 

Marienplatz mit Kaufingerstrasse

HS-6

 

-

Karlsplatz (Stachus)

HS-7

 

 

Bahnhof

HS-8

 

 

Kaufingerstrasse, Marienplatz (zurück)

HS-9

 

 

Ludwigstrasse

(HS-10)

 

 

Odeonsplatz (Strassenbahn, Willi Graf)

 

 

WG-2

Sendlingertorplatz

X

 

WG-3

Müllerstrasse

 

 

WG-4

Thalkirchnerstrasse

 

 

WG-5

Kaulbachstrasse

X

AS-2

 

Amalienstrasse

 

AS-3

 

Kanalstrasse

X

AS-4

 

Thal(kirchnerstrasse)

 

AS-5

 

Tabelle 53: Flugblatt-Verteilung München, 28./29. Januar 1943, Flugblatt V Charge-2, Auflage 2000 Flugblätter

München Stadtkarte von 1894, Routen Flugblattstreuung 28./29.1.1943 Hans Scholl (HS), Alexander Schmorell (AS), Willi Graf (WG), Privatbesitz

Abbildung 191: München Stadtkarte von 1894, Routen Flugblattstreuung 28./29.1.1943 Hans Scholl (HS), Alexander Schmorell (AS), Willi Graf (WG), Privatbesitz

Überschneidungen ihrer Flugblattauslegung zeigen die Tabellenzeilen der Tabelle 53. Diese wurden überprüft, ob die Wegstrecken für die Flugblattauslegungen plausibel erscheinen und entsprechend korrigiert. Weil Willi Graf von der Franz-Joseph-Strasse am entferntesten Flugblätter verbreitete und dafür die Strassenbahn benutzte, konnte er diese beim Rückweg nach Mitternacht vermutlich nicht nehmen und musste deshalb den gesamten Weg zu Fuss zurücklegen und kam deshalb erst gegen 1:30 Uhr oder 2:00 Uhr in der Franz-Joseph-Strasse an.[1384], [1385]

    Die Strassenkarte Abbildung 191 enthält die angenommenen Flugblatt-Verteilungen der drei Freunde Hans Scholl, Alexander Schmorell und Willi Graf. Die nachfolgenden Seiten zeigen die historischen Orte, an denen Hans Scholl, Alexander Schmorell und Willi Graf sich durch Strassenzüge, an Gebäuden und Plätzen hindurchbewegten bzw. dort ihre Flugblätter häufig in kleinen Stapeln von 5 bis 10 Exemplaren verteilten.[1386] Zum Teil entsprechen die dargestellten Postkarten der damaligen Zeit. Einige sind sehr viel älter und wurden einige Jahre vor 1943 gedruckt. Trotz dessen spiegeln sie sehr eindrücklich die damalige Zeit wider, in der die drei Studenten ihre Flugblätter auslegten.

    Warum das VI. im Vergleich zum V. Flugblatt keine Leerzeilen und keine Doppelseite mehr besass, erklären drei Gründe. Eine Einseitenvervielfältigung braucht nur halb so viel Zeit zur Herstellung und weil nur halb so viele Schablonen gebraucht werden, wird die Vervielfältigung kostengünstiger. Unter Kriegsbedingungen waren zeitweise keine Briefumschläge erhältlich oder sie waren rationiert. Für diese Situation wurden geschriebene Briefe zu einem Briefumschlag gefalzt, wenn die Rückseite ohne Text versehen war. Dies traf beim einseitigen VI. Flugblatt zu. Der Widerstandskreis muss sich darüber geeinigt haben und wich auf eine Einseiten-Vervielfältigung aus. Mit dieser Entscheidung machten sie sich bezüglich rationierter Briefumschläge flexibler und schonten ihr Widerstandsbudget. Die leere Rückseite konnte dann zur Adressierung verwendet werden. Gehalten wurde der gefaltete Brief mit Klebeband. Die Geheime Staatspolizei in München hält über die Angaben von Alexander Schmorell am 25. Februar 1943 in seiner Vernehmungsniederschrift folgendes fest: «Solange wir Briefumschläge zur Verfügung hatten, nahmen wir diese her. Als diese nicht mehr ausreichten, falteten wir die Flugblätter zusammen und schrieben auf der Aussenseite die Adressen darauf.»[1387] Das doppelseitige V. Flugblatt konnte nicht zu einem Briefumschlag gefaltet werden, denn die Rückseite enthielt Flugblatttext und war deshalb für den Postversand ohne Briefumschlag ungeeignet. Anstatt Postversand, folgte eine Streuaktion.

Hans Scholl – Flugblattstreuung München 28./29.1.1943

Hans Scholl, Schellingstrasse, Postkarte ungelaufen, Privatbesitz

Abbildung 192: Hans Scholl, Schellingstrasse, Postkarte ungelaufen, Privatbesitz

Hans Scholl, Maria Martha-Stift, Theresienstrasse 110, Postkarte gelaufen 8.9.1914, Privatbesitz

Abbildung 193: Hans Scholl, Maria Martha-Stift, Theresienstrasse 110, Postkarte gelaufen 8.9.1914, Privatbesitz

Hans Scholl, Maximiliansplatz, Postkarte gelaufen 3.9.1907, Privatbesitz

Abbildung 194: Hans Scholl, Maximiliansplatz, Postkarte gelaufen 3.9.1907, Privatbesitz

Hans Scholl, Promenadenplatz, (früher Ritter-von Epp-Platz), Postkarte ungelaufen, Pri-vatbesitz

Abbildung 195: Hans Scholl, Promenadenplatz, (früher Ritter-von Epp-Platz), Postkarte ungelaufen, Pri-vatbesitz

Hans Scholl, Marienplatz mit Kaufingerstrasse, Postkarte ungelaufen, Privatbesitz

Abbildung 196: Hans Scholl, Marienplatz mit Kaufingerstrasse, Postkarte ungelaufen, Privatbesitz

Hans Scholl, Karlsplatz (Stachus), Postkarte gelaufen 13.12.1942, Privatbesitz

Abbildung 197: Hans Scholl, Karlsplatz (Stachus), Postkarte gelaufen 13.12.1942, Privatbesitz

Hans Scholl, Hauptbahnhof, Postkarte gelaufen 6.10.1942, Privatbesitz

Abbildung 198: Hans Scholl, Hauptbahnhof, Postkarte gelaufen 6.10.1942, Privatbesitz

Hans Scholl, Marienplatz angrenzend Kaufingerstrasse, Postkarte gelaufen 25.3.1942, Privatbesitz

Abbildung 199: Hans Scholl, Marienplatz angrenzend Kaufingerstrasse, Postkarte gelaufen 25.3.1942, Privatbesitz

Hans Scholl, Ludwigstrasse, Postkarte ungelaufen, Privatbesitz

Abbildung 200: Hans Scholl, Ludwigstrasse, Postkarte ungelaufen, Privatbesitz

Sendlingertorplatz übernahm sehr wahrscheinlich Willi Graf, Postkarte gelaufen 7.9.1943, Privatbesitz

Abbildung 201: Sendlingertorplatz übernahm sehr wahrscheinlich Willi Graf, Postkarte gelaufen 7.9.1943, Privatbesitz

Alexander Schmorell – Flugblattstreuung München 28./29.1.1943

Alexander Schmorell, Ignatiushaus Kaulbachstrasse 31a, bezüglich 20. Juli verkehrte dort Pater Alfred Delp, gelaufen 5.8.1939, Privatbesitz

Abbildung 202: Alexander Schmorell, Ignatiushaus Kaulbachstrasse 31a, bezüglich 20. Juli verkehrte dort Pater Alfred Delp, gelaufen 5.8.1939, Privatbesitz

Alexander Schmorell, Universität Amalienstrasse, Postkarte gelaufen 15.12.1911, Privatbesitz

Abbildung 203: Alexander Schmorell, Universität Amalienstrasse, Postkarte gelaufen 15.12.1911, Privatbesitz

Alexander Schmorell, St. Annaplatz und Kirche, in dieser Zeit Kanalstrasse, Postkarte gelaufen 22.3.1912, Privatbesitz

Abbildung 204: Alexander Schmorell, St. Annaplatz und Kirche, in dieser Zeit Kanalstrasse, Postkarte gelaufen 22.3.1912, Privatbesitz

Alexander Schmorell, Thal(kirchnerstrasse), Privatbesitz

Abbildung 205: Alexander Schmorell, Thal(kirchnerstrasse), Privatbesitz

Willi Graf – Flugblattstreuung München 28./29. Januar 1943

Willi Graf, Sendlingertorplatz, gelaufen 7.9.1943, Privatbesitz

Abbildung 206: Willi Graf, Sendlingertorplatz, gelaufen 7.9.1943, Privatbesitz

Willi Graf, Müllerstrasse, sehr seltene Aufnahme, dankend gestiftet bekommen

Abbildung 207: Willi Graf, Müllerstrasse, sehr seltene Aufnahme, dankend gestiftet bekommen

Willi Graf, Thalkirchnerstrasse 48, Dritte Medizinische Klinik, Postkarte gelaufen 8.5.1943, Privatbesitz

Abbildung 208: Willi Graf, Thalkirchnerstrasse 48, Dritte Medizinische Klinik, Postkarte gelaufen 8.5.1943, Privatbesitz

Willi Graf, Sendlingertorplatz, gelaufen 7.9.1943, Privatbesitz

Abbildung 209: Willi Graf, Sendlingertorplatz, gelaufen 7.9.1943, Privatbesitz

Willi Graf, Odeonsplatz und Ludwigstrasse, Postkarte ungelaufen, Privatbesitz

Abbildung 210: Willi Graf, Odeonsplatz und Ludwigstrasse, Postkarte ungelaufen, Privatbesitz

    Von welchem Ort aus oder an welchen Personenkreis die Flugblätter ursprünglich versendet werden sollten, geht aus den Gerichtsakten nicht eindeutig hervor. In einem Gespräch in Gräfelfing vom 9. Januar 1943,[1388], [1389] zwischen Professor Kurt Huber und seinen Studenten Hans Scholl und Willi Graf, erörterte Hans Scholl, dass auch Flugschriften in Norddeutschland und im Rheinland verbreitet werden sollen.[1390] Das nächste Flugblatt, das in Umlauf kommt, ist nicht mehr doppelseitig.

    Die Produktion muss während des Besuchs von Elisabeth Scholl für 8-Tage ruhen.[1391] Elisabeth Scholl: «Während meines Aufenthaltes konnte ich keine Spur der Aktionen meiner Geschwister wahrnehmen.»[1392] Mit dem Besuch von Elisabeth Scholl durften sich keine Auffälligkeiten zeigen. Das ist produktionstechnisch sichtbar. In dieser Zeit wird in der Franz-Joseph-Strasse nichts Auffälliges bewerkstelligt. Die Produktion ist vollständig erlegen. Also wird nur die gefährliche Flugblatt-Verbreitung in der Nacht erledigt. Die Apparate und Druckstöcke und eventuell die übrigen 50[1393] Flugblätter, die noch von der V. Flugblattauflage übrig waren, müssen aus der Wohnung geschafft werden. Hierzu erwähnt Elisabeth Scholl: «Ich erbot mich, die Wohnung der beiden einer gründlichen Frühjahrsreinigung mit Räumaktion zu unterziehen, wozu wir uns zwei Tage Zeit nahmen. Auch dabei konnte ich keinerlei Gegenstände entdecken, die Verdacht erregt hätten.»[1394] Die Unterbringung der Widerstandsutensilien dürfte bei Josef Söhngen[1395] gewesen sein, weil das zu diesem Zeitpunkt als einer der sichersten Aufbewahrungsorte gegolten haben dürfte.[1396] Entweder wurde die Maschine noch am 27. Januar 1943 vor dem Eintreffen von Elisabeth Scholl ausser Hause gebracht oder unauffällig nach dem Eintreffen von ihr. Auf jeden Fall musste die Wohnung vor dem eigentlichen Saubermachen schon "sauber" sein.

    Hans Scholl denkt darüber nach, wie machen wir weiter. Seine Schwester Sophie Scholl brachte bereits den Gedanken von Wandparolen ein.[1397] Da Hans Scholl keinerlei Reaktion[1398] auf die grosse Flugblattaktion der letzten Tage feststellt, sollte die Idee von Sophie Scholl1397 jetzt umgesetzt werden, für die Hans Scholl bei seiner Vernehmung die Verantwortung übernimmt, um seine Schwester vor der Geheimen Staatspolizei zu schützen.[1399] Willi Graf notiert im Tagebuch «Heute arbeiten wir einige Stunden angestrengt.»[1400] Das betraf die Nacht. Alexander Schmorell teilte sinngemäss später bei seiner Vernehmung mit und bezog sich auf Flugblatt V Charge-1: «Über die Wirkung der von uns verfassten Flugblätter bin ich nicht unterrichtet, denn wir hatten keine Gelegenheit uns mit jemanden zu unterhalten und deren Urteil zu hören.»[1401] Ein grundsätzliches Problem und ein Schwachpunkt, die bei einer Flugblatt-Verbreitung aufkommt. Kaum oder keine Möglichkeit einer Rückmeldung. Wenn sich nichts einstellt, zum Verzweifeln. Dies wird innerhalb des Freundeskreises noch an anderer Stelle seine Wirkung entfalten, dazu später mehr.[1402]

    Aus einem Bericht der Geheimen Staatspolizei München geht hervor, dass bei einer Nachtaktion vom 28./29. Januar 1943 1300 Flugschriften alleine in München sichergestellt worden seien. Das entspricht 65 % der Empfänger, die ihr Flugblatt bei der Polizei abgegeben haben sollen.[1403], [1404]

    Willi Graf verbringt den 29. Januar 1943 zurückgezogen, privat und am Abend wieder ein anspruchsvoller Konzertbesuch wie am Vorabend.[1405] Im Laufe des 29. Januar 1943 schreibt Sophie Scholl einen Brief an ihren Bruder Werner Scholl.[1406] Werner Scholl soll im Bilde sein, dass seine Geschwister in München Widerstand leisten.[1407] Hans Scholl soll seinen Bruder unterrichtet haben, als er noch in Russland an der Front seinen Dienst verrichtete. So könnte verständlicher werden, wie Hans Scholl das gemeint haben dürfte, als er sich von seinem Bruder Werner am 22. Februar 1943, wenige Stunden vor seiner Hinrichtung mit den Worten verabschiedet haben soll, «keine Zugeständnisse».[1408]