5.8           Fehlerbetrachtung Flugblattauflage – Flugblatt V-VI

Die differenziert ermittelten Werte für die Flugblattstreuung und für den Postversand wurde auf Seite 333, Tabelle 21 oder auf Seite 374, Tabelle 38 wiedergegeben. Weil die Kosten für etwa 500 Briefsendungen in Ulm anfallen, dürfen die Briefsendungen in Tabelle 38 für München keine Berücksichtigung erfahren. Extremwerte wurden ausgenommen, weil sie das Gesamtergebnis zu sehr beeinflusst hätten. Manche Werte konnten gemittelt werden, andere wurden nach plausiblen Überlegung bevorzugt oder verworfen. Wie stark das Gesamtergebnis fehlerbehaftet ist, muss separat untersucht werden. Alle Einzelfehler, die durch Rückerinnerung entstanden, gehen ins Gesamtergebnis als Summe ein. In Abhängigkeit, wie gross der Einzelfehler ist, wirkt sich dies auf das Gesamtergebnis aus. Um die Auswirkung aller Einzelfehler im Endergebnis sichtbar zu machen, muss am Einzelfehler eine Fehlervariation vorgenommen werden. Aufgrund der zum Versand gebrachten Briefsendungen darf die minimale Flugblattauflage den Wert von 4310[1097] Flugblättern nicht unterschreiten, denn diese Marke stellt das absolute Minimum für die Flugblattauflage dar. Diese 4310 Briefmarken wurden gekauft und dem Anschein nach auch verwendet. Die kleinsten und grössten Werte, die aus den Gerichtsakten bekannt sind, werden für die Variation zugrunde gelegt. Für den Postversand Stuttgart, der von ihren Unterstützern aus Ulm erledigt wird, nennt Sophie Scholl 600-700 Flugblätter, Hans Scholl 800 und 1000. Der minimale Wert beträgt 600 und der maximale 1000. So wird mit allen weiteren Zahlenangaben zur Flugblattauflage ebenfalls verfahren, siehe Ergebnis Tabelle 39. Der rechnerisch ermittelte Postversand von 1300 Briefsendungen für Stuttgart, der in München bearbeitet worden sein muss, wurde als Konstante berücksichtigt.[1098] Die "München Streuaktion – Flugblatt V Charge-2" auf Seite 326 bestanden nur aus einer Flugblattstreuung ohne Postversand und für "München Studentenbriefe – Flugblatt VI" auf Seite 327 lag ein rechnerischer Postversand von 1200 – 140 + 50 = 1110[1099] Exemplaren vor.

    Die minimale Flugblattauflage liegt laut Tabelle 39 bei 6950 mit einem anteiligen Briefversand von 3550 und die maximale Flugblattauflage bei 9850 Flugblättern mit anteilig 4750 Briefsendungen. Die Postversandauflage für Minimum und Maximum zeigt allerdings eine Auffälligkeit. Die gekauften Briefmarken, die für den Postversand zur Verfügung standen, lagen bei 2000 + 800 + 300 + 100 + 1200 – 140 + 50 = 4310[1100] Stück. Jedoch unterschreitet das "Briefe Minimum" den Wert 4310 um  Briefsendungen und das "Briefe Maximum" übersteigt diesen mit 4750 – 4310 = 440 Briefsendungen. Wird dem "Flugblätter Minimum" die     fehlende Differenz von 760 hinzuaddiert, ergibt sich für die Flugblattauflage ein Wert von 6950 + 760 = 7710 Flugblättern und einem "Briefe Minimum" von 3350 + 760 = 4310 Briefen für den Postversand. Ohne diese Korrektur wäre das Minimum sonst auszuschliessen, weil die Postversandauflage den Einkauf von 4310 Briefmarken nicht erfüllt hätte.

