Im Hafen
"Der liebe Gott ist manchmal schon sehr großzügig",
denkt Mike. Was kann schöner sein, als am frühen Morgen hier im
Hafen zu sitzen und einen türkischen Mocca zu schlürfen? Er
liebt diesen Platz. Die meisten Touristen liegen noch in ihren
Hotelbetten und erholen sich von den Urlaubsstrapazen des
vergangenen Tages. Manche trauern möglicherweise auch ihren
Verlusten in einem der Kasinos nach. Das soll nicht heißen, dass
die Menschen zum Spielen nach Zypern kommen. - Im Gegenteil. Das
Meer, die Berge, das Land, die vielen kleinen Orte und natürlich
das bunte Treiben in den Häfen sind Grund genug, hierher zu
kommen. Aber wenn man schon einmal da ist, kann ein Kasinobesuch
nicht schaden. Für den einen oder anderen bedeutet das dann
allerdings auch, dass die gut behütete Urlaubskasse erheblich
erleichtert wird. Mike dagegen kann dem Spielen um hohe Einsätze
nichts abgewinnen Sein Glück liegt unter anderem einfach darin,
an seinem Lieblingsplatz im Hafen zu sitzen und zu beobachten,
wie der Tag sich bemerkbar macht. Einige Fischer kommen von ihrer
nächtlichen Fahrt zurück, während die Ausflugsboote schon auf
die ersten Passagiere des Tages warten. Vor den Cafés spritzen
Kellner die Straße mit Wasser ab, um sie vom Staub des vorigen
Tages zu befreien. Langsam füllen sich die Tische mit Urlaubern,
welche es, genau wie er, genießen, wenn die Morgensonne über
das Kastell scheint. Sie taucht den Hafen in ein wunderbares
Licht. Das Rot der Sonne, das Blau des Meeres und das Gelb der Häuserfassaden
ergeben eine Mischung, die immer wieder für ein wohliges
Kribbeln auf seiner Haut sorgt. Wann immer er Gelegenheit dazu
hat, kommt er in den Hafen von Girne, um dieses Gefühl zu
erleben, dass er schon vor Jahren als Tourist gehabt hatte.
Damals hatte ihn diese Insel so sehr beeindruckt und für sich
eingenommen, dass er schnell beschlossen hatte ganz hierher zu
ziehen.
Es hatte sich alles wie von selbst gefügt, dass er jetzt hier
sitzen kann. Der kleine Maurergeselle von damals hätte nicht im
Traum daran gedacht, einmal auf dieser wunderschönen Insel zu
leben. Damals hieß er noch Michael, und für ihn war klar, dass
er sein Arbeitsleben auf "dem Bau" verbringen würde.
Etwas anderes war undenkbar für ihn. Und er wollte mit Helga
zusammen bleiben. Sie war der Mittelpunkt seines jungen Lebens.
Helga machte eine Ausbildung zur Restaurantfachfrau. Wann immer
er Zeit hatte, holte er sie nach Feierabend mit seinem Käfer von
der Arbeit ab. Das war bei ihren unterschiedlichen Arbeitszeiten
nicht immer so einfach, wie sie es sich gewünscht hätten.
"Ich habe ja wirklich nichts gegen deinen Beruf",
betonte er oft, "aber, dass du abends und an den Wochenenden
keine Zeit für mich hast, finde ich einfach nicht ideal."
"Was heißt hier ideal?", ereiferte sie sich dann
"Hast du dir schon einmal überlegt, dass ich es überhaupt
nicht toll finde, dass du ausgerechnet an meinen freien Tagen auf
dem Bau deines Onkels schuftest? Wenn wir uns dann mal sehen, fällst
du vor Müdigkeit um. Wolltest du nicht weiter zu Schule gehen,
um anschließend zu studieren? Als Student könntest du dir die
Zeit einteilen und mich viel öfter sehen. Aber das waren wohl
doch nur Hirngespinste. Der große Architekt will eben doch nur
ein kleiner Maurer bleiben." Solche Szenen wiederholten sich
mit schöner Regelmäßigkeit. Natürlich liebte er Helga. Natürlich
hatte sie Recht. Aber diese Streitereien gingen ihm von mal zu
mal mehr auf die Nerven.
