4.1     Hektograph – Vincent Kwaysser und Rodolphe Husak

Kaum jemand kennt die vollständigen Namen dieser beiden grossen Erfinder. Im Duden wird der Hektograph wie folgt beschrieben und ist identisch mit vielen anderen Quellenangaben: «Apparat zum Vervielfältigen von Schriftstücken und Zeichnungen, bei dem das mit Anilintinte beschriebene Original auf eine mit Gelatineglycerin beschichtete Druckplatte übertragen wird, von der eine größere Anzahl von Abzügen abgenommen werden kann[157], [158], [159] Anfangs wurde eine Gelatineglycerinmasse auf ein Gummituch oder ein präpariertes Wachspapier gegeben oder in einen flachen Blechkasten eingelassen.[160], [161], [162] Bei einer späteren Entwicklungsstufe befand sich auf einer Holzplatte des Hektographen eine Gelatineglycerinschicht. Auf ein Papier, sprich Mastervorlage, wurde mit einer Anilintintenmischung handschriftlich oder durch Schreibmaschinenanschlag geschrieben und anschliessend für ca. 2 bis 3 Minuten mit der Schriftseite durch eine Platte, einen Handroller oder per Hand auf die Schicht aufgepresst, danach wieder vorsichtig abgerollt.[162], [163] Die Gelatineglycerinschicht selbst ist in sich fest und elastisch. Nach Übertragung des "Masters" steht der Text oder eine Graphik spiegelverkehrt auf der Gelatineglycerinschicht. Der Übertragungsvorgang wird von der Fachwelt als Umdruck bezeichnet, weil keine direkte Vervielfältigung vom Original, also der Mastervorlage, erfolgt.

Hektograph, © Early Office Museum

Abbildung 8: Hektograph, © Early Office Museum

Ein Umdruck ist ein Zwischenschritt vor der eigentlichen Vervielfältigung. Anschliessend wurden unbenutzte mit Wasser befeuchtete Blätter auf die Schicht aufgelegt und leicht mit der Hand überstrichen oder mit einer Handwalze leicht überrollt, sodass sich die Masterfarbe auf das leicht befeuchtete Vervielfältigungspapier übertrug.[160], [163] Danach konnten die Blätter an einer Ecke mit der Hand vorsichtig abgerollt werden. Beim Abnehmen durften die Blätter nicht verrutschen, ansonsten wurden weitere Vervielfältigungen unsauber.[164] Das Glycerin schützt die Anilintintenmischung und die Gelatineglycerinschicht vor dem frühzeitigen Austrocknen. Auf diese Art konnte im Jahr 1887 bis zur Austrocknung der Gelatineglyzerinoberfläche für 30 Minuten vervielfältigt werden.[165] Später ergab sich eine Bearbeitungszeit bis zu 12 Stunden.[166] Die Verarbeitungszeit ist abhängig von den Umgebungsbedingungen wie Temperatur und Luftfeuchtigkeit und auch von der Zusammensetzung der Gelatineglycerinmasse selbst sowie von der verwendeten Farbzusammensetzung.[166] Der Farbstoff auf der Gelatineglycerinschicht nimmt mit jeder Vervielfältigung ab. Weil die Farbkonzentration auf der Schicht mit jeder Vervielfältigung nachlässt, wird das Schriftbild auf den Vervielfältigungen immer heller. Selbst bei optimaler Abstimmung der Rezeptur ist nach etwa 100 vervielfältigter Seiten der Farbstoff verbraucht. In der Praxis ist oft schon nach 70 bis 80 Flugblattseiten das Ende erreicht. Ein neuer Master muss erstellt werden. In der Anfangsphase des Hektographen waren Auflagen 30 bis 40 Vervielfältigungen üblich. Später gelangen knapp 100 Vervielfältigungen. Vervielfältigt wird nicht vom Original (Master), sondern indirekt durch einen Umdruck. Dies entspricht nicht dem klassischen Verständnis eines Kopierverfahrens, weil die anschliessende Vervielfältigung von der Gelatineglycerinschicht (Umdruck) erfolgt und nicht vom Original (Master). Beispielsweise wäre eine Kopierpresse ein typisches Kopierverfahren, also ein direktes Vervielfältigungsverfahren.[167], [168]

