Schamlos

Eigentlich war sein Leben normal. Na ja - für seine Begriffe normal. Hier ein Geschäft, da eine Pleite. Eine neue Stadt, ein neuer Anfang und nur nicht daran denken, wie ernst das Leben zuweilen sein kann.
Und dann dieser Abend. Mit ein paar Freunden in die Stadt fahren, sich wohl fühlen und an nichts anderes denken als an den Augenblick. Etwas essen, etwas trinken, etwas reden, etwas trinken, etwas lachen, etwas trinken, etwas trinken...

Dann kam irgendwann der Vorschlag: "Komm wir fahren noch dahin, wo es zu den guten Getränken noch das süsse Dessert gibt." "Was denn noch?" fragte er naiv. "Na Frauen!" "Das ist doch Unsinn," wehrte er sich unbeholfen "um diese Zeit - und überhaupt..." "keine Widerrede," wurde ihm streng entgegnet "das Taxi wartet bereits." Also fuhren sie los um noch rechtzeitig ins "Reich der Sinne" zu kommen, wie sein Nebenmann voller Vorfreude bemerkte.

Da saß er nun. Total verunsichert, nicht mehr nüchtern und mit, vor Aufregung eiskalten Händen. Hinter der Bar stand eine Chefin, von der man nicht wußte, ob sie sich besoffen geredet hatte oder ob sie so viel trank, weil sie ihr eigenes Gerede nicht mehr ertragen konnte. Er nahm es mit Gleichmut, trank noch ein Bier und nahm den Redeschwall irgendwann nur noch als auf- und abschwingende Geräuschkulisse wahr.

Das Einzige, wonach er sich mittlerweile sehnte, war sein eigenes Bett. Die Tür sollte aufgehen und jemand sollte fragen: "Braucht noch jemand ein Taxi?"
Was die Tür betraf, wurde sein Wunsch umgehend erfüllt. Nur, es gab keine Fragen mehr. Eine Frau kam herein, deren berauschende Schönheit ihm den Atem nahm. Ihre dunklen Augen strahlten ihn an und der Raum erschien ihm unvermittelt heller. Als hätte der liebe Gott für einen kurzen Moment das Licht angeschaltet. Sie setzte sich zu ihm, blieb an seiner Seite und sagte fast nichts. Doch ihre Augen gaben ihm zu verstehen, dass er sich um nichts sorgen müßte und dass alles Kommende richtig wäre.

Noch bevor sie sich das erste mal berührten, wußte er, dass er sie schon "tausend Jahre" kannte. Er sah sie an und spürte, dass es ihr genauso ging.
Gemeinsam erlebten sie berauschende Momente der Zärtlichkeit und des Verstehens. Immer wieder liebten sie sich, erforschten und erkannten sie sich und ließen die Zeit bedeutungslos erscheinen. Sie klammerten sich mit einer Intensität aneinander, die Trennung verzweifelt ausschloss. Hatte er sich in diese Frau verliebt? Er fand keine Antwort. Er wußte aber, dass sie ihm so viel mehr gab als "nur Sex". Sie gab ihm Zärtlichkeit, wortloses Verstehen, Geborgenheit und das Gefühl zu leben.
Diese Nacht war ein Intermezzo. Aber es weitete sich aus zu einem Vulkanausbruch der Gefühle deren Lavafluten sich ihren Weg suchten und ihn für immer brandmarkten. Dass sie sich nicht wiedersehen würden, war ihnen trotz allem bewußt. Aber nichts ist unmöglich. Dieser Hoffnung gab er sich mit derselben Leidenschaft hin, mit der er sich dieser wunderbaren Frau ergab. Denn er hatte in dieser Nacht gelernt, dass "sich nicht schämen zu müssen" nichts zu tun hat mit "schamlos".

Calo v. Oss 2001

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