3.2           Das Zählwerk – Flugblatt V-VI

Zunächst fällt auf, dass sehr konkrete Flugblattauflagen in den Vernehmungsakten vom Widerstandskreis genannt werden. Das kann eigentlich nur durch das Ablesen eines Zählwerkes in Einklang gebracht werden. Die ROTO-PREZIOSA, die zur Restauration bisher beschafft wurden, waren alle bis auf einen Apparat mit einem Zählwerk ausgestattet. Bei der Version ROTO-REKORD konnte ein optionales Zählwerk hinzugekauft werden. Hersteller des Zählwerks war die Firma Hengstler.[879] Auch Mitbewerber verbauten die Hengstler Zählwerke in ihre Vervielfältigungsapparate. So war ein ROTO-REKORD Modell, bis auf eine Ausnahme, immer ohne Zählwerk vorzufinden.[880] Dass jemand die vielen zu tausendend vervielfältigten Flugblätter von Hand zählt, ist eher unwahrscheinlich. Ausschliesslich abschätzen, nur bedingt vorstellbar, Irrtümer wären kaum vermeidbar, eine Rekonstruktion der Flugblattauflage würde kaum möglich sein. So wird angenommen, die Zahlen stammen von einem abgelesenen Zählwerk und wurden nur teilweise fehlerbehaftet zurückerinnert. Hier muss angesetzt werden, um fehlerbehaftete Angaben herauszufiltern und durch wahrscheinlichere Werte, die sich aus den Gerichtsdokumenten anbieten, zu ersetzen. Extrem abweichende Zahlen würden ohnehin das Gesamtergebnis negativ beeinflussen. In diesem Fall würde das Gesamtergebnis nicht mit den real stattgefundenen Ereignissen übereinstimmen, zu gross wäre die Abweichung. In der Technik und in der Physik eine vollkommen übliche Herangehensweise, die hier konsequent auch Anwendung finden wird. Wie viele Flugblätter verbreitet werden konnten, war abhängig vom Material, das zur Verfügung stand bzw. beschafft werden konnte und von den Geldeinnahmen. Letzteres wurde bereits geklärt.[881] Vor der Vervielfältigung musste eine Planung stattgefunden haben, wie viele Flugblätter wo verbreitet werden und wie viele von welchem Ort aus zum Postversand gehen. Der Widerstandskreis muss sein Vorhaben auch hinsichtlich Einnahmen und Ausgaben ausgerichtet haben. Das wird sich in seiner Auswirkung viel später noch zeigen. Wer liefert was, wie viel, wo kann was, in welcher Anzahl von wem beschafft bzw. übernommen werden. Sichtbar wird dies beispielsweise für den Postversand Frankfurt/M. Der Briefversand war preiswerter, weil die Briefe mit 12 Pfennig Briefmarken von Wien aus nach Frankfurt/M zu 300 * 12 Pf 100 = 36 RM versendet wurden.[882] Die Portokosten kämen auf 300 * 4 Pf 100 = 12 RM, wenn in Frankfurt die Briefe zur Post gekommen wären. Frankfurt am Main liegt von Wien kommend nach München nicht auf dem direkten Weg. Die Zugstrecke von München nach Wien, wenn Alexander Schmorell diese auch nicht direkt nahm, sondern über Salzburg und Linz an der Donau, beträgt ungefähr 405 km, Wien-Frankfurt am Main 715 km und Frankfurt am Main nach München 395 km. Eine Bahnfahrt von München nach Ulm kostete für 156 km 7,40 RM, einfach.[883] Die Gesamtzugfahrkosten für Alexander Schmorell belaufen sich durch Umrechnung der Fahrkosten von Sophie Scholl auf ca. 405 + 715 + 395 156 * 7,4 RM = 71,87 RM. Zusammen mit den kosten des Postversands direkt in Frankfurt aufgegeben 71,87 RM +12 RM = 83,87 RM.[884] Die Kosten für die Zugfahrt München nach Wien und zurück einschliesslich Postversand, abgesendet von Wien nach Frankfurt, käme auf etwa ( 405 156 * 7,4 RM ) + 36 RM = 74,42 RM und wäre damit preiswerter. Die Ersparnis ergibt etwa 9,45 RM. Zu berücksichtigen gilt der Zeitaufwand für die Reise nach Frankfurt/M und ein grösseres Risiko.

    Sicherlich tauschten sich die Geschwister Scholl über viele Details der Planung und Beschaffung direkt untereinander aus. So waren beide auf dem laufenden Stand, schliesslich lebten sie zusammen. Sie dürften sich gut verstanden haben, denn Sophie Scholl schreibt in einem Brief vom 30. Mai 1942 an Lisa Remppis: «Hans ist ein guter Bruder für mich, ich gewinne ihn immer lieber.»[885] Dann konnten die Einkäufe von Papier zum Vervielfältigen, für den Postversand Kuverts und die kostenintensive Beschaffung von Briefmarken beginnen. Die geplanten Flugblattauflagen werden für die einzelnen Postversandorte mit dem Zählwerk kontrolliert und ersparten eine unangenehme Handzählung tausender Flugblätter.