Orte

Flugblätter
Minimum

Briefe
Minimum

Flugblätter
Maximum
Briefe
Maximum

Augsburg

200

200

250 250

Stuttgart (Ulm postunfertig)

600

in Ulm bearbeitet

1000 in Ulm bearbeitet

Stuttgart,rechnerischer Wert, München postfertig

1300

1300

1300

1300

Salzburg

100 100 200 200

Linz/Donau

100 100 200 200

Wien

1000

1000

1500 1500

Frankfurt/Main

50 50 300 300

Kleinstreuungen

100

 

100 -

München

1500

 

2000 -

München Studentenbriefe

2000

800 3000 1000

6950

3550

9850 4750

Tabelle 39: Bestimmung der minimalen und maximalen Flugblattauflage mit Hilfe von minimal und maximal angegebenen Wertangaben aus den Gerichtsakten

    Das Maximum der Flugblattauflage wirkt sehr nahe am eigentlichen Geschehen. Was Sorge bereitet, ist das Minimum der Flugblattauflage. Hier zeigt sich deutlich die Auswirkung der niedrigen Zahlenangaben, die aus den Vernehmungsniederschriften übernommen wurde. Dies betrifft die Aktion für Stuttgart, die Kurierfahrt Wien, die nächtliche Streuaktion in München und die Studentenbriefe zur Streuaktion in der Universität am 18. Februar 1943. Daraus resultiert die Differenz von 1700 Flugblättern. Das Minimum der Flugblattauflage mit 7710 Exemplaren erscheint durch einige Zahlenausreisser stark behaftet zu sein. Darüber hinaus hätte eine Streuaktion in der Universität in der Grössenordnung mit 3000 – 1110 = 1890 Flugblättern nicht stattfinden können. So sehr ist das Minimum verfälscht. Das Maximum der Flugblattauflage mit 9410 Flugblättern hingegen scheint realistisch zu sein. Die Überprüfung zeigt, dass keine böse Überraschung vorliegt.

    Um das Umfeld zu schützen, gab Hans Scholl an, er habe in einer nächtlichen Aktion 5000 Flugschriften in München alleine gestreut.[1101] Angesetzt wurden realistisch und durch die Aussage von Sophie Scholl 2000[1102] und von Alexander Schmorell 1500[1103] Exemplare. Aufgrund der Zahlenbeziehungen, die sich auch im Wesentlichen durch die Geschwister Scholl in Abhängigkeit befinden, können unmöglich weitere 5000 – 2000 = 3000 Flugblätter in das Beziehungsgebilde der Zahlen untergebracht werden. Das "Flugblatt Minimum" und "Flugblatt Maximum" begrenzen generell die Flugblattauflage. Werden aus den Gerichtsakten geeignete Wertangaben gemittelt, in Tabelle 40 dargestellt, ergibt sich für die mittlere Gesamtflugblattauflage ein Wert von 9000 Flugblättern. Davon wurden 4310 Briefe mit der Post in Umlauf gebracht. Die Berechnung der Flugblattauflage mit Mittelwerten zeigt, wo die Gesamtflugblattauflage nüchtern liegen dürfte. Die vom Zählwerk rückerinnerten Flugblattauflagen sprechen für sich. Weil Sophie Scholl und Hans Scholl ständig im Geschehen der Flugblatt-Herstellung involviert waren, Gespräche unter Geschwistern führten, die Buchhaltung von Sophie Scholl geführt wurde, werden sie sich gut an einzelne Flugblattauflagen, bis auf wenige Ausnahmen, erinnert haben. Für die mittlere Fehlerbetrachtung gilt als Voraussetzung, dass der genaue Einkauf von Saugpostpapier und Briefmarken bekannt ist, dass die rückerinnerten Wertangaben zu den Flugblattstreuungen und zum Postversand nicht extremen Fehlern ausgesetzt sind. Weil Sophie Scholl, Hans Scholl,[1105] Gisela Schertling,[1104] Alexander Schmorell,[1105] Willi Graf,[1105] Traute Lafrenz[1106] auch Fritz Hartnagel[1107] immer mal wieder kleinere Mengen Papier, Umschläge vielleicht auch Briefmarken beisteuerten, kann sich auch eine leicht höhere Flugblattauflage als 9000 ergeben. Allerdings bleibt offen, welche Art von Papiersorte in kleinen Mengen beschafft wurde, Saugpostpapier oder übliches Schreibpapier. Der Mittelwert ist auf jeden Fall fehlerbehaftet, jedoch sehr, sehr gering anzunehmen. Aufgrund dem zur Verfügung stehenden Saugpostpapier erfährt der fehlerbehaftete, errechnete Mittelwert von 9000 Flugblättern für das V. und VI. Flugblatt zusammen eine sehr gute Orientierung zur wahren Begebenheit. Zu beachten gilt, dass bei jedem Schablonenwechsel zunächst die neue mit Leerpapier eingearbeitet werden muss. Für den Probelauf wird pro neuer Schablone etwa ±15 Blatt notwendig. Bei 7 Schablonen und 4 als Ersatz[1108] würden für 15000 Flugblattseiten 15 * (7 + 4) = 165 Papiere für den Probelauf benötigt. Theoretisch werden insgesamt 9000 + 165 = 9165 Papiere für die Flugblatt-Herstellung gebraucht. Dieser Wert entspricht bereits fast der maximalen Flugblattauflage von 9410 Exemplaren.

