Der Steinlöwe
Vor langer, langer Zeit wurde in einer Burg hoch in den Bergen
Zyperns ein Prinz geboren. Sein Name war Bourgon. Der Sohn der
Amme Leon wurde sein bester Freund. Sie wuchsen zusammen auf und
führten ein glückliches, unbeschwertes Kinderleben. Sie
spielten, lernten und lachten gemeinsam. Sie wuchsen zu jungen Männern
heran und sie kämpften, tranken und jagten gemeinsam. Eines
Abends saßen sie nach einem wilden Ritt durch die Berge am
Lagerfeuer. Sie sprachen über ihr Leben und über das große Glück
einen solch guten Freund zu haben. Bourgon meinte "weißt
Du, Leon, ich kann mir nicht vorstellen wie das Leben wäre, wenn
Du nicht mein Freund wärst. Ich will es auch gar nicht".
"Das brauchst Du auch nicht, Bourgon" erwiderte Leon,
"wir werden immer Freunde sein. So lange wir leben und darüber
hinaus bis ans Ende der Zeit". Er hob seinen Becher
Wein und sagte feierlich "Mein Name ist Leon und wie ein Löwe
will ich an Deiner Seite stehen und Dich beschützen mein Leben
lang. Das schwöre ich. Sollte ich diesen Schwur jemals brechen
will ich zu Stein erstarren und meine Seele soll in diesem Stein
gefangen sein". "Ich schwöre Dir das selbe"
antwortete Bourgon "denn wir sind Brüder auf ewig und ewig
soll mein Schwert Dein Schutz sein. Sollte ich diesen Schwur
brechen will auch ich zu Stein werden und dieser Stein soll
Deinen Namen tragen". Sie stießen mit ihren Bechern an und
tranken auf ihre Freundschaft.
Sie lebten ein glückliches Leben und nicht einmal wegen einer
Frau gerieten sie in Streit. Denn Leon liebte die großen
braunhaarigen Damen, Bourgon aber wurde immer wieder schwach,
wenn eine zierliche Schwarzhaarige ihm schöne Augen machte.
Wie so oft saßen sie nach herrlich anstrengendem Fechttraining
zusammen mit anderen Freunden, lachten, tanzten, scherzten und
die Weinbecher wurden dank der fleißigen Mägde nie leer. Trotz
aller Geselligkeit erhob sich Leon früher als gewohnt. Er beugte
sich zu Bourgon und sagte "vergiss nicht mein Bruder, wir
wollen morgen in aller Frühe zur Falkenjagd reiten. Ich lege
mich in meine Kammer denn ich will frisch und ausgeruht für den
langen Ritt sein". "Mach Dir keine Sorgen"
entgegnete Bourgon "du weißt ich vertrage eine Menge Wein.
Ich bleibe noch, denn der Abend ist jung, der Wein ist süß und
ich genieße es mit den Kameraden zu feiern. Trotzdem werde ich
Dich morgen in Grund und Boden reiten".
Beim ersten Hahnenschrei wachte Leon auf, wusch sich und kleidete
sich an. Auf dem Weg zu den Ställen ging er an Bourgons Kammer
vorbei. Er klopfte an die Tür und rief "Hallo Bruder, komm
in den Stall! Ich sattle schon mal Deinen Rappen!" Doch
anders als gewohnt bekam er keine Antwort. Er öffnete die Tür
und sah dass Bourgon noch auf seinem Bett lag und vernehmlich
schnarchte. Er versuchte ihn wachzurütteln und rief "was
sind denn das für Angewohnheiten! Steh auf, wir wollen zur Jagd!"
"Jaaa tschur Jacht" lallte Bourgon und rülpste laut.
