Die Marmorecke

"Schau sie dir an! Sind sie nicht schön?" "Ja, das sind sie, und sie werden es immer bleiben. Das liegt wohl daran, dass sie so glücklich sind." "Du weißt, ich mag deine Eltern sehr. Aber sie wirken auf mich ein wenig entrückt. So, als würden sie in einer anderen Welt leben. " "Möglicherweise tun sie das ja auch. Sie haben eben eine überirdische Liebe erlebt und erleben sie immer noch."
Hubert nahm seine Tabakspfeife vom Regal und stopfte sie sorgfältig während er die beiden Menschen beobachtete, die händchenhaltend auf der Terrasse saßen. Wie jedes Jahr hatte er Hellen und Henry eingeladen, den Herbst mit ihm und Martha zu verbringen. Er wußte, wie sehr sie die Sonne und das milde Klima der Mittelmeerinsel liebten. Es war mittlerweile fast zu einem Ritual geworden, dass seine Eltern sich nach dem Abendessen draußen auf die Bank vor dem Haus setzten und beobachteten, wie die rotglühende Sonne am Horizont in das Meer eintauchte. Dabei hatten sie zärtlich ihre Hände ineinander verschränkt.

"Was tun sie nur immer da draußen?" fragte Martha ihn. "Sicher der Sonnenuntergang ist wunderbar. Aber deswegen sehe ich ihn mir nicht jeden Abend wieder an. Und weshalb nimmt Mutter immer dieses Amulett mit? Ich kann mich nicht erinnern, dass ich sie schon einmal ohne den Stein gesehen hätte." "Der Stein ist etwas ganz besonderes." antwortete Hubert. "Mutter hat ihn noch vor meiner Geburt in Gold fassen lassen. Er ist für sie beide der Beleg ihrer gegenseitigen Liebe." "Aber das ist doch nur ein kleines Stück schwarzer Marmor." "Richtig. Nur ein kleines Stück schwarzer Marmor und trotzdem für beide das wertvollste Schmuckstück der Welt. Ich erzähle dir, wie es dazu wurde."

Hubert steckte sich umständlich seine Pfeife an und setzte sich zu Martha.
"Die Jahre zwischen 1945 und 1950 waren nicht einfach für Henry", begann er "Aber für wen waren sie das schon? Jeder mußte sich nach dem Krieg eine neue Existenz aufbauen. Er war gleich nach der Schneiderlehre zur Army eingezogen worden, hatte in Frankreich und Deutschland gekämpft und überlebt. Zuhause in London hatte der Krieg auch unübersehbare Spuren hinterlassen. Henry war jung, kräftig und er konnte zupacken. Als Schneider zu arbeiten, war in der ersten Zeit nicht möglich. Aber Arbeit gab es trotz allem. Wo es nur ging half er mit, Häuser wieder aufzubauen und Straßen auszubessern. Außerdem war er ein intelligenter junger Mann, der eine Chance erkannte, wenn sie sich ihm bot. So hatte er Stoffe gekauft, aus der früher Uniformen hergestellt worden waren. Mit dem Geld, das er als Hilfsarbeiter verdient hatte, konnte er sich schon bald eine kleine Schneiderwerkstatt einrichten. Es dauerte nicht lange und er hatte sein Auskommen mit dem Herstellen von Mänteln, Anzügen und Kleidern, denen man nicht ansah, dass die Stoffe ursprünglich für einen anderen Zweck gedacht waren. Auch Hellen, seine Jugendliebe, sorgte mit ihrer anhaltenden Liebe dafür, dass er sich mit Mut und Tatkraft auf seine Kariere konzentrieren konnte. Die Schneiderwerkstatt im Hinterhof einer alten Mietskaserne war inzwischen zu klein geworden. Henry hatte beschlossen, eine größere Werkstatt zu bauen und Näherinnen einzustellen. Die Damen und Herren der Gesellschaft konnten seine Kreationen mittlerweile in zwei Modegeschäften in bester Lage einkaufen und sicher sein, dass sie den neuesten Schick der "Fünfziger Jahre" auf ihren Luxuskörpern spazieren trugen.

