Ali Bey
Eigentlich war er schon vor langer Zeit fest entschlossen sich zu
trennen. Irgendwann würde er es tun. Die Frage war nicht ob, die
Frage war nur wann.
Selbst als Ben damals Karen geheiratet hatte war ihm, trotz aller
Euphorie klar, dass es irgendwann eine Trennung geben würde.
Warum? Ganz einfach! Ben war zwar kein chronischer Pessimist, im
Gegenteil, aber Trennung war ein fester Bestandteil seines Lebens.
So lange er denken konnte trennte er sich. Von Familie, Freunden,
Partnerinnen und auch von Jobs, Orten und Situationen nahm er
Abschied wenn sie seinem Verständnis von Freiheit nicht mehr
entsprachen.
Bezeichnete ihn jemand als unstet verteidigte er diese
Lebensweise als seine Art von Kontinuität. Sein Motto: Schade
niemandem aber lebe dein Leben nach deinen Wünschen.
Als er feststellte, dass Karen sich in seiner Abwesenheit mit
anderen Männern vergnügte, nahm er das als willkommenen Anlass,
sich von ihr zu trennen. Schon bald bemerkte er, dass ihm das
nicht genug war. Der Umzug in seine verschlafene Heimatstadt in
der Provinz war für ihn nur die Vorbereitung auf eine endgültige
Trennung. Er wollte fort aus Deutschland und woanders neu
beginnen.
Es sollte ein Leben werden, das möglichst frei war von Stress,
Hektik, Neid und schlechter Laune. Sein Ziel: Zyperns Norden.
Ein Freund von Ben lebt dort bereits seit einigen Jahren. Er
hatte ihm erzählt von der Sonne, den gastfreundlichen Menschen,
der wunderbaren Natur und dieser schwerelos anmutenden Art zu
leben, die für Nordzypern so typisch zu sein schien.
Zwischen den Gipfeln der Kyrenia-Berge und den, steil ins Meer
abfallenden Tälern fand er seinen neuen Lebensmittelpunkt.
Bellapais heißt das Dorf, das für ihn sein kleines Stück vom
Paradies darstellen sollte.
Schon in Deutschland war er gerne gewandert. Also machte er sich
mit Vergnügen daran seine neue Heimat zu Fuß zu erkunden.
Zuerst das Dorf selbst. Es schmiegt sich mit seinen kleinen,
verwinkelten Gassen, seinen versteckten Hinterhöfen und verträumten
Gärten an den Fuß des hoch aufragenden Fünf Finger Gebirges.
Der Blick über das Tal auf das, nur wenige Kilometer entfernte
Meer ist atemberaubend.
Das alles bestimmende Zentrum des Ortes bildet die Abtei von
Bellapais, die Anfang des13.Jahrhunderts von Mönchen des Prämonstratenserordens
erbaut worden war. Die schweren Mauern dieses beeindruckenden
gotischen Bauwerkes könnten vieles berichten über die endlose
Zahl der Kreuzritter, die in der Abtei Rast gemacht hatten auf
ihrem beschwerlichen Rückweg vom Heiligen Land wo sie im Namen
des Christentums auf Beutezug gegangen waren.
Ben fühlt sich wohl in diesem wunderschönen Dorf mit seinen
liebenswerten Menschen. Schon nach kürzester Zeit war er dort
Zu Hause. Gerne wandert er in die Berge. Der Anstieg
beginnt schon mitten im Dorf. Die schmalen Gassen führen ihn,
vorbei an malerischen Häusern und terrassenförmig angelegten Gärten
immer weiter hinauf. Auf dem befestigten Fahrweg oberhalb des
Dorfes angekommen wundert er sich immer wieder darüber, wie
schnell man zu Fuß innerhalb kurzer Zeit beachtliche Höhenunterschiede
bewältigen kann. Die weiteren Wege sind nicht sonderlich steil.
Sie bringen dich aber stetig bergauf in eine Welt, die einen
wohlig erschauern lässt. Ben ist nicht sehr religiös. Aber
dort, auf den Gipfeln der Berge hat er das Gefühl, der Schöpfung
näher zu sein als sonst irgendwo.
Auf den ersten Blick wirkt diese Bergwelt unwirklich und schroff.
Auf den zweiten Blick aber erscheint sie freundlich und einladend
mit ihren grün bewachsenen Hochtälern. Beim Anblick der steil
aufsteigenden Felswände und der Aussicht auf das tief unter ihm
liegende Meer, das ihn aus der Ferne mit weißen Gischtkämmen grüßt,
empfindet er eine selten gekannte Ruhe und Geborgenheit.