Orte

Flugblätter

Mittelwert

Briefe

Augsburg

250

250

Stuttgart (Ulm postunfertig)

700

in Ulm bearbeitet

Stuttgart (München postfertig)

1300

1300

Salzburg

150

150

Linz/Donau

200

200

Wien

1000

1000

Frankfurt/Main

300

300

Kleinstreuungen

100

-

München

2000

-

München Studentenbriefe

3000

1110

9000

4310

Tabelle 40: Rechnerisch ermittelte durchschnittliche Flugblattauflage

    Gezeigt wurde, wie sich die Flugblattauflage für das V. und VI. Flugblatt zusammengesetzt haben dürfte. Aus den verwertbaren Gerichtsunterlagen und aus dem Schriftverkehr reichsstaatlicher Einrichtungen konnten keine weiteren Hinweise über einen höheren Einkauf von Saugpostpapier zum Vervielfältigen von weiteren Flugblättern aufgefunden werden. Auch ist nichts bekannt über weitere Einkäufe von Briefmarken für den Postversand oder über weitere Orte, an denen Flugschriften verbreitet wurden.

    Eine weitere interessante Konstellation zeigt die Schnittmenge, die sich aus den Zahlenangaben der Geschwister Scholl ergeben. Sie bestimmen die gesamte Flugblattauflage von 9000 Exemplaren. Denn nur mit der Schnittmenge 2000[1109] wird eine Flugblattauflage vom 20. bis 22. Januar 1943 (4000 Flugblätter) und vom 27. Januar 1943 (2000 Flugblätter) für das V. Flugblatt mit 6000 Flugblättern, die Sophie Scholl angab, erfüllt. Das dazugehörige Pendant der Schnittmenge, die sich aus zwei Einzelaktionen mit (2000 + 3000 = 5000 Flugblättern von Hans Scholl zusammensetzt, ist ebenfalls nur mit diesen 2000 Flugblättern möglich und der Flugblattauflage für das VI. Flugblatt mit einer Gesamtauflage von 3000 Exemplaren. Haben sich die Geschwister Scholl auch hier abgesprochen? Hätte Hans Scholl vom V. Flugblatt 5000 Flugblätter in einer Nacht gestreut, wäre die Flugblattauflage für das V. Flugblatt 4000 + 5000 = 9000 und die Gesamtflugblattauflage für das V. und VI. Flugblatt 4000 + 5000 + 3000 = 11000 Flugblätter. Das wiederum bedeutet, wegen der Doppelseite des V. Flugblatts 8000 + 10000 + 3000 = 21000 Flugblattseiten.[1110] Diese Darstellung ist wegen des viel höheren Bearbeitungsaufwands nicht vorstellbar. Durch die Schnittmenge 2000 ergibt sich eine gegenseitige Abhängigkeit, die ohne den anderen Partner nicht erfüllt werden kann. Hans Scholl und Sophie Scholl teilen sich geschwisterlich diese 2000 Flugblätter, damit sich beide Aussagen erfüllen können. Aufgrund der umfangreichen Erkenntnisse ist davon auszugehen, dass der Widerstandskreis Weisse Rose im Januar und Februar 1943 etwa 9000 Flugblätter verbreitete, davon anteilig 4310 per Postsendung. Das Minimum und Maximum der Fehlerbetrachtung spielt unter diesen Gesichtspunkten eigentlich keine Rolle mehr. Die Berechnungen und Zahlen-Konstellationen sprechen für das Gesamtergebnis. Wäre dem Widerstandskreis kein Zählwerk zur Verfügung gestanden, wären durch Abschätzen der Flugblattauflage erheblich höhere Toleranzen aufgekommen. Eine Ermittlung der Flugblattauflage wäre nur bedingt möglich geworden.