Die Geschäfte liefen ausgezeichnet. Henry und Hellen hatten schon seit längerem einen Traum, den sie sich nun erfüllen wollten. An der Küste, östlich von Ipswich, stand ein kleines Haus auf einem Hügel. Es war ihnen aufgefallen als sie ein Wochenende am Meer verbracht hatten. Hellen schwärmte so lange vom Leben auf dem Land, bis Henry herausgefunden hatte wem das Haus gehörte und das es zu einem annehmbaren Preis zum Verkauf stand. Schon kurze Zeit später waren sie eingezogen. Das heißt - Hellen war eingezogen, denn Henry verbrachte die meiste Zeit, nach wie vor, in der Londoner Firma.
An den Wochenenden fuhr er allerdings mit seinem nagelneuen Morris an die Küste in ihr Haus auf dem Hügel. Anfänglich schaffte er es bisweilen sogar auch in der Woche einmal zu Hellen zu fahren.

Doch die Firma wuchs von Jahr zu Jahr. Damit war selbstverständlich auch ein größerer Arbeitsaufwand für Henry verbunden. Immer häufiger mußte er ein Wochenende zu Hause gegen Geschäftstermine, Konferenzen und Messebesuche eintauschen. Hellen sah das mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Einerseits war sie stolz auf Henry. Andererseits wünschte sie sich, intensiver an seinem Leben teilnehmen zu können. So sehr sie das Leben an der Küste liebte, hatte sie doch manches mal den Entschluß verflucht, das Haus auf dem Hügel gekauft zu haben. Das Alltagsleben mit Henry und auch die Freunde in der Stadt fehlten ihr immer öfter. Henry bekam von alledem nichts mit. Wenn er zu Hause war, waren sie glücklich. Wenn er unterwegs war konnte er Hellens Tränen nicht sehen.

Es war Winter. Genauer gesagt war es der eiskalte Winter des Jahres 1955. Henry wußte schon nicht mehr wo ihm der Kopf stand vor lauter Arbeit. Das Weihnachtsgeschäft war sehr erfolgreich gewesen. Aber er mußte, wie jeder Firmenchef im Januar, den Abschluß für das vergangene Jahr vorlegen. Er mußte die neue Kollektion bestimmen. Er mußte den Vertretern, die seine Kunden besuchten, die Präsentation neuer Teile schmackhaft machen. Er mußte, mußte, mußte...! Alle Mitarbeiter warteten darauf, dass er sein letztes o.k. gab. Egal wie wichtig oder unwichtig ihr Anliegen war. Henry sehnte sich danach am Wochenende zu Hellen zu fahren, um diese wunderbare Ruhe zu genießen, die immer gegenwärtig war selbst, wenn sie sich einfach nur an den Händen hielten. Doch in diesem Wochenende schien der Wurm zu stecken. Am Morgen war ihm auf eisglatter Straße ein Truck in den Wagen gefahren. Nicht schnell aber kraftvoll. Ihm selber war nichts passiert. Aber der Morris war nur noch dazu gut, den Autoverwerter um ein paar Pfund reicher zu machen. Also hatte er sich entschlossen mit dem Zug nach Ipswich und von dort mit einem Taxi weiter zu fahren.

Bei dichtem Schneefall erreichte er das Haus auf dem Hügel. Er bezahlte den Taxifahrer und sah sich suchend um. Seltsam, um diese Uhrzeit brannte normalerweise das Licht an der Eingangstür. Egal, Hellen würde vergessen haben es einzuschalten und schon mit einem heißen Tee vor dem brennenden Kamin auf ihn warten. Er war froh endlich zu Hause zu sein und freute sich darauf, die beste und schönste Frau der Welt in die Arme schließen zu können.

Zu dem Schnee hatte sich mittlerweile ein Sturm gesellt, der kräftig an den Dachziegeln und den Fensterläden rüttelte. "Ich werde nachsehen müssen, ob alles dicht ist." dachte er bei sich "Das Haus ist alt. Wenn der Sturm stärker wird hat er unter Umständen viele Angriffsflächen, an denen er sich nach Herzenslust austoben kann." Er zog sich den Hut tief ins Gesicht und stemmte sich gegen die Böen, um den Hügel hinauf zu stapfen. Als er den Schlüssel in das alte Türschloss schob, überkam ihn eine selten erlebte Unruhe. Die Tür war doppelt verschlossen. Das taten sie nur, wenn sie beide das Haus verließen. Drinnen wurde die Befürchtung zu Gewissheit: Hellen war nicht da.

