VI. Bewegungsprofil – Produktion 1943

1           Produktion – Flugblatt V Charge-1

Im Studentenverzeichnis der Ludwig-Maximilians-Universität München, Sommer-Halbjahr 1942, sind Hans Scholl, Sophie Scholl, Alexander Schmorell und Willi Graf eingetragen, auch Marie-Luise Jahn und ihr Lebensgefährte Hans Leipelt und andere aus dem Umfeld sind ebenfalls immatrikuliert.[1132] Marie-Luise Jahn und Hans Leipelt setzten nach den ersten Hinrichtungen den Widerstand in München fort.[1133] Gisela Schertling und Sophie Scholl vereinbarten, gemeinsam in München zu studieren.[1134] Für eine Einschreibung bei der Universität zum Sommer-Halbjahr 1942 wird Gisela Schertling laut Liste noch nicht geführt. Aus dem Vorlesungsverzeichnis Wintersemester 1942/1943 geht hervor, dass Professor Kurt Huber, wohnhaft in Gräfelfing Ritter-von-Epp-Strasse 5,[1135] als ausserplanmässiger Professor geführt wurde. Nach dem Krieg wurde ihm zu Ehren die genannte Strasse in Prof.-Kurt-Huber-Str. umbenannt. Der Professor hatte den Lehrauftrag für experimentelle Psychologie, Ton- und Musikpsychologie und psychologische Volksliedkunde.[1136] Aus dem Dokument geht auch hervor, wann ihr Professor welche Vorlesungen hielt. Das Semester beginnt am 2. November 1942 und endet zum 27. Februar 1943. Das Semesterende wird unter weiteren Gesichtspunkten an anderer Stelle noch eine wichtige Bedeutung einnehmen.[1137]

    Wer aus dem Widerstandskreis für welche Aufgaben der Flugblatt-Herstellung der letzten beiden Flugblätter zur Verfügung stand, soll ein eingearbeitetes Bewegungsprofil innerhalb der Produktionsabläufe klären. Das Vorhaben wird unvollständig sein, weil schlichtweg nicht alle Aufenthaltsorte des Widerstandskreises lückenlos rekonstruiert werden können. Bekannt ist hingegen, dass der Widerstandskreis oft abends Konzerte aufsuchte. Eintrittskarten für Nachtaktivitäten sollen noch existent sein. Dennoch wird sich so manche interessante Konstellation zeigen.

Personen und Vorlesungsverzeichnis Universität-München von 1939, in diesem Jahr beginnt das Studium für den Widerstandskreis in Medizin, Privatbesitz

Abbildung 186: Personen und Vorlesungsverzeichnis Universität-München von 1939, in diesem Jahr beginnt das Studium für den Widerstandskreis in Medizin, Privatbesitz

Personen und Vorlesungsverzeichnis Universität-München von 1939, insgesamt drei Auszüge über Professor Kurt Huber, S. 33, S. 115, S. 188 Nr. 385-386, S. 118, Nr. 468, keine Archivkopie, Privatbesitz

Personen und Vorlesungsverzeichnis Universität-München von 1939, insgesamt drei Auszüge über Professor Kurt Huber, S. 33, S. 115, S. 188 Nr. 385-386, S. 118, Nr. 468, keine Archivkopie, Privatbesitz

Personen und Vorlesungsverzeichnis Universität-München von 1939, insgesamt drei Auszüge über Professor Kurt Huber, S. 33, S. 115, S. 188 Nr. 385-386, S. 118, Nr. 468, keine Archivkopie, Privatbesitz

Abbildung 187: Personen und Vorlesungsverzeichnis Universität-München von 1939, insgesamt drei Auszüge über Professor Kurt Huber, S. 33, S. 115, S. 188 Nr. 385-386, S. 118, Nr. 468, keine Archivkopie, Privatbesitz

    Für die Flugblätter V Charge-1 und Charge-2 sowie für das VI. Flugblatt sind alle berechneten Arbeitsaufwendungen zur Produktion auf Seite 389, Tabelle 45 (Parametergrundlagen) und Seite 388, Tabelle 44 (Arbeitszeitberechnungen für eine Person) wiedergegeben. Eine Gesamtübersicht, an welchen Tagen die Produktion wie lange stattfand, findet sich auf Seite 476, Tabelle 60 und Seite 478, Tabelle 63 (für die letzten beiden Tabellen mit Arbeitszeitverkürzung im Mehrpersonenbetrieb). Die Arbeitsaufteilung, die in den nächsten drei Kapiteln zur Produktion vorgenommen wird, trifft nur zum Teil auf die real stattgefundenen Ereignissen zu. Die Arbeitsverteilung der einzelnen Arbeitsschritte soll lediglich einen Nachweis liefern, ob die unterschiedlichen Arbeitsaufwendungen in der zur Verfügung gestandenen Zeit und mit den beteiligten Personen erledigt werden konnte. An den Hauptproduktionstagen der Flugblatt-Herstellung treffen die zeitlichen Aufwendungen historisch am ehesten zu. Selbstverständlich nie vollständig, aber sehr nahe an der Wirklichkeit.

Die Bearbeitung des Postversands erfolgte ungefähr ab dem 5. Januar 1943 mit dazugehöriger Flugblattauflage vom 20. bis 24. Januar 1943, 4000 (8000 Flugblattseiten) Exemplare Flugblatt V Charge-1, davon 3200[1138] Briefsendungen und 700 Flugblätter zur Fertigung für den Postversand Stuttgart durch Ulmer Schüler.[1139] Beteiligt waren am 20. Januar 1943 Hans Scholl, Sophie Scholl, Alexander Schmorell und Willi Graf. Eine Adressenliste musste zuvor für die Adressierung der Briefumschläge handschriftlich erstellt werden. Die Adressen stammen vom Deutschen Museum und wurden ausliegenden Verzeichnissen entnommen.[1140]

    Nachdenkliches, was sich vor Produktionsbeginn ereignete. Sophie Scholl schreibt am 1. Januar 1943 und am 3. Januar 1943 einen Brief von Ulm an Fritz Hartnagel nach Russland.[1141]

    Schon Anfang Januar 1943 denkt Willi Graf über den Verlauf des Krieges nach und äussert dies am 16. März 1943 bei der Geheimen Staatspolizei: «Schon um diese Zeit habe ich unsere militärische und politische Lage nicht mehr so fest und gesichert angesehen, wie man dies in der Öffentlichkeit, durch Zeitungen, Rundfunk usw. darzustellen versuchte.»[1142]