    Die Geheime Staatspolizei überprüft dem Anschein nach ihre bisherigen Ermittlungsergebnisse und erstellt am 23. März 1943 einen Zwischenbericht betreffend "Hochverrat Scholl". Aus dem Dokument geht hervor, dass zwischen Januar bis Mitte Februar 1943, 10000 Flugblätter für die letzten beiden Flugblätter V. und VI. in Umlauf gebracht worden seien, letzteres Flugblatt VI mit einer Auflage von 3000 Exemplaren. Dennoch muss das Ergebnis mit Vorsicht betrachtet werden, manche Aktenvermerke der Geheimen Staatspolizei München bezüglich Flugblattauflage und Postversand können nicht zutreffen.

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Tabelle 41: Schnittmenge der Geschwister Scholl, Flugblatt V-VI

   Im Nachhinein deckt sich die Feststellung der Geheimen Staatspolizei fast vollständig mit den Angaben von Sophie Scholl. Für die ersten Flugblätter I bis IV kam die Geheime Staatspolizei zu dem Ergebnis, dass die Auflage jeweils 100 betrug, was mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit den Tatsachen entsprechen dürfte.[1111] Die Einzelergebnisse der Flugblattauflagen mit drei Produktionseinheiten, die aus den Vernehmungsniederschriften erkannt werden konnten, bestätigen in der Summe ein Endergebnis von 9000 Flugblättern. Real dürfte deshalb die Beschaffung von 10000[1112] Saugpostpapieren, von denen 1000[1113] beschlagnahmt wurden, zutreffen. Die Gesamtflugblattauflage entspricht der Aussage, die durch Sophie Scholl vom 20. Februar 1943 der Nachwelt erhalten blieb. Was die Angaben zu den jeweiligen Flugblattauflagen betrifft, wurden die von Sophie Scholl gegenüber ihren Kommilitonen, so stellt sich die Situation heute dar, am präzisesten angegeben. Hingegen lieferte Willi Graf die genauesten Angaben, an welchen Tagen im Januar und Februar 1943 Flugblätter vervielfältigt und mit der Post versendet oder gestreut wurden. Darüber hinaus lieferte Willi Graf zur Flugblattauflage Flugblatt V Charge-1 sehr wichtige Details für eine weitergehende Berechnung und zur Arbeitsweise der Flugblatt-Herstellung.[1114] Weil die Geheime Staatspolizei München an keinen weiteren Orten Flugblattaktivitäten feststellen konnte, bei den Vernehmungsniederschriften keine weiteren aufgeführt wurden, erscheint das errechnete Ergebnis zutreffend. Werden wesentlich höhere Flugblattauflagen angenommen, gehen wesentlich höhere Arbeitszeiten für die Flugblatt-Herstellung und für den Postversand einher. Insbesondere muss zur Doppelseite des V. Flugblatts berücksichtigt werden, dass diese auch einen doppelten Arbeitsaufwand nach sich zieht und möglicherweise nicht mehr realistisch erscheint, wenn von zu hohen Flugblattauflagen ausgegangen wird. Hans Scholl und sein Freund Alexander Schmorell lieferten ebenfalls wichtige Details, die das Gesamtbild der Produktion massgeblich mit vervollständigen.