Das Haus war leer. Henry ging trotzdem durch alle Räume um nach Hellen zu suchen. Er wußte, dass er sie nicht finden würde. Doch wie unter Zwang erkundete er sogar den Speicher unterm Dach und den dunklen Keller. Hellen blieb verschwunden. Er suchte in der Küche und im Wohnzimmer nach einem Brief oder einem Zettel, den sie für ihn geschrieben hätte, um ihm mitzuteilen, dass sie nur kurz zu einem Nachbarn gegangen wäre und gleich wieder zurückkommen würde. Aber er fand nichts. Nirgendwo im Haus gab es ein Lebenszeichen von Hellen. Sie war weg. Und die Stille im Haus wurde ihm unheimlich.

"Es wird schon eine Erklärung geben", hoffte er und machte sich daran, den Kamin anzuheizen. Um sich zu beruhigen und abzulenken schenkte er sich ein großes Glas seines Lieblingsscotch ein und nahm ein Buch aus dem Regal. Unkonzentriert blätterte er die Seiten um und dachte ununterbrochen an Hellen. Er schaltete das Radio an. Die Wetternachrichten berichteten nichts Gutes. Von einer Sturmwarnung an der Küste war die Rede. Die Bahngesellschaft hatte ihren Betrieb mittlerweile eingestellt. Der letzte Zug, der gefahren war, hatte ihn hergebracht. Henry mußte sich wohl oder übel damit abfinden, dass er von der Außenwelt abgeschnitten war. Möglicherweise war Hellen in der Stadt gewesen und konnte wegen des Wetters nicht zurück kommen. Noch immer beunruhigt ging er in die Küche, um sich einen Imbiss zuzubereiten.

Der Sturm zerrte und rüttelte mit aller Kraft an dem Haus, das ihm auf dem Hügel hilflos ausgeliefert war. Irgendwo hatte sich ein Fensterladen aus der Verankerung gelöst. Er schlug mit aller Macht immer wieder gegen die Hauswand. Den Teller mit dick belegten Sandwiches in der Hand, machte Henry sich erneut auf den Weg, um den klappernden und schlagenden Störenfried zu finden. Merkwürdig, alle Läden waren fest verschlossen. Doch das Klopfen, dass sich immer wieder durch das laute Singen des Sturms hindurch bemerkbar machte, ließ nicht nach. Verwirrt ging er zur Haustür, um auch dort nachzusehen. Sie war ebenfalls verriegelt. Aber das Klopfen, so erkannte er, kam von dort. "Es wird Hellen sein", dachte er und beeilte sich, die Tür zu öffnen. Doch es war nicht Hellen, die dort, eine alte Strickmütze bis an die Augen gezogen und den Kragen einer Seemansjacke hochgeschlagen, stand.

"Guten Tag mein Freund. Hätten Sie vielleicht die Güte mich einzulassen? Ich möchte mich nur ein wenig aufwärmen, bevor ich meinen Weg nach Easton fortsetze". Überrascht trat Henry zur Seite. "Natürlich. Kommen Sie rein", meinte er einladend. "Sie haben sich zum Spazierengehen aber auch nicht gerade das beste Wetter ausgesucht". "Da haben Sie recht, junger Mann. Aber ein Spaziergang ist es auch nicht, was mich auf diesen Weg führt. Ich folge nur meiner Bestimmung."

Im flackernden Licht des Kamins hatte Henry die Gelegenheit sich seinen späten Gast genauer anzusehen. Ein alter Mann mit vielen tiefen Furchen im Gesicht stand da vor ihm. Die kräftigen Hände hielten einen knorrigen Wanderstock, mit dem er an die Tür geklopft hatte. Die vom Sturm geröteten Augen sahen ihn freundlich an. Noch etwas anderes sah Henry in diesen Augen: Klugheit und Wärme waren zu erkennen, und Henry fühlte sich sofort hingezogen zu diesem Fremden. Verwirrt ertappte er sich dabei, dass er seinen Gast eine Weile neugierig angestarrt hatte. "Entschuldigen Sie. Ich habe Ihnen noch gar nichts angeboten, Mr. ..." "Jackson, Allen-Roy Jackson ist mein Name. Danke, gegen einen Scotch hätte ich nichts einzuwenden. Der bringt Wärme auch in die verblichensten Knochen. Auch wenn Hunger und Durst mich schon lange nicht mehr plagen, ist der Geschmack eines guten Scotch wie das Geschenk aus einer anderen Welt." Dabei sah er mit vergnügten Augen auf die geöffnete Flasche, die neben einem halbvollen Glas auf dem Tisch stand.