    Alexander Schmorell schreibt am 9. Dezember 1942 an seine russische Brieffreundin Fräulein Nelly: «Unruhe, furchtbare Unruhe - ist der Hauptzug in meinem hiesigen Leben. Ich würde es hier nicht mehr aushalten, hätte ich nicht hier einige Verpflichtungen. Nur diese geben mir das moralische Recht hier zu bleiben. Ich muss einstweilen noch hier bleiben. Sind diese Verpflichtungen beendigt, so ist auch mein Verbleiben in Deutschland beendet.»[1143] Dieser Brief von Alexander Schmorell dürfte seine Verbundenheit zum Widerstandskreis reflektieren, insbesondere gegenüber Hans Scholl. Alexander Schmorell wird bei der Geheimen Staatspolizei in wenigen Wochen sagen: «In der Person des Scholl erblickte ich einen Mann, der sich rückhaltlos meiner Idee angeschlossen hatte.»[1144] Weil so wenig darüber bekannt ist, wann Alexander Schmorell die Geschwister Scholl zur Produktion aufsuchte, zwei Passagen aus der Vernehmungsniederschrift von Hans Scholl vom 18. Februar 1943: «Schmorell ist eigentlich mein einziger Freund. Er besuchte mich fast täglich.»[1145] An anderer Stelle des gleichen Tages: «Mit ihm hatte ich mich zwar nicht zusammenbestellt, doch kommt er fast jeden Mittag zu mir. Einen besonderen Zweck haben diese Zusammenkünfte aber nicht[1146] Gisela Schertling bestätigte bei der Geheimen Staatspolizei bei ihrer Vernehmung, dass Alexander Schmorell zwischen Weihnachten und 9. Februar 1943 zwei bis dreimal die Woche bei Hans Scholl vorbeikam[1147] und dass Alexander Schmorell sogar einen Wohnungsschlüssel[1148] zur Franz-Joseph-Strasse 13 besass. Zu welchem Zweck? Zum Untertauchen, zur Beseitigung der Produktionseinrichtung, zur eigenständigen Fortführung der Produktion… Mindestens ein triftiger Grund muss vorgelegen und vor allem ein tiefes Vertrauensverhältnis zwischen den beiden FREUNDEN bestanden haben. Wir werden noch sehen… Im zweiten Teil seiner Aussage, versucht Hans Scholl seinen Freund in Schutz zu nehmen. Alexander Schmorell wird regelmässig zur Stelle gewesen sein und die Produktion massgeblich mitunterstützt haben, möglicherweise sogar zeitweise alleine. Ein Brief, den Hans Scholl an Otto Aicher am 6. Dezember 1943 schreibt, fast zeitgleich wie Alexander Schmorell an Fräulein Nelly nach Russland, unterstreicht die Eindrücke: «Hier habe ich einen Kreis Menschen um mich, an denen Du Deine Freude hättest[1149]

    Hans Scholl kam am 12. November 1942[1150] aus Russland zurück und lebte seit 15. November 1943 in der Franz-Joseph-Strasse 13.[1151] Auch Alexander Schmorell[1152] und Willi Graf[1153], [1154] reisten zum gleichen Zeitpunkt mit Hans Scholl wieder in die Heimat. «Reifte im Dezember 1942 bei uns der Entschluss, ein Flugblatt zu verfassen in grösserer Zahl herzustellen und zu verbreiten[1155] Dies soll Sophie Scholl gegenüber der Geheimen Staatspolizei München geäussert haben. Im Dezember 1942 wurde bereits ein gebrauchter Rotationsvervielfältiger ROTO-PREZIOSA gekauft.[1156] Mittels Rotationsvervielfältigung lässt sich erahnen, viele Menschen sollen mit ihren Gedanken durch hohe Flugblattauflagen angesprochen werden. Kurz bevor das Christkind 1942 kommen sollte, bekam Sophie Scholl vorab von Alexander Schmorell, mit dem sie seit einem Jahr[1157] vertraut ist, für den Kauf des Vervielfältigers eine Geldzuwendung. Eine weitere Geldzuwendung stammte von Eugen Grimminger bzw. Berta Wagner.[1158], [1159] Dieser Geldbetrag von 500 RM bekam Hans Scholl im Januar 1943 und wurde sehr wahrscheinlich für den Briefmarkeneinkauf eingesetzt. Im grossen Stil werden Saugpostpapier von 10000[1160] Blatt beschafft, mindestens 2000[1161] Briefumschläge, die jedoch nur vorerst reichen würden und 10 Schablonen, die als Vorlage für den Schablonenvervielfältiger aktuell gebraucht werden.[1162] Wer die Schablonenschreiber sind, geht ab Seite 254 "Die Schablonenschreiber – Flugblatt I-VI" hervor. Das Saugpostpapier wurde in verschiedenen Fachgeschäften in München zum Teil in grösseren Einheiten beschafft,[1163] selbstverständlich manchmal in Uniform,[1163] musste ja auch offiziell wirken und dem Charme von Hans Scholl konnte sich offensichtlich kaum einer entziehen.[1164] In der Literatur werden weitere Personen genannt, die dem Widerstandskreis Papier und Geldsummen zukommen liessen. Die Buchhaltung bestätigt, der Widerstandskreis brauchte keine Geldzuwendungen von vielen Tausend Reichsmark.[1165]

    Hans Scholl befindet sich seit dem 4. Januar 1943 wieder in München.[1166] Sehr wahrscheinlich ist zur gleichen Zeit auch Alexander Schmorell mit Hans Scholl zurück nach München gekommen, da er einige Tage in dieser Zeit bei Hans Scholl in Ulm verbrachte. Unter anderem wurde bei dieser Gelegenheit der in Stuttgart lebende Eugen Grimminger aufgesucht.[1167] Nicht nur er, sondern auch um den 20./21. November 1942 in Murrhardt Rose Nägele. Hans Scholl war an einer Mitwirkung ihres Bruders Hanspeter Nägele im Widerstandskreis interessiert, der jedoch absagte.[1168] Anfang Januar bekommt Hans Scholl an zwei Tagen hintereinander Besuch von Manfred Eickemeyer. Gisela Schertling beschreibt das Verhältnis zwischen beiden als politisch einig. Manfred Eickemeyer berichtet über Polen, dort seien viele Juden und Polen er-
schossen worden und er dies für grausam hält.[1169]

    Hans Scholl schreibt am 5. Januar 1943 einen Brief von München an Rose Nägele.[1170]