"Reite Du nur schon los. Ich brauche noch einen Moment. Du
weißt, ich reite schneller auf meinem Rappen und habe Dich bald
eingeholt". Darauf drehte er sich auf die Seite und lächelte
beglückt sein Kopfkissen an. "In Ordnung, ich verlasse mich
auf Dich" antwortete Leon. Doch seiner Stimme war anzuhören
dass er zweifelte ob sein Freund es schaffen würde das warme
Bett gegen den kalten Waschzuber einzutauschen. Er ging in den
Stall, sattelte die Pferde und ritt in der Hoffnung los, dass
sein Freund sein Wort halten würde und ihn bald eingeholt hätte.
Als Bourgon aufwachte war es heller Tag. Der Kopf zersprang ihm
fast noch und er verfluchte den Mundschenk wegen der schlechten
Qualität des Weines. Er ging in die Küche und befahl dem Koch
ihm ein gutes Frühstück und ein Mittel gegen seine
Kopfschmerzen zu geben. "Frühstück und diese Zeit, Herr?"
fragte der Koch, "die Mägde bereiten schon das Abendessen
vor, denn bald wird die Sonne untergehen und alle Herrschaften
werden ihren Braten wollen." "Dann geb mir eben Braten
und einen Becher guten Wein! Vielleicht vertreibt das meine
Kopfschmerzen". Während er aß fragte er sich, wo Leon wohl
sein könnte. Sie hatten doch zusammen getrunken. Also müsste
Leon die gleichen Probleme mit dem Wein gehabt haben. Er rief
einen Pagen der nach Leon sehen sollte. "Euer Freund, Herr,
ist in aller Frühe fortgeritten. Er hat mir noch befohlen Euren
Rappen nicht absatteln zu lassen, weil Ihr bald nachkommen würdet".
"Bei allen Heiligen, das habe ich total vergessen. Wir
wollten ja zur Jagd reiten. Sag mir sofort Bescheid, wenn er zurück
ist. Ich überlege derweil wie ich mich ab besten entschuldige."
Er ging in den Park und grübelte vor sich hin. Hoffentlich würde
Leon es ihm nicht allzu übel nehmen, dass er sich so hatte
vollaufen lassen und ihm verzeihen.
Der Abend verging und Leon war immer noch nicht zurück. Nach
einer durchwachten Nacht machte Bourgon sich in aller Frühe auf
den Weg um seinen Freund zu suchen. Er ritt in die Berge,
durchstreifte die Wälder und suchte hinter jedem Felsen. Am späten
Vormittag sah er im Licht der untergehenden Sonne den Widerschein
einer zerschmetterten Schwertklinge. Nicht weit davon am
Wegesrand fand er hinter einem Gebüsch liegend seinen toten
Freund. Von Räubern überfallen, ausgeraubt und ermordet. Selbst
die Kleider hatten sie ihm genommen. Neben seinem nackten Körper
war noch das Blut zu sehen, das aus einer tiefen Stichwunde ins
Herz gesprudelt und im Boden versickert war.
Bourgon riss sich wie von Sinnen die eigenen Kleider vom Leib,
legte sie zärtlich um den Leichnam und begrub ihm an der Stelle
an der er ihn gefunden hatte.
Dann erinnerte er sich an das Versprechen, das sie sich gegeben
hatten: "Wie ein Löwe will ich an Deiner Seite stehen. Ewig
soll mein Schwert Dein Schutz sein. Sollte ich diesen Schwur
brechen will auch ich zu Stein werden der meine Seele gefangen hält
und der Stein soll Deinen Namen tragen."
Weder Leon noch Bourgon sah man je wieder. Aber oben in den
Bergen Zyperns gibt es einen Stein der aussieht wie ein Löwe mit
einer Krone. Die Leute sagen dass dieser Steinlöwe ein
verwunschener Prinz sei und das Grab eines Edelmannes bewache. Er
müsse dort ausharren bis ans Ende der Zeit oder bis die Menschen
den wahren Wert der Freundschaft über alle Grenzen hinaus
erkennen.
© Calo v. Oss 2006
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