Eine seiner Lieblingswanderungen ist der Löwensteinweg. Einer
mittelalterlichen Sage zufolge erklärt man das Verschwinden
eines jungen Prinzen aus jener Zeit folgendermaßen: Aus Trauer
und Gram über den Tod seines besten Freundes sei er zu Stein
erstarrt. Seine unglückliche Seele bliebe in diesem Stein, der
einem liegenden Löwen ähnelt, bis die Welt den wahren Wert von
Frieden und Freundschaft erkennt.
Wann immer Ben auf einer Wanderung an diesen Stein kommt macht er
eine kurze Rast, tätschelt den Stein sanft und meint: Du
wirst wohl noch etwas warten müssen
Von Zeit zu Zeit entdeckte er in der Ferne einen alten Mann, der
sich querfeldein durch die Steinfelder abseits des Weges mühte.
Grüßend schwenkte Ben dann seinen Wanderstock und, wenn er Glück
hatte wurde der Gruß durch ein angedeutetes Nicken erwidert.
Schon oft hat sich Ben gefragt was der Mann dort oben sucht. Die
Gelegenheit, das herauszufinden sollte sich schon bald ergeben.
Bei einer seiner nächsten Wanderungen sieht Ben den Mann auf
einem Steinquader am Wegrand sitzen. Offenbar macht der eine
Pause auf seinem anstrengenden Weg. Aus der Nähe sieht Ben ein
Gesicht, das von Falten durchfurcht und von der Sonne braun
gegerbt ist. Die Hände, die sich auf den Olivenholzstock stützen
wirken knorrig wie das Holz selbst. Rücken und Schultern des
Wanderers scheinen im ersten Moment rund und kraftlos. Doch der
Eindruck eines gebrechlichen Mannes verwischt sich sofort, als
Ben genauer hinsieht. Denn unter dem Schirm der alten Kappe
blitzen ihn unglaublich jung wirkende Augen freundlich an. Neben
dem Mann, ausgebreitet auf einem sauberen Tuch entdeckt Ben ein
großes Stück geräucherter Knoblauchwurst, Olivenbrot und grünweiß
glänzenden Helimkäse wie er nur auf Zypern gemacht wird. Mit
einer einladenden Bewegung winkt der Alte ihn zu sich heran und
bedeutet ihm sich zu setzen.
Ben bereut schon lange, dass seine türkischen Sprachkenntnisse
nicht nennenswert sind. Umso grösser ist sein Erstaunen, als
sein Gastgeber ihn höflich und in bestem Englisch auffordert
sich an Wurst, Brot und Käse zu bedienen. Freudig überrascht
nimmt Ben das Angebot an und geniest mit vollen Backen die
unerwartete Bergmahlzeit. Schweigend sitzt der alte Mann neben
ihm und seine Augen strahlen vergnügt als er sieht wie sehr es
seinem Gast schmeckt. Vergnügt holt er eine Flasche aus seinem
Rucksack und gießt Wein in zwei Becher. Scherefe,
prostet er Ben zu Zum wohl, auf die Ehre und ein glückliches,
langes Leben Scherefe, antwortet Ben und kostet
einen Wein, der so dunkel und voller Geschmack ist wie er es
selten zuvor erlebt hat.
Mein Name ist Ali Bey, beginnt der alte Mann zu erzählen.
Ich wohne mit meiner Familie am oberen Rand des Dorfes. Als
junger Mann habe ich die ganze Welt bereist. Habe viel gesehen
und vieles gelernt. Aber immer wieder trieb es mich in die Heimat
zurück. Schöne Dinge, die ich auf meinen Reisen gefunden hatte,
brachte ich mit, restaurierte und verkaufte sie. Meine Söhne
haben aus der kleinen Werkstatt mittlerweile einen gut laufenden
Möbelhandel gemacht. Ich brauche das alles nicht mehr. Ich geh
lieber in meinen geliebten Bergen auf Entdeckungsreise.
Er schenkt ihnen noch einmal ein, nimmt einen großen Schluck und
blickt zufrieden hinunter auf das Meer. Ben ist froh mit dem
alten Mann hier zu sitzen in einer Ruhe, die nur unterbrochen
wird vom Rauschen des Windes.
Ich habe dich schon oft beobachtet hier oben, meint
Ali Bey plötzlich Du bist ein häufiger Gast in den Bergen.