    Nach den Weihnachtsferien und einem Orientierungsgespräch mit Willi Bollinger macht sich Willi Graf von seinem Urlaubsort am 6. Januar 1943 von Saarbrücken auf den Weg nach München.[1171], [1172] Willi Graf bricht um 20:30 Uhr auf und kommt mit einer Verspätung in München an.[1173] Nachdem sich aus dem Widerstandskreis fast alle in München eingefunden haben, kann die Adressierung der bevorstehenden Postversandaktion, die über mehrere Städte erfolgen soll, beginnen.[1174] In dieser Anfangsphase dürften Hans Scholl und Alexander Schmorell alleine mit der aufwendigen Adressierung begonnen haben. Ansonsten lag vorerst alles auf den Schultern von Hans Scholl. Bis etwa zum 19. Januar 1943 dürfte grösstenteils die aufwendige Adressierung abgewickelt worden sein. Anschliessend wurde ab dem 20. Januar 1943 mit der Vervielfältigung begonnen. Vermutlich wurde parallel ein Rest an weiteren Adressierungen bis zum 24./25. Januar 1943 vorgenommen. An diesem 6. Januar 1943 besucht Hans Scholl mit Gisela Schertling im Bayerischen Hof ein Konzert und sie verweilen anschliessend noch im Atelier.[1175] Wenn das zutrifft, was Sophie Scholl in 3 Tagen ihren Eltern berichten wird, muss ihr Bruder sich mächtig ins Zeug legen, dreimal die Woche ab 8 Uhr medizinische Vorlesungen und nachmittags ab 17 Uhr angeblich wissenschaftliche Themen nach Herzenslust.[1176]

    Am nächsten Tag des 7. Januar 1943, kommt Willi Graf zur Teestunde bei Hans Scholl vorbei. Tatsächlich muss Fräulein "Hans" selbst den Tee machen, denn Sophie Scholl war zu dieser Zeit noch nicht in München. Wenn Alexander Schmorell fast täglich[1177] angeblich seinen Freund Hans Scholl besucht, so dürfte vielleicht sogar für drei Personen gedeckt sein. Vielleicht stimmte nichts, was Willi Graf später seinem Vernehmungsbeamten schildert, vielleicht bekam Willi Graf eine Schreibmaschine zum Adressieren von Briefumschlägen. Willi Graf geht wieder und kommt sicherlich nicht vor Langeweile nochmals am Abend für längere Zeit zu Hans Scholl. Zwar wird Willi Graf in sein Tagebuch schreiben «sonst nichts». Wer weiss schon, was dies im Einzelnen bedeuten soll, endlos Adressen getippt, sonst nichts? Oder heute zum Tee kein Cognac?[1178] Die Adressierung ist ja auch nicht gerade eine aufregende Tätigkeit, doch muss sie von fleissiger und möglichst von geübter Hand mit klarem Kopf erledigt werden. Gegen Nacht zieht sich Willi Graf zurück.

    Am 8. Januar 1943 überrascht Hans Scholl seine Schwester Sophie Scholl beim Abholen am Bahnhof. Sie gehen direkt und weil das üblich ist, samt Koffer in ein Beethovenkonzert. Sophie Scholl ist begeistert.[1179] Noch im Dezember 1942, kurz vor Weihnachten, besuchten Sophie Scholl und ihre Freundin Gisela Schertling Carl Muth in Solln.[1180] Auch Willi Graf ist ebenfalls beim Konzert, vielleicht auch noch weitere Personen. Willi Graf notiert für den 8. Januar 1943 in sein Tagebuch: «Am Abend ein Symphoniekonzert mit Edwin Fischer. Besonderen Eindruck machte das Klavierkonzert c-Moll von Beethoven. Diese Klarheit und Eindringlichkeit ist unübertroffen. Danach noch die 1. Symph. von Brahms[1181] Noch am gleichen Abend des 8. Januar 1943 treffen sich Hans Scholl, Alexander Schmorell und auch Willi Graf mit anderen Gästen im Atelier von Manfred Eickemeyer in der Leopoldstrasse.[1181] Sophie Scholl dürfte sich ebenfalls unter weiteren Gästen bei diesem Gesprächsabend eingefunden haben. Willi Graf schreibt ins Tagebuch, dass ihm der Abend richtig gut zusagte, endlich mal wieder eine tiefgreifende Unterhaltung, genauso wie ihn seine Familie und Freunde kennen und ihn aus der Erinnerung in späteren Jahren charakterisieren werden.[1182]

    Vermutlich haben sich Hans Scholl und Willi Graf an diesem schönen Abend verabredet, um am Folgetag, dem 9. Januar 1943, ihren Professor Kurt Huber in seiner Privatwohnung in München Gräfelfing am Nachmittag aufzusuchen.[1183] Das muss schon was heissen, wenn Willi Graf den ausgezeichneten Kaffee der Frau Gemahlin des Professors im Tagebuch extra erwähnt. Laut der Vernehmungsakte des Professors wurde über die Verbreitung von Flugblättern gesprochen und dafür notwendige Technik.[1184] Sie begegnen sich nicht zum ersten Mal ganz privat.[1185] Sophie Scholl schreibt an diesem 9. Januar 1943 einen Brief an die Eltern nach Ulm.[1186]

    Am 10. Januar 1943 fährt Willi Graf nach Pasing und kommt erst spät am Abend nach München zurück.[1187] Willi Graf sucht Unterstützer für den Widerstandskreis. Das ist einer seiner Hauptaufgaben neben der Unterstützung der Produktion. Für das Anwerben von Unterstützern brauchen die Freunde einen Kommilitonen mit besonderem Durchhaltevermögen. Ihr "Willi" muss die ideale Besetzung für diese Aufgabe gewesen sein, so zeigt sich dies rückblickend nach so vielen Jahren. Und er ist stets zur Stelle, wenn gerade Not am Mann ist… Der Widerstandskreis soll ausgeweitet werden, Widerstandsverbindungen mit anderen Universitäten ist das Ziel und Kontakte bis nach Berlin sollen aktiviert werden.[1188] Was zu dieser Zeit genau in der Franz-Joseph-Strasse geschieht, wird niemand je erfahren. Weil viel zu erledigen ist, wird nicht jeder zweite Tag gebummelt werden. Die Adressierung geht weiter, nicht von Geisterhand, denn von alleine wie jeder weiss macht sich nichts. Schwierige Informationslage, wenn nur Willi Graf treuherzig täglich Notizen in sein Tagebuch einträgt und alle anderen einen auf streng geheim machen.