Also meldete er sich an, um seine Hochschulreife nachzuholen.
Entgegen seinen Erwartungen machte ihm die Schule Spaß. Und so
saß er oft bis tief in der Nacht vor seinen Büchern um zu
lernen und sich auf Arbeiten und Klausuren vorzubereiten. Helga
hatte sich das allerdings ganz anders vorgestellt. Sie sahen sich
noch seltener als zuvor. Wenn sie zusammentrafen stritten sie
immer häufiger und irgendwann bemerkten sie, dass sie kein Paar
mehr waren. Er dachte trotzdem oft an sie, denn sie blieb für
ihn, durch die Zeit, die große Liebe.
ichael beendete sein Studium mit Auszeichnung und fand sehr bald
eine Anstellung in einem angesehenen Architekturbüro. Ab und zu,
wenn er Freunde traf, hörte er von Helga. Davon, dass sie
Karriere machte. Nach lehrreichen Jahren habe sie einen tollen
Job in einem Hotelkonzern gefunden. Wenn irgendwo ein neues Haus
übernommen oder gebaut würde, wäre sie diejenige, die dort den
Service organisierte. Sie kam weit herum, und obwohl er sie die
ganze Zeit nicht gesehen hatte, wußte Michael immer wo sie war.
Auf die entsprechende Frage hätte er antworten können: "Voriges
Jahr war sie zuerst in Hongkong und danach in Kapstatt. Jetzt ist
sie in Toronto, aber in drei Monaten wird sie in Berlin sein."
Immer, wenn er von ihr hörte, freute er sich über ihren Erfolg.
Und er gestand sich ein, dass er sie noch immer vermisste.
Auch ihm ging es beruflich sehr gut. Er war mittlerweile
Teilhaber einer Baufirma geworden, und er brauchte sich um die
Zahlen auf seinem Konto keine Sorgen zu machen. Durch seine
Arbeit lernte er viele interessante Länder und noch mehr
interessante Menschen kennen.
So waren die Jahre vergangen. Nach einem erfolgreich beendeten
Auftrag ließ Michael sich immer länger Zeit, bis er den nächsten
übernahm. Wozu gab es die jungen ehrgeizigen Architekten? Die
sollten ruhig zeigen, was sie konnten. Er dagegen machte lieber
ausgedehnte Urlaubsreisen in die Sonne. Auf einer dieser Reisen
war er auch nach Nordzypern gekommen. Die Menschen und ihre
freundliche Art hatten ihn gleich in ihren Bann gezogen. Schnell
war ihm klar geworden, dass diese Insel nicht nur einer von
vielen Urlaubsorten für ihn sein würde. Er weiß noch genau,
wann er den Entschluß gefasst hatte, sich von seinem bisherigen
Leben zu verabschieden. Es war in Bellapais gewesen, zwei
Kilometer oberhalb der kleinen Hafenstadt. Mit ein paar Freunden
hatte er in einem Cafegarten direkt unter dem berühmten "Baum
des Müßiggangs" gesessen. Zu seiner Linken befand sich die
Ruine der wunderschönen Abtei. Dahinter konnte er sehen, wie
sich die Wellen des Meeres im Abendlicht träge ans Ufer schoben.
Die hohen Berge oberhalb des Ortes wirkten in ihrer Dunkelheit
nicht bedrohlich, sondern schienen dem Dorf und seinen Menschen
Schutz geben zu wollen. Er fühlte sich unendlich wohl, und
irgendwie hatte vielleicht auch der Baum einen Einfluß auf seine
Entscheidung gehabt. Eigentlich, so dachte er, hatte er hart
genug gearbeitet und sollte sich etwas Müßiggang gönnen dürfen.
Von dem Erlös seiner Firmenanteile könnte er sicher hier für
lange Zeit sehr gut leben.
Schon kurz danach war er endgültig umgesiedelt. Es hatte nicht
lange gedauert, und er war die Partnerschaft mit einem jungen
Architekten eingegangen. Vorbedingung für die Zusammenarbeit war
aber gewesen, dass er zwar immer als Berater zur Verfügung
stand, selber aber nur einen Auftrag annahm, wenn ihn ein Projekt
besonders reizte. So wie bei dem neuen Hotel in der kleinen Bucht
zehn Kilometer