"Wissen Sie was?" meinte Henry "Wir trinken jetzt erst einmal einen ordentlichen Schluck und dann lasse ich ihnen heißes Wasser in die Wanne. Sie können jetzt sowieso nicht mehr weiter, egal wohin Sie wollen. Während sie baden werde ich Ihre durchnäßte Kleidung in der Küche über dem Ofen aufhängen. Hellen, meine Frau, ist leider nicht hier. Aber ich denke, wir werden uns auch so einen gemütlichen Abend machen können." "Das ist sehr freundlich von Ihnen. Ja, ich denke, ich werde Ihr Angebot annehmen. So einen Abend erlebt man nicht gerne alleine."

Irgendwie war Henry froh über den unerwarteten Gast. Nun war es wirklich nicht alltäglich, einen absolut Fremden in sein Haus einzuladen. Schon gar nicht in der Einsamkeit einer so abgelegenen Gegend. Aber dieser alte Mann hatte etwas besonders faszinierendes an sich. Henry war, als würde der Besucher durch ihn hindurch und mitten in sein Herz sehen können. Sicher, er hatte eine etwas gestelzte Art sich auszudrücken, und seine Kleidung zeugte nicht gerade von Reichtum. Dennoch hatte Henry das Gefühl, er könne diesem Mann vertrauen. Und außerdem war es ihm sehr willkommen, dass ihn jemand von seinen Sorgen um Hellen ablenkte.

Während Allen-Roy im Bad war machte Henry sich daran, die nassen Kleider am Küchenherd aufzuhängen. Als er die Hosenbeine mit Klammern befestigen wollte, fiel etwas klimpernd auf die heiße Herdplatte. "Was alte Männer so alles mit sich herumtragen", dachte Henry belustigt und sah auf den kleinen schwarzen Stein der dort lag. "Als Kind habe ich auch Steine gesammelt. Ob sich das bei mir wiederholt, wenn ich alt bin?" Er nahm den Stein und sah ihn sich genauer an. Es war ein scharfkantiges Stück schwarzen Marmors. Auf der einen Seite war es blank poliert. Auf der anderen Seite war es grob und matt. Er legte den Stein auf den Tisch am Kamin und schenkte sich noch ein Glas Whisky ein. In seinem Sessel nippte er genüßlich an dem Getränk und hörte seinen Gast im Bad fröhlich plätschern und dabei ein altes Seemannslied trällern.

Kurz darauf kam Allen-Roy, dick eingepackt in Henrys großen Bademantel zurück zum Kamin. "Wissen Sie überhaupt, Henry, was für ein Glück Sie haben?"
"Nun", meinte Henry "ich weiß nicht ob das Glück ist, wenn einem der Sturm fast das Haus über dem Kopf wegreißt und man nicht weiß, ob die Frau, die man liebt, nicht irgendwo da draußen hilflos herumirrt." "Ich kann Sie gut verstehen lieber Henry", entgegnete der Besucher "aber sie sollten sich keine allzu großen Sorgen machen. Hellen geht es bestimmt gut."

Es gab einige Dinge, die Henry im Moment nicht richtig verstand. Wieso meinte der alte Mann, er bräuchte sich nicht zu sorgen? Und woher kannte er seinen und Hellens Namen? Er war sich sicher, dass er Allen-Roy noch nicht gesagt hatte wie er, und schon gar nicht wie seine Frau hieß. Doch er kam nicht dazu, diesen Gedanken weiter nachzuhängen. "Da ist er ja!" rief sein Gast und hielt mit einer verspielten Geste den kleinen Marmorstein in der Hand, der aus der Hosentasche gefallen war. "Ja, entschuldigen sie, dass ich Ihnen den Stein nicht gleich zurück gegeben habe. Ich hatte ihn schon total vergessen", meinte Henry. "Den brauchen Sie mir nicht zurückzugeben. Wenn er bei Ihnen sein will, dann soll er auch hier bleiben. Ich habe das Gefühl, er wird Ihnen Ihr Glück erhalten. Ich schlage vor, Sie bewahren ihn immer an einem Ort auf, der Ihnen besonders wichtig ist. Ich war früher Archäologe und kann Ihnen versichern, dass ich schon so manches mal verwundert war, über die Kraft die von einem kleinen unscheinbaren Kieselstein ausgehen kann."