    Am Montag, den 11. Januar 1943, soll eine Einweihungsfeier für Professor Wilhelm Geyer stattfinden,[1189] den die Geschwister Scholl sehr mögen. Das geht aus einem Brief von Sophie Scholl an ihre Schwester Inge Scholl vom 12. Januar 1943 hervor.[1190] Bekannt ist, dass Willi Graf mit seiner Schwester Anneliese Graf kommt,[1191] sicherlich viele weitere Freunde der Geschwister Scholl und selbstverständlich von Professor Wilhelm Geyer. Na ja, auch wenn's Montag ist, so eine Feier birgt Überraschungen, zumindest diese feucht und fröhlich und wer will da noch an Produktion denken. Doch das muss aufgeholt werden. Die Tage sind rasend schnell gezählt, das wissen nur wir heute, doch muss noch Unglaubliches auf den Weg gebracht werden.

    Am nächsten Tag, dem 12. Januar 1943, steht Willi Graf früh auf, denn er besucht eine Vorlesung, der Tag verlief ansonsten persönlich.[1192] Was die anderen machen, entzieht sich mal wieder jeder Erkenntnis. Aufgrund der hohen Anforderungen und verschiedenen Anliegen wird ganz sicher fleissig adressiert. Zitiert nach einem bürgerlichen Sprichwort, wer spät rein kann, kann auch früh raus. Hans Scholl[1193] schreibt an diesem Tag einen Brief an Otto Aicher und Sophie Scholl[1194] an ihre Schwester Inge Scholl, dem ein Eintrag ins Tagebuch[1195] folgt.

    Schon wieder Mittwoch, 13. Januar 1943. Tagsüber ereignet sich im Deutschen Museum eine studentische Ausschreitung, die in München so wohl noch nicht vorgekommen ist.[1196] Der regelmässige Gast von Sophie Scholl und Hans Scholl, Professor Wilhelm Geyer, berichtet später, dass die Geschwister Scholl nicht beabsichtigten, an der Veranstaltung teilzunehmen.[1197] Doch ein ihnen unbekannter Student geht dorthin sowie Anneliese Graf[1198]. Eigentlich besteht Anwesenheitspflicht. Die Lebensgefährtin des jungen Studenten geht, wie die Geschwister Scholl, ganz bewusst nicht mit. Ihr Geliebter glänzt nicht nur als belesener Student, er ist auch ein begnadeter Stenograph, der jedes gesprochene Wort der Redner festhält und auch die Zwischenrufe entrüsteter Studentinnen und Studenten. Jene, die nicht dort waren, konnten später aus seiner Mitschrift nachlesen, was im Münchner Museum los war. Interessant ist an diesem Pärchen, nur kurze Zeit später werden sie nach den ersten Hinrichtungen den Widerstand der Weisse Rose fortsetzen. Sie kennen sich von der Universität vielleicht vom Sehen, laut seiner Lebensgefährtin keinesfalls persönlich. Vor allem wissen sie nicht, dass die anderen im Widerstand tätig sind. So bleiben sie vorerst unerkannt… Die Geschwister Scholl laden ihren Professor Kurt Huber für 18 Uhr zum Abendtee in ihre Wohnung ein, auch Willi Graf[1199] befindet sich unter ihnen. Sophie Scholl, Traute Lafrenz halten sich zunächst zurückgezogen in der Wohnung auf. Ein Flugblattentwurf von Hans Scholl wird dem Professor gezeigt. Zu diesem Zeitpunkt besteht der Entwurf noch aus einer Seite. Ihr Professor nimmt stilistische Korrekturen vor und stimmt inhaltlich zu. ― Interessante Konstellation der gegenseitigen Offenbarung. ― Der Teeabend endet gegen 20 Uhr.[1200] Noch in der Nacht oder am darauffolgenden Tag notiert Willi Graf in sein Tagebuch «der Stein kommt ins Rollen.»[1201] Bis zu diesem Zeitpunkt sollte sich inhaltlich und zur Intension für das geplante Flugblatt nichts mehr ändern. Der spektakuläre studentische Aufruhr am Münchner Museum wird beim V. Flugblatt nicht mehr berücksichtigt. Sophie Scholl erhält an diesem Tag Post von Werner Scholl.[1202] Sie macht an diesem 13. Januar 1943 in einem Heft, das Gebete, Gedanken über den Glauben zu Gott enthält, eine handschriftliche Eintragung. [1203]

    Das Ganze wird über Nacht bei Willi Graf sacken und er schreibt am 14. Januar 1943 in sein Tagebuch: «Seltsam müde bin ich an manchen Stunden. Dann gelingt es mir nicht einmal, einen Gedanken zu fassen und zu überlegen. Es ist wieder diese Unruhe in mir, wie sie mich manchmal überkommt, ohne daß ich aber die letzte Ursache dafür wüßte. Zu viel Zeit geht damit vorbei, das ich mich mit dem Plan beschäftige. Ob das der richtige Weg ist? Manchmal glaube ich es sicher, manchmal zweifle ich daran. Aber trotzdem nehme ich es auf mich, wenn es auch noch so beschwerlich ist[1204] Willi Graf dürfte zeitweise viel stärker bei der Umsetzung involviert gewesen sein, als dies die Prozessakten erahnen lassen, anzunehmen, dass die Adressierung noch an diesem Abend fleissig fortgesetzt wird. Alexander Schmorell ist, aufgrund einer Aussage eines Bekannten, offensichtlich von dem Aufschrei im Münchener Museum begeistert gewesen.[1205]

    Von Willi Graf ist vom 15. Januar 1943 Privates mit seiner Schwester Anneliese Graf zu erfahren.[1206] Unklar mal wieder, was in der Franz-Joseph-Strasse passiert.

    Willi Graf geniesst das Wochenende zwischen Samstag und Sonntag, 16./17. Januar 1943. Sonntag wird bei ihm ein Ausflugstag unter klarem Himmel.[1207] Sophie Scholl und Hans Scholl befinden sich übers Wochenende sogar im Gebirge.[1208] Auch, wenn aus den vorausgegangen Tagen wenig von ihnen zu hören war, müssen die endlosen Adressierungen kontinuierlich weiter vonstattengegangen sein. Also raus aus der Bude, die Natur erfahren und den Kopf auslüften.