    Ein Hektograph verwendet zur Vervielfältigung kein Umdruckoriginal (Matrizendrucker), keine Schablone (Mimeograph) und keine Wachsschablone (Mimeograph) als Vervielfältigungsvorlage, sondern einen Master. Die Erfinder von 1879 waren Vincent Kwaysser und Rodolphe Husak.[169], [170] Die neue Idee wird in Österreich am 28. August 1878 patentiert, in Deutschland am 30. August 1878, in Belgien am 30. Oktober 1878, in Frankreich am 11. November 1878 und in England am 13. November 1878. Unter der Patentnummer US228362 (A) kann ihre Erfindung mit dem Titel "DRY-COPYING PROCESS" eingesehen werden.[171] Ihre Apparatur bekam nicht unbegründet den Namen "Hektograph.[172] "Hekto" kommt aus dem Griechischen und bildet die Basis zu einhundert. So kann der Hektograph als Hundertvervielfältiger bezeichnet werden, weil die Vervielfältigungen bis zu einer Auflage von 100,[170], [172] meist jedoch weniger, Exemplaren noch lesbar sind.[173] Explizit reflektiert dies eine damalige Werbeanzeige mit Abbildung 10.[174] Realistisch betrachtet, eine Flugblattseite in 20 Min * 60 100 = 12 Sekunden vervielfältigen, wird von einer hektischen Arbeitsweise begleitet und die Vervielfältigung mit einer Vorlage von 100 Flugblattseiten ist ein Ideal des Maximums.

Amerikanischer Hektograph aus Chicago, HEYER QUALITY IDEAL DUPLICATOR, Seriennummer 101658, Grösse 40 x 27,5 x 4,3 cm, Privatbesitz

Amerikanischer Hektograph aus Chicago, HEYER QUALITY IDEAL DUPLICATOR, Seriennummer 101658, Grösse 40 x 27,5 x 4,3 cm, Privatbesitz

Abbildung 9: Amerikanischer Hektograph aus Chicago, HEYER QUALITY IDEAL DUPLICATOR, Seriennummer 101658, Grösse 40 x 27,5 x 4,3 cm. Unteres Bild zeigt zwei Gelatineglyzerin-Flächen für die Vervielfältigung, Privatbesitz

Amerikanische Werbeannonce zum Hektographen von ca. 1880, Privatbesitz

Amerikanische Werbeannonce zum Hektographen von ca. 1880, Privatbesitz

Abbildung 10: Amerikanische Werbeannonce zum Hektographen von ca. 1880. Oben Vorderseite, unten Rückseite, Privatbesitz

Werbeannonce von 1879, nennt explizit die Schwäche des Hektographen, Privatbesitz

Abbildung 11: Werbeannonce von 1879, nennt explizit die Schwäche des Hektographen, Privatbesitz