Belustigt, aber auch erfreut über die gute Absicht seines Gastes, versprach Henry, auf den Stein zu achten und bedankte sich bei dem wundersamen alten Mann. Es wurde ein ausgesprochen gemütlicher Abend. Sie tranken noch etliche Gläser, und Henry hatte kaum Gelegenheit dazu, über Hellens Abwesenheit nachzudenken. Irgendwie hatten ihn die Worte des Besuchers beruhigt. Schon bald war klar, dass Allen-Roy bei Henry übernachten würde um seinen Weg nach Easton am nächsten Tag fortzusetzen, wenn sich das Wetter gebessert haben würde.

Nachdem Henry dem Besucher das Gästezimmer gezeigt hatte, machte er wie immer einen Kontrollgang durch das Haus. Er prüfte die Schlösser der Türen und versicherte sich, das auch alle Fenster fest verschlossen waren. Die Ereignisse des Tages hatten ihn müde gemacht und er beschloß, sich ebenfalls schlafen zu legen. "Ein seltsamer Mann", dachte er noch, bevor er einschlief. "Aber er ist auch ein sehr angenehmer Gesprächspartner für kalte Winterabende. Ich werde ihn einladen, wenn Hellen wieder da ist. Sie muß ihn unbedingt kennen lernen."

Irgendwann in der Nacht hatte er das Gefühl, dass er nicht mehr alleine in seinem Zimmer war. Er öffnete verschlafen die Augen und sah sich prüfend um. Doch da war niemand außer ihm. Er bemühte sich, wieder einzuschlafen, als er meinte eine Hand zu spüren, die ihm tröstend über das Haar strich. Er glaubte, eine Stimme zu hören, die immer wieder sagte: "Sorge dich nicht. Du bist ein guter Mensch. Sie wird da sein. Euer Glück wird in euch fest verankert sein wie der Stein in einer Mauer."

Erfrischt wachte Henry am nächsten Morgen auf. Unten im Haus hörte er schon das Geklapper von Geschirr. Der alte Mann schien ein Frühaufsteher zu sein. Alte Menschen brauchen eben nicht mehr so viel Schlaf. Aber deswegen mußte er doch nicht in der Küche herum werken. Henry wollte gerade die Daunendecke zur Seite schlagen, um unten nach dem rechten zu sehen, als die Tür geöffnet wurde. Doch nicht Allen-Roy stand dort mit einem Frühstückstablett in der Hand, sondern Hellen. Sie strahlte ihn an und meinte vergnügt: "Na, du Langschläfer, bist du endlich aufgewacht? Das wurde aber auch Zeit. Schau nach draußen! Die Sonne scheint. Es ist ein wunderbarer Tag um spazieren zu gehen. Jetzt aber schnell unter die Dusche. Anschließend können wir ja gemeinsam frühstücken oder noch ein wenig kuscheln oder beides." Sie küsste ihn kurz und leidenschaftlich, schob ihn zärtlich ins Bad und ließ einen sprachlosen Henry zurück.

Henry beeilte sich mit seiner Morgentoilette. Glücklich, dass Hellen gesund zurück war, hatte er doch tausend Fragen an Sie. Als er aus dem Bad kam, hatte sie zwei Sektgläser gefüllt und wartete im Bett auf ihn. "Komm Liebling, laß uns frühstücken. Was möchtest du zuerst? Honig, Marmelade oder Schinken?" Er ging zu ihr, nahm sie in seine Arme und streichelte liebevoll ihren schlanken Körper. Erfreut reagierte sie auf seine Zärtlichkeiten. Unter seinen Händen spürte er, wie sie sich in kurzer Folge spannte und entspannte. "Liebling, wir wollten doch frühstücken", flüsterte sie stockend mit unschuldigem Augenaufschlag. Wie wenig Ernst es ihr damit war, konnte er an dem Spiel ihrer Fingerspitzen auf seiner Haut erkennen. "Jetzt müssen wir erst einmal den richtigen Hunger stillen", murmelte er in ihrer Halsbeuge. "Essen können wir dann immer noch."

Erschöpft und fürs erste gesättigt lagen sie einige Zeit später nebeneinander. Sie hatten die Gläser zum zweitenmal gefüllt und ihrer Hände konnten nicht voneinander lassen. Henry erinnerte sich, was er sie fragen wollte. "Sag, wo warst du? Ich habe mir fürchterliche Sorgen um dich gemacht?" "Das glaube ich dir", meinte sie verständnisvoll. "Ich wollte dich überraschen und ein Wochenende in der Stadt mit dir verbringen. Ein schönes Essen, ein Theaterbesuch, und anschließend sollte es einen Besuch in einer Cocktailbar geben. Durch das Schneetreiben hatte mein Zug Verspätung und Du warst schon gegangen. Wegen des Wetters mußte ich ewig lang auf ein Taxi zum Bahnhof warten. Dort sagte man mir dann, dass in der Nacht kein Zug mehr fahren würde.

So habe ich den größten Teil der Nacht im Bahnhofrestaurant verbracht. Aber ich befand mich in guter Gesellschaft. Außer mir warteten noch viele Menschen auf die erste Möglichkeit nach Hause zu kommen. An meinem Tisch saß unter anderem ein älterer Herr, mit dem ich mich ausgezeichnet unterhalten habe." "Apropos älterer Herr", unterbrach Henry sie "Wo ist eigentlich unser Besucher? Hast du ihn schon gesehen?" "Was für ein Besucher?" fragte sie erstaunt "Hier ist niemand außer uns. Ich bin vorhin durch das ganze Haus gegangen, um die Fenster zu öffnen und die frische Morgenluft herein zu lassen. Ich hätte bestimmt bemerkt, wenn noch jemand da gewesen wäre."

Sie zogen sich an und inspizierten das Haus noch einmal gemeinsam. Von Allen-Roy gab es keine Spur. Das heißt, eine Spur gab es doch: Auf dem Tisch vor dem Kamin lag ein kleiner, scharfkantiger, glatt polierter Marmorstein. "Siehst du?" erklärte Henry triumphierend "Er war doch hier. Wie sollte sonst diese Marmorecke hierher gekommen sein? Er wird wohl schon am frühen Morgen weitergegangen sein, um pünktlich nach Easton zu kommen." "Ich muß dich enttäuschen", widersprach Hellen. "Als ich kam, waren die Türen und die Fenster verschlossen. Solltest du eventuell doch ein paar Gläser zuviel getrunken haben?" "Aber nein", verteidigte sich Henry "Er war hier. Auch, wenn ich mir nicht erklären kann, wie er das Haus verlassen haben sollte."

Er berichtete ihr von dem späten Besucher und davon, wie sehr der alte Mann ihn beruhigt hätte, als sie über Hellen gesprochen hatten. Hellen sah ihren Mann nun doch nicht mehr so skeptisch, dafür um so verwunderter an. "Ich habe dir doch von dem Tischnachbarn im Bahnhofrestaurant erzählt. Der sah genauso aus, wie du deinen Gast beschrieben hast. Als er mich weinend und verloren dort sitzen sah, hat er meine Hand genommen und gesagt: "Machen sie sich keine Gedanken. Ihrem Mann geht es bestimmt gut und ich bin mir sicher, sie werden bald wieder glücklich bei ihm sein. Manchmal hat das Leben Kanten wie ein Stein. Drücken Sie den Stein an ihr Herz, und Sie werden fühlen, dass er warm wird als wäre er ein Teil von Ihnen." Ich fühlte mich seltsam beruhigt und habe mich noch lange mit dem Mann unterhalten. Was ist mit uns heute Nacht passiert Henry?" fragte sie ängstlich. "Ich weiß es nicht", antwortete er. "Aber ich glaube, es war gut und sollte uns nicht ängstigen.

Schon bald sollte sich einiges im Leben der beiden verändern. Der liebevolle Wintervormittag im Haus auf dem Hügel war nicht ohne Folgen geblieben. Hellen war endlich schwanger. Henry freute sich so sehr, dass er völlig aus dem Häuschen war. Nicht eine Minute wollte er mehr auf Hellens Gegenwart verzichten. Folglich, wenn auch schweren Herzens verkauften sie das Haus auf dem Hügel und nahmen sich eine große Wohnung in der Stadt. Die Geschäfte gingen weiter sehr gut, aber Henry hatte sich entschlossen, einen Geschäftsführer für den kaufmännischen Bereich einzustellen. So hatten sie wesentlich mehr Zeit füreinander und konnten sich gemeinsam auf den Familienzuwachs vorbereiten.