    Am 18. Januar 1943 geht Willi Graf zunächst zur Vorlesung. Willi Graf laut Tagebuch lebt Privates.[1209] Nach aussen hin bleibt dieser Tag ein unauffälliger Montag, eben wie das bei vielen Menschen so ist, schliesslich ist der Montag da, um sich vom Wochenende zu erholen. Drüben in der Franz-Joseph-Strasse wird wie immer geschuftet, auch wenn's keiner merkt. Am Nachmittag ist Willi Graf kurz bei Hans Scholl. Für Teemachen ist eigentlich keine Zeit. Doch bleibt unklar, was in der Geschwister Scholl Wohnung an diesem Tag geschieht. Vielleicht wollte Willi Graf das bei seiner Vernehmung auch gar nicht so deutlich herauslassen. Unanständig noch dazu, Leute auszufragen. Doch die Geheime Staatspolizei kennt keine Etikette und nimmt auf solche Befindlichkeiten keine Rücksicht. Sie kommen zu jeder Tag- und Nachtzeit unangemeldet und nehmen einem ungefragt die Wohnung auseinander. Nur mit Gerichtsbeschluss, weit gefehlt.

    Am 18. Januar 1943 findet zwischen Professor Kurt Huber[1210], [1211] und drei seiner Studenten Hans Scholl, Alexander Schmorell,[1212] Willi Graf[1213] und möglicherweise Eugen Grimminger[1214], [1215] in der Franz-Joseph-Strasse ein vertrauliches Gespräch zum Inhalt des anstehenden Flugblattentwurfs zum V. Flugblatt statt. Zwei Flugblattentwürfe, einer von Hans Scholl, der andere von Alexander Schmorell stehen zur Auswahl. Danach muss im Widerstandskreis eine Entscheidung gefallen sein. Der Entwurf von Hans Scholl soll auf die Drucktrommeln des Rotationsvervielfältigers kommen.[1216], [1217] Alexander Schmorell möchte ein Konzert besuchen und verlässt die Runde früher. Derweil werden jene Menschen zum Tode verurteilt, die eines Tages vielleicht ihre neuen Freunde hätten werden können. Sie gehörten der Widerstandsgruppe Rote Kapelle an. Einer unter den hingerichteten ist Arvid Harnack, der Bruder von Falk Harnack. Mittlerweile sind einige Namen dieser Widerstandsgruppe gerechterweise bekannter geworden. Bei allen den hier Gewürdigten wurde ihr Gnadengesuch in Berlin von höchster Stelle abgelehnt.[1218] Kaum vorstellbar, dass bei den vielen Tausend[1218] verhängten Todesurteilen alle Gnadengesuche in Berlin gelesen wurden. Insbesondere nach dem Verlust von Stalingrad. Die Anklagen ähneln sich sehr und unterscheiden sich deshalb kaum. Sie lauten: Beihilfe zur Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens und zur Feindbegünstigung, Spionage und Rundfunkverbrechen und wegen Zersetzung der Wehrkraft. Im Laufe des 18. Januar 1943 fallen weitere Todesurteile gegen die Rote Kapelle, sie ergehen an die Keramikerin Cato Bontjes van Beek, Schülerin Liane Berkowitz und Studentin Ursula Götze.[1219] Zwischen August 1942 und März 1943 wurden ungefähr 130 Menschen aus der Widerstandsgruppe Rote Kapelle verhaftet, mindestens 57 der Verhafteten, darunter 19 Frauen, wurden vom Volksgerichtshof und dem Reichskriegsgericht zum Tode verurteilt und hingerichtet, ohne Gerichtsurteil ermordet oder begingen in der Haft Suizid.[1220], [1221]

    Bis zum 19. Januar 1943 muss der überwiegende Teil des Postversands für das V. Flugblatt soweit abgeschlossen sein, denn dann folgt die Vervielfältigung der Flugblätter. Die erste Etappe ist mit der eintönigen Adressierung von 3200 Briefumschlägen grösstenteils geschafft.[1222] Aufgrund der anstrengenden Flugblattproduktion und persönlicher Aktivitäten stellt sich die Frage, wie war das bis dahin zu schaffen. Sophie Scholl schrieb bereits am 9. Januar 1943 an die Eltern, wie intensiv Hans Scholl seine Vorlesungen wahrnimmt. In Ulm musste der Eindruck entstehen, in München läuft alles bestens.[1223] Wer weiss, wer manchmal die Vorlesung sausen lies, um sich im Bett für eine weitere Runde umzudrehen, denn die Adressierung war zermürbend. Wer mag da schon tauschen. Auch wenn alle ganz genau wissen wollen, was sich in München ereignet, ist dies bis ins kleinste Detail nicht überliefert. Denkbar, dass an manchen Tagen die Produktion mit Personalwechsel und mehreren zeitlich versetzten Schichten fortgeführt wurde. Sophie Scholl in einem Brief an Otto Aicher vom 19. Januar 1943 aus München geschrieben: «Ich bin gerade nicht beieinander, etwas, das mir bis jetzt vollständig unbekannt war. Meine Gedanken springen hierhin und dahin, ohne daß ich richtig über sie gebieten könnte, ich habe ziemliche Kopfschmerzen[1224] Aus der Vernehmungsniederschrift von Sophie Scholl geht vermutlich der Aufwand der Adressierungen hervor: «Mehr Arbeit und Zeitaufwand war notwendig, all die vielen Briefumschläge zu besorgen und zu adressieren[1225] Sophie Scholl schreibt noch einen weiteren Brief.[1226] Parallel schreibt von München aus am gleichen Tag Hans Scholl einen Brief, ebenfalls an Otto Aicher.[1227] Und Willi Graf lebt an diesem 19. Februar 1943 zurückgezogen.[1228] Sophie Scholl und Willi Graf schildern sicherlich ihre Befindlichkeit, die mit den Aufwendungen im Widerstand für die gute Sache einhergehen, die sicherlich für wenig Schlaf sorgen. Am 19. Januar 1943, während in München am nächsten Tag die grösste Flugblattauflage bevorsteht, verteidigen jüdische Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer, angeführt von dem 24-jährigen Mordechaj Anielewicz, das Warschauer Ghetto, um eine beabsichtigte Deportation durch deutsche SS-Einsatzkräfte abzuwenden.[1229] Der Widerstandskreis Weisse Rose machte im Juli 1942 Zwischenstation in Warschau. Willi Graf schrieb seine Eindrücke im Tagebuch nieder, Hans Scholl berichtete seinen Eltern und ihrem Professor Kurt Huber in Briefen.[1230] Hans Scholl am 27. Juli 1942 im Brief an die Eltern: «Warschau würde mich auf Dauer krank machen. Gottlob fahren wir morgen weiter. Die Ruinen alleine würden einen wohl nachdenklich stimmen»…. «Auf der Strasse liegen halbverhungerte Kinder und wimmern um Brot und von der anderen Seite hört man aufreizende Jazzmusik, und während in den Kirchen die Bauern den Steinboden küssen, kennt die sinnlose Lust in den Kneipen keine Grenzen…»[1231] Am 17. August 1942 schreibt Hans Scholl an seinen Professor Kurt Huber: «Die Stadt,[1232] der Ghetto und alles Drum und Dran hatte auf alle einen sehr entscheidenden Eindruck gemacht. Es ist unmöglich, auch nur ein schwaches Bild dessen zu geben, was in Russland vom ersten Tag an nach der Grenzüberschreitung auf mich eingestürmt ist. Ich weiss nicht, wo ich anfangen sollte zu beschreiben».[1233] Willi Graf in seinem Tagebuch am 26. Juli 1942: «Am Mittag gehen wir in die Stadt. Das Elend sieht uns an. Wir wenden uns ab.»[1234] Und am 27. Juli 1942: «Hoffentlich sehe ich Warschau nicht mehr unter diesen Vorzeichen und Bedingungen».[1235]