    Ist die Anilintintenmischung verbraucht, muss der Vorgang von Neuem begonnen werden. Der Hektograph wurde bis in den II. Weltkrieg hinein als das Standardvervielfältigungsverfahren eingesetzt. Die letzten Geräte waren fast bis zum Ende der 80er Jahre in der Deutschen Demokratischen Republik sowie teilweise in der Bundesrepublik Deutschland noch in Gebrauch. Nachdem der Hektograph ausgedient hatte, entwickelten sich durch Privatpersonen Versionen, aus denen DIY[175] selbst mischbare Rezepturen hervorgingen. Sie sind von Beliebtheit und kursieren rund um die Welt. Die Anwendung vereinfachte sich, die zu vervielfältigenden Papiere werden nicht mehr mit Wasser angefeuchtet, können jedoch kaum Auflagen von 100 Exemplaren erreichen. Die Hektographie hat sich wohl bei der deutschen Bevölkerung so sehr eingeprägt, dass andere Erfindungen aus der Vervielfältigungstechnik häufig die Bezeichnung Hektographie bzw. Hektograph erhielten. Das ist auch heute noch so und betrifft insbesondere den Matrizendrucker, Mimeograph und Opalograph. Die Folge, vieles wird durch Umgangssprache durcheinandergebracht und unklar bleibt, über was konkret gesprochen wird, welche Vervielfältigungstechnik vorliegt und wie sie funktioniert. Aus dem etwas umständlich zu bedienenden Hektographen mit Handbedienung, entwickelte sich eine rotationsfähige Version zum Matrizendrucker nach Wilhelm Ritzerfeld. Vergleich: Zuerst wurde der Selbstzünder-Diesel-Motor entwickelt, 40 Jahre später folgte der mit Zündkerzen gesteuerte Otto-Motor. Beides sind Verbrennungsmotoren. Wegen der Betankung würde keiner beim Otto-Motor, trotz vieler Gemeinsamkeiten, leichtfertig von einem Diesel-Motor sprechen. Wer falsch tankt, muss laufen. Beispielsweise trug der Hersteller von Vervielfältigungsapparaten, Renaplan, zum Durcheinander Hektograph/Matrizendrucker nicht unwesentlich bei. Renaplan pries nach dem II. Weltkrieg in Werbeschriften seinen neuen Matrizendrucker an, der anstatt mit einer Rotationstrommel mit einer flachen mechanischen Rollvorrichtung zur Vervielfältigung von Papieren ausgestattet war und bezeichnete die Art der Vervielfältigung als Hektoplanieren. Gleichzeitig wurde in der Werbeschrift von Spirit-Flachvervielfältigern gesprochen.[176] Letzterer gehört zum Matrizendrucker. Die damalige Diplomandin Christiane Elisas bringt das Thema mit einem Satz auf den Punkt: «Besonders problematisch sind die Abzüge, die mit ihrer Entstehung schon eine minderwertige Qualität aufwiesen[177] Eine Werbeanzeige, Abbildung 12, die Ende des 18. Jahrhunderts erschien, verdeutlicht, dass auch anderen die begrenzte Vervielfältigungsqualität des Hektographen auffiel. Im Fall des Leipziger Unternehmens Serbe entwickelte sich da raus ein Geschäftsmodell.

Werbeanzeige 'Schlechten Hektograph', Privatbesitz

Abbildung 12: Werbeanzeige "Schlechten Hektograph", Privatbesitz

    Ein weiteres Unternehmen verspricht sich um 1924 mit ihrem Vervielfältiger Bargeograph gute Geschäfte, wie die Werbeanzeige, Abbildung 13, wiedergibt. Angeblich mit grosser Zufriedenheit ihrer Kunden. Bezüglich der Lichtbelastung und einem deshalb frühzeitigen Verblassen der Texte, folgt ein Bericht zum Hektograph, der auf Seite 398 der Deutschen Bauzeitung Nr. 78 vom 1. Oktober 1879 stand: «Ob die Schrift mit dieser Dinte - wie vielfach behauptet wird – unter der längeren direkten Einwirkung der Sonnenstrahlen leidet, habe ich noch nicht versucht; doch pflegen wir unsere dienstliche Korrespondenz ja auch nicht in die Sonne sondern in die Akten zu legen.»[178]

   Merkmale Hektograph: Rauschen, Textunschärfe, mit jeder Vervielfältigung heller werdende Schriftzüge, lichtempfindlich,[177] schwierig über Jahrzehnte archivierbar, auch im Dunkeln, verwendet als Vervielfältigungsvorlage für die Erstkopie auf die Gelatineglyzerinschicht einen Master, weniger oder vereinzelt bis 100 Umdrucke, ein Vervielfältigungsverfahren für kleine Auflagen.[179], [180], [177]

Werbeanzeige "Vervielfältiger Bargeograph", Privatbesitz

Werbeanzeige "Vervielfältiger Bargeograph", Privatbesitz

Vervielfältiger Bargeograph", PrivatbesitzVervielfältiger Bargeograph", Privatbesitz