Im Sommer mußte Henry an die Küste nach Easton fahren. Leo, der alte Lagermeister, war nach kurzer Krankheit gestorben. Henry sah es als seine Pflicht an, dem treuen Mitarbeiter in dessen Heimatort die letzte Ehre zu erweisen und der Familie sein Beileid auszusprechen. Auf dem Friedhof traf er auf eine kleine Trauergemeinde. Er hielt sich respektvoll im Hintergrund und wartete darauf, dass der Pfarrer seine Ansprache beendete. Gedankenverloren ließ er seinen Blick über die Gräber des alten Dorffriedhofes schweifen. Ein Friedhof erzählt oft mehr über die Geschichte einer Gemeinde, als die genauesten Aufzeichnungen. Ein Grabstein, nur wenige Meter von ihm entfernt, fesselte sofort seine Aufmerksamkeit. Ohne zu wissen warum, ging er näher, um die Inschrift zu lesen. Verblüfft las er, was dort stand:
Allen-Roy Jackson. Geboren 12 Mai 1860. Gestorben im Januar 1945. Er bereiste die Welt, um ihre Geheimnisse zu ergründen und erfror auf dem Weg in die Heimat an einem Hügel bei Ipswich.

Am linken, oberen Rand des Grabsteins war eine kleine Ecke herausgebrochen. Henry kramte in seiner Tasche nach dem kleinen Stein, den er seit jenem Tag als Talisman bei sich trug. Er legte ihn in die beschädigte Stelle und war überhaupt nicht verwundert, dass er genau hinein passte. Wie hatte Allen-Roy gesagt? "Bewahren Sie ihn immer an einem Ort auf, der Ihnen besonders wichtig ist." "Das werden wir tun Allen-Roy. Wir werden ihn in Ehren halten. Vielen Dank für alles". Als er den Friedhof verließ, hatte er das Gefühl, als würde eine freundliche Stimme hinter ihm sagen: "Ist schon gut und grüßen sie Hellen von mir."

Das tat er, kaum, dass er zu Hause angekommen war. "Stell dir vor", bestürmte er Hellen, "er ist im Januar vor zehn Jahren an unserem Hügel gestorben. Ich habe nachgeforscht. Damals war ein ähnlich kalter Winter wie dieses Jahr. Die Menschen, die zu der Zeit in unserem Haus gewohnt haben, sollen nicht sehr freundlich gewesen sein. Möglicherweise haben sie nicht auf sein Klopfen reagiert und so mußte er jämmerlich erfrieren. Er folgte seiner Bestimmung, hat er gesagt. Vielleicht mußte er einfach noch einmal versuchen, liebevoll und gastfreundlich aufgenommen zu werden, um seine Ruhe zu finden."

Hubert klopfte seine Pfeife aus und legte sie neben den Aschenbecher. "Noch am selben Tag brachte Mutter den Stein zum Juwelier und ließ ihn in Gold fassen. Vater schenkte ihr eine wunderschöne Kette dazu. Sie hat seitdem das Amulett immer getragen Wenn du die beiden jetzt auf der Terrasse sitzen siehst, dann denken sie an Allen-Roy und danken ihm für jeden glücklichen Tag und besonders für den Tag, an dem ich entstand"

Er nahm Martha bei der Hand und ging mit ihr auf die Terrasse, um gemeinsam mit den Eltern den Rest des Abends zu verbringen. Hellen sah auf und betrachtete liebevoll ihre Schwiegertochter. "Ich habe gehört, wie Hubert dir die Geschichte von der Marmorecke erzählt hat. Jetzt verstehst du wohl auch, warum er mit zweitem Namen Allen heißt. Eines Tages wirst du dieses Amulett tragen. Ich weiß, dass es bei dir gut und sicher aufgehoben sein wird". Die junge Frau umarmte ihre Schwiegereltern zärtlich und wußte, dass sie in Zukunft die Schönheit eines Sonnenuntergangs nie mehr als selbstverständliche Nebensache sehen würde.

Für Hanna
Calo von Oss 2003

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