Ich habe auch gesehen, dass du den Löwenstein streichelst. Das
hat mich gefreut. Nicht jeder tut das. Du scheinst ein Mensch mit
einem guten Herzen zu sein.
Danke, das ist sehr freundlich, erwidert Ben verlegen
aber ich bezweifle, dass ich ein wirklich guter Mensch bin.
Dass du zweifelst beweist mir nur, dass ich Recht habe.
Entgegnet der alte Mann. Verunsichert wechselt Ben das Tema.
Ich sehe Sie öfter durch die Steinfelder klettern. Warum
nehmen Sie nicht die ebenen, weniger anstrengenden Wege?
Die normalen Wege bin ich schon tausendmal gegangen
antwortet Ali Bey bereitwillig. Ich kenne jede Abzweigung
und die Aussicht hinter der nächsten Wegbiegung. Meine Heimat
ist so schön, dass man es kaum begreifen kann. Warum
aber dann der Weg durch die Steinfelder? hakt Ben nach.Du
suchst nach der Schönheit im Großen, erklärt der weise
Mann geduldig Ich genieße sie jeden Tag und kann mich auch
kaum satt sehen daran. Aber um dieses Erlebnis zu verstehen muss
man auch die Schönheit im Kleinen erkennen. Ich habe beobachtet,
wie du den Weg dort hinten heraufgekommen bist. Jedes Mal bleibst
du an der Felskante stehen und starrst verträumt auf das Meer.
Ja aber die Aussicht von dem Felsen ist wirklich
unvergleichlich. verteidigt sich Ben. Ali Bey schmunzelt
Natürlich. Ich gebe dir Recht. Der Ausblick ist wunderbar.
Aber hast du dich bisher dort auch nur einmal umgedreht und den
Felsen selbst näher betrachtet? Komm, wir gehen! Ich will dir
etwas zeigen.
Flink verstaut der alte Mann die Reste ihrer Mahlzeit in seinem
Rucksack, nimmt seinen Stock und marschiert zielstrebig den Weg
herunter auf die, von ihm bezeichnete Felswand zu. Neugierig
geworden bemüht sich Ben das Tempo zu halten. Unten angekommen
lehnt sich Ali Bey entspannt an den Felsen und blickt Ben
freundlich entgegen. Diese Felswand war für dich bis heute
nur ein großer Stein auf deinem Weg. Wenn du sie überhaupt
wahrgenommen hast, dann nur als Wegweiser. In wenigen
Augenblicken wird die Sonne die Wand anstrahlen. Dann weißt du
was ich meine.
Ungeduldig wartet Ben darauf, dass die Sonne mit ihren Strahlen
die Felswand erreicht. Dann prallt das gleißende Licht auf die
Wand und Ben steht wie vom Donner gerührt. Erst jetzt erkennt
er, dass dieser Teil des Berges in Wirklichkeit aus abertausenden
kleiner Kristalle besteht. Alle Farben des Regenbogens flimmern
in der Wand. Licht- und Farbenkaskaden stürmen geradezu auf ihn
ein. Ben hat das Gefühl leise Orchestermusik zu hören. Doch was
er zu hören glaubt findet nur in seinem Kopf statt.
Wie berauscht starrt er auf die Kristallwand als aus dem Licht
heraus Ali Bey auf ihn zutritt. Behutsam fasst ihn der alte Mann
an den Schultern. Siehst du mein Sohn das ist die
wirkliche Schönheit dieser Insel: Das Unerwartete im Kleinen.
Was du hier siehst ist ein Zeugnis der Entstehung der Welt. Was
du hier spürst ist die Gegenwart des Allmächtigen egal
wie man ihn nennt. Darum gehe ich abseits der Wege, um in einem
einfachen Stück Fels die Schönheit der ganzen Erde zu erkennen.
Manchmal gelingt es mir. Unvermittelt begreift Ben dass
das, was er hier erlebt ein Spiegelbild seines Lebens ist. Immer
wieder hatte er sich von eingefahrenen Wegen getrennt um seinen
eigenen zu finden, von wertvollen Menschen getrennt, ohne sie
richtig kennenzulernen. Viel zu selten hatte er auf die kleinen
Dinge geachtet, die das Leben lebenswert machen können. Das
sollte sich jetzt ändern. Er würde in Zukunft auch, das eine
oder andere Mal, durch die Steinfelder streifen. Gemeinsam mit
dem alten Ali Bey, der an diesem Tag sein Freund geworden ist
steigt er den Berg hinunter in das Dorf dessen Name auch Schöner
Frieden bedeutet.
Calo von Oss
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