    Ab dem 20. Januar 1943 begann die Vervielfältigung des V. doppelseitigen Flugblatts. Tagsüber werden die Geschwister Scholl sicherlich Professor Carl Muth zum Geburtstag gratuliert haben.[1236] Dieses V. Flugblatt hatte die grösste Auflage und wurde auch posttechnisch zum arbeitsintensivsten. Von diesem Zeitpunkt gerechnet begann etwa 14[1237] Tage zuvor, um den 5. Januar 1943, Hans Scholl vermutlich mit Alexander Schmorell mit der Bearbeitung des Postversands. Von vorerst 4000 hergestellten Flugblättern wurden 3200 postfertige Briefsendungen bearbeitet und gleiches soll für 700 Flugblätter durch Ulmer Schüler umgesetzt werden. Die restlichen 100 Flugblätter werden für Einzelstreuaktionen eingesetzt. Von den 3200 Briefsendungen fehlen etwa 100 Briefen eine aufgeklebte Briefmarke. An der Vervielfältigung sind an diesem Tag beteiligt: Hans Scholl, Sophie Scholl, Alexander Schmorell und drei Stunden Willi Graf. Willi Graf kann sich bei seiner Vernehmung nicht genau erinnern, ob er am 19. oder 20. Januar 1943 bei Hans Scholl zur Flugblatt-Herstellung war. Er hinterliess hierzu keinen Eintrag im Tagebuch. Willi Graf kann jedoch detailliert bei seiner Vernehmung[1238] angeben, dass er bei Hans Scholl in der fraglichen Zeit bei der Flugblatt-Herstellung involviert war und wann und warum er die Produktionsstätte in der Franz-Joseph-Strasse 13 gegen 20 Uhr verlässt. Im Tagebuch ist wiederum erkennbar, das Willi Graf in der Nacht des 20. Januar 1943 gegen 21:30 Uhr nach Köln aufbricht und dort vormittags in Köln und am Mittag in Bonn eintrifft.[1239] An einer anderen Stelle seiner Vernehmung des 7. März 1943 gibt Willi Graf den 20. Januar 1943 als Abreisetag an.[1240] Der Produktionsbeginn der Flugblätter spricht deshalb für den 20. Januar 1943.

    Für den Briefversand von 3200 Sendungen leiht Willi Graf Hans Scholl 50 RM, die für einen Kauf von 625 Briefmarken reichen würden.[1241] Warum das Geld Hans Scholl zu diesem Zeitpunkt für den Briefmarkeneinkauf nicht ausreichte, ist unklar, zumal erst vor wenigen Tagen durch Eugen Grimminger 500 RM eingegangen sind.[1242] Mag sein, dass unmittelbar vor dem Postversand nicht genügend Bargeld in der Produktionsstätte der Franz-Joseph-Strasse 13b vorlag. Zu diesem Zeitpunkt dürfte auch die Miete für die gemeinsame Wohnung angefallen sein und sonstige finanzielle Verpflichtungen. Für dieses Flugblatt V Charge-1 besorgte Willi Graf auf Bitten von Hans Scholl auch 50 Briefumschläge.[1243] Vielleicht beschaffte Willi Graf auch sehr viel mehr Briefumschläge. Mangelware waren sie in dieser Zeit kriegsbedingt oft und so ehrlich musst Willi Graf gegenüber der Geheimen Staatspolizei nicht sein, warum auch. Zuvor brauchte die Unternehmung in genügender Anzahl Adressaten. Diese wurden für das V. Flugblatt Charge-1 «im Deutschen Museum aus dem dort aufliegenden Adressbüchern der Städte, Jahrgänge 39-41 herausgeschrieben.»[1237] Die Adressen waren für den Postversand Wien, Salzburg, Linz/D, Augsburg, Stuttgart und Frankfurt/M bestimmt. Ebenfalls wurden 1300 Adressen für einen Stuttgarter Postversand aufgeschrieben. Um die restlichen Adressen von 700 Exemplaren, die in Ulm auf Briefumschläge geschrieben werden sollen, kümmerten sich die Ulmer Schüler Hans Hirzel und Franz-Josef Müller selbst.[1244] Für die Postverbreitung in Stuttgart erfahren die beiden Unterstützung durch Susanne Hirzel, der Schwester von Hans Hirzel. Bis zu diesem Zeitpunkt der Planung entsteht der Eindruck, dass Sophie Scholl selbst in Stuttgart 1300 Briefe zur Post aufgeben möchte.[1245] Hans Scholl und Sophie Scholl haben mindestens zweimal Adressen notiert und einmal soll auch Alexander Schmorell sie unterstützt haben.[1237] Hans Scholl zur handschriftlichen Adressierung: «Die Adressen hat außer mir auch noch Schmorell geschrieben. Beim Herausschreiben der auswärtigen Adressen im Deutschen Museum waren mir Schmorell und meine Schwester behilflich.»[1246] Der handschriftliche Zeitaufwand kann mit 30 Sekunden pro Umschlagadresse mit insgesamt 3200 * 30 s 3600 = 26,67 Arbeitsstunden angesetzt werden.[1247] Vielleicht halfen unbekannte Personen mit. Dies betrifft auch Willi Graf, den die Geschwister Scholl sehr lange heraushalten können. Der Stundenaufwand von 26,67 ist enorm hoch. Ein grosser Teil der Adressen muss bereits zum Starttermin zur Vervielfältigung der Flugblätter zum 20. Januar 1943 vorliegen und konnte zwischendurch sukzessive weiter fortgeführt werden. Vielleicht legte der Widerstandskreis einfach mal los, um zu sehen, wie alles läuft und wie viel Adressen zusammenkommen und ob sie das durchhalten neben den täglichen Aufgaben des Lebens, Studium, Briefeschreiben, Tagebucheinträge, Planung, Materialbeschaffung, Treffen, Gespräche, Ateliersabende, Besuche, Konzertbesuche und Urlaub usw., um dann konkret zu entscheiden wie am besten vorgegangen wird. Die Ärztin Traute Lafrenz-Page, eine frühere Kommilitonin und Freundin von Sophie Scholl und Hans Scholl, äusserte in einem Dokumentationsfilm, dass neben den Widerstandsaktionen weiter studiert wurde.[1248] Gleiches berichtet Lieselotte Fürst-Ramdohr: «Alex war bei seinen einsamen Reisen zur Verbreitung der Flugblätter einige Male in Bedrängnis geraten. Jedenfalls war ich jedesmal erleichtert, wenn er mit leerem Rucksack wieder erschien. Auf diese Weise gab es viele Abschiede und erleichterte Wiedersehen. Daneben absolvierte er trotz allem regelmäßig sein Studium, und er durfte ja auch nicht durch Fehlen in seiner Studentenkompanie auffallen, wie auch die übrigen Freunde geregelt weiterstudierten[1249] Hier zeigt sich, welche Arbeitsbelastung auf die Ausführenden der Produktion zugekommen sein dürfte. Schon ab November begann die Planung und Beschaffung von Materialien. Dann folgen etwa 8 Wochen Dauerbelastung, wie der weitere Verlauf der Produktion zeigen wird. Zum Adressieren werden zwei Schreibmaschinen verwendet, eine Erika 6 und eine Remington Portable 2.[1250], [1251] Wer wann zur Adressierung in dieser arbeitsintensiven Zeit zur Verfügung steht, kann nicht befriedigend rekonstruiert werden. Infrage kommen Hans Scholl, Sophie Scholl, Alexander Schmorell und auch Willi Graf. Willi Graf konnte die Produktion unterstützen, wenn er sich in München aufhielt und dafür existieren genügend Belege. Aus den Vernehmungsakten geht kaum Verwertbares hervor, wer bei der Adressierung wann konkret beteiligt ist. Nur das Endergebnis wurde durch die Geheime Staatspolizei München niedergeschrieben. Doch besagt der Volksmund, Papier sei geduldig. Einige Briefumschläge bleiben vom Postversand der Weisse Rose nach dem II. Weltkrieg erhalten und machen erkenntlich, wer sie mit Schreibmaschinenanschlag bearbeitet haben dürfte.[1252] Aufgrund der äusserlichen Aufmachung der Adressen bestätigt sich eigentlich der Schreibmaschinenanschlag von Sophie Scholl. Insbesondere der Briefumschlag der Abbildung 58 auf Seite 131 muss von Sophie Scholl, auf "ihrer" Erika 6 Schreibmaschine von Seidel & Naumann aus Dresden mit Poststempel vom 25. Januar 1943, geschrieben worden sein, ebenfalls Seite 132 Abbildung 59 vom 27./28. Januar 1943 und Seite 135 Abbildung 63 vom 27./28. Januar 1943. Sophie Scholl adressierte ganz offensichtlich Briefumschläge für Augsburg, Salzburg und Frankfurt. Für die Kurierfahrt Salzburg und Postversand Frankfurt ist Alexander Schmorell unter anderem zuständig. Die Schriftsätze wurden überprüft. Die Maschinenschriften entsprechen einer Erika Schreibmaschine. Insbesondere sind die Ziffern auffallend und unterscheiden sich von der Remington Portable 2.

   Hans Scholl wollte zum Vervielfältigen Standardpapier[1253] vermeiden, denn das hätte direkt nach der Vervielfältigung einzeln getrocknet werden müssen und dafür wird neben viel Zeit auch viel Platz benötigt. Der Trocknungsaufwand wäre sehr arbeitsintensiv geworden.[1254] Aufgrund der Tatsache, dass die bevorstehende Vervielfältigung des V. Flugblatts aus einer Doppelseite besteht, können die Flugschriften nicht zu einem Briefumschlag gefaltet werden. Der Text würde aussen stehen und die Briefe nicht durch die Post gelangen, sondern von der Geheimen Staatspolizei konfisziert werden. So fehlen noch 3200 − 2000 = 1200 weitere Briefumschläge. Wie die restlichen Briefumschläge besorgt werden ist nur zum Teil bekannt. Organisiert werden durch Sophie Scholl,[1255] Gisela Schertling,[1255] Traute Lafrenz,[1256] Alexander Schmorell,[1255], [1257] Willi Graf1255, [1258] und Fritz Hartnagel[1259] weitere Posten an Briefumschlägen. In welcher Grössenordnung ist nicht genau ermittelbar. Auch könnten ihr Professor Kurt Huber und Eugen Grimminger als Geber daran beteiligt gewesen sein.

    Am 20. Januar 1943 schreibt Sophie Scholl ihrem Bruder Werner Scholl, dass eine Lesung im Atelier in der Leopoldstrasse über Claudel in wenigen Minuten stattfinde.[1260] Sophie Scholl hat sich während der Flugblatt-Herstellung kurz zurückgezogen, um Werner Scholl noch ein paar liebe Grüsse zu übersenden. Durch die Korrespondenz zwischen Sophie Scholl, ihrem Bruder Werner Scholl und Willi Graf können die Tage zwischen dem 20. und 22. Januar 1943 flugblatttechnisch weitgehend rekonstruiert werden. Der Originaltitel von Monsieur Paul Claudel dürfte gelautet haben "Le soulier de satin". Die Urfassung von Monsieur war, was die Länge betrifft, sehr gediegen. Ab 1925 soll eine gekürzte Bühnenversion erhältlich gewesen sein. Eine aktuelle heutige Fassung hat laut Buchhandel 381 Buchseiten mit den Massen 14,4 x 2,7 x 22,7 cm. Eine Buchseite enthält etwa 200 Wörter, die in ungefähr 150 Sekunden vorgelesen werden können. Das Auditorium soll nicht einschlafen, weil kaum noch jemand mitkommt. Vielleicht ergaben sich kurze Unterbrechungen zur gemeinsamen Erläuterung von Inhalten. Für eine vollständige Lesung würden 150 s * 381 Seiten 3600 s = 15,9 Stunden zusammenkommen.[1261] Zu einer Buchversion von 1939 wird angegeben, 403 bis 415 Seiten, Otto Müller Verlag Salzburg, Titel: "DER SEIDENE SCHUH oder: Das Schlimmste trifft nicht immer ein". Selbst eine verkürzte Buchversion wird 3 Stunden oder mehr, für die Lesung im Atelier, in Anspruch genommen haben. Vielleicht wurde ein bestimmtes Kapitel bevorzugt. Die Lesung dürfte bis fast Mitternacht mit einer kurzen Pause stattgefunden haben. Zwei Aussagen stehen im Raum, die sich an einem Tag ereignet haben sollen und auch konnten. Weil die Vervielfältigung von Flugblättern nicht zwingend am Stück[1262] erfolgen muss, wäre denkbar, dass der Widerstandskreis ohne Willi Graf an der Lesung im Atelier teilnimmt und die Vervielfältigung am darauffolgenden Tag fortsetzt,[1263] insbesondere, weil Sophie Scholl zu Protokoll gab, sie und ihr Bruder hätten um den 21./22. Januar 1943 oder 22./23. Januar 1943[1264] Flugblätter vervielfältigt. Was strenggenommen sogar zutreffen dürfte, bestimmt zusammen mit ihrem Freund "Alex" dem Sonnenschein unter ihnen.

    In der Vernehmungsniederschrift von Willi Graf wurde festgehalten, Willi Graf sei am 20. Januar 1943 gegen 17 Uhr in die Franz-Joseph-Strasse gekommen, die Geschwister Scholl und Alexander Schmorell sind bereits anwesend. Hans Scholl schreibt eine Schablone für den Vervielfältigungsapparat.[1265] In der Vernehmungsniederschrift von Willi Graf findet sich eine Schilderung der Zusammenarbeit: «Bei der nachfolgenden Vervielfältigung haben wir uns gegenseitig unterstützt, d. h. wir haben uns beim Abziehen (Durchdrehen) gegenseitig abgelöst. Manchmal habe ich selbst den Vervielfältigungsapparat bedient, oder ich habe mich mit dem Ordnen der durchgedrehten Flugblätter beschäftigt.»[1266], [1267] Etwa um 20 Uhr verlässt Willi Graf die gemeinsame Wohnung der Geschwister Scholl, um sich auf den Weg nach Köln und Bonn zu machen. Drei Stunden unterstützte Willi Graf, bevor er um 21:30 Uhr losfährt.[1268] Irgendwann ergeben sich bei der Herstellung des V. Flugblatts Charge-1 zwei Schablonenabrisse. Aufgrund der grossen Flugblattauflage mit 2 x 4000 Flugblattseiten sind zwei Schablonen nach jeweils ± 3000 Flugblattseiten abgerissen und mussten erneuert werden.1266 Hinzu kommt ein irregulärer Schablonenabriss.[1269] Vielleicht ist Willi Graf schon unterwegs und bekommt dies nicht mehr mit. Denn als er ging, wurden in diesen 3 Arbeitsstunden seiner Unterstützung etwa 2000 bis 2500 Flugblattseiten vervielfältigt, auch wenn in der Vernehmungsniederschrift 2000 bis 2500 Flugblätter festgehalten wurden.[1270] Nach einer halben Stunde geht die Vervielfältigung mit der neuen Schablone weiter. Praktikabel und arbeitsüblich, zuerst werden alle Vorderseiten und erst dann alle Rückseiten vervielfältigt. Um die Rückseite vervielfältigen zu können, muss ein Schablonenwechsel mit dem Text für die Rückseite stattfinden. Aus diesem Grund darf nicht immer von Flugblättern gesprochen werden, sondern wegen der Doppelseite, zumindest manchmal besser von Flugblattseiten.

    Als Willi Graf vielleicht kurz vor 20 Uhr ging, sind die anderen von der Franz-Joseph-Strasse, ein Fussweg von 300 Meter für den sie 0,9 s / m * 300 m 60 s = 4,5 Minuten brauchen, ins Atelier zur Lesung gegangen. Mittwoch, 20. Januar 1943, ein Werktag mitten in der Woche. Die meisten werden danach bald nach Hause gegangen sein, um fit zu sein für den kommenden Tag. Vielleicht bildete sich noch ein harter Kern zu einem Absackerl. Dann wurde eben am nächsten Tag weitergearbeitet. Bis zum 24. Januar 1943 war noch genügend Zeit. Ein toller Abend war da schon noch drin. So konnten beide Termine wahrgenommen werden. Am Nachmittag wird die Lesung vermutlich nicht stattgefunden haben, denn Willi Graf äussert nichts in seinem Tagebuch über eine Veranstaltungsteilnahme im Atelier. Er pflegte sein Tagebuch sehr sorgfältig, zumindest vermittelt er diesen Eindruck.

    Am 21. Februar 1943 ab 20 Uhr wird bis 3 oder 4 Uhr in die frühen Morgenstunden des 22. Januar 1943 an der Flugblatt-Herstellung weitergearbeitet. Alle Schilderungen zum 20. Januar 1943 treffen strenggenommen zu, jedoch mal wieder der Kontext nicht. Aus den Vernehmungsniederschriften ergeht eine Lesung im Atelier vom 20. Januar 1943 nicht hervor. Alle Beteiligten der Flugblatt-Herstellung verschwiegen bei ihren Vernehmungen diese Veranstaltung. Durch diese tapfere und weitsichtige Geste dürften alle Gäste, die am 20. Januar 1943 zur Lesung ins Atelier kamen, vor dem Zugriff durch die Geheime Staatspolizei verschont geblieben sein. Was produktionstechnisch in der Zeit zwischen dem 20. und 22. Januar 1943 stattfand, wurde ab Seite 352 "Vervielfältigungszyklus pro Flugblattseite – Flugblatt V-VI" rekonstruiert und ausgiebig erläutert.

    An welchen Tagen mit der Vervielfältigung der Flugblätter begonnen wurde, ist soweit bekannt, die Bearbeitung des Postversands ist hingegen nur wenig nachvollziehbar. So wurde nach einer logistischen Aufteilung gesucht, wann was erledigt werden konnte. Während eines Wochenendurlaubs stand die Produktion still und das wurde für eine Gesamtübersicht der Produktion in Tabelle 60 auf Seite 476 berücksichtigt. Auch bei den Begegnungen im Atelier wurde angenommen, dass nach Gesprächen und Feierlichkeiten produktionstechnisch keine Aktivitäten mehr stattfanden. Zur Erinnerung nochmals, dass der Vervielfältigungsapparat serienmässig mit einem Zählwerk ausgestattet war.[1271] Mit dem Zähler konnte sich der Widerstandskreis immer einen Überblick über den aktuellen Stand verschaffen. So entsprechen die meisten Zahlenangaben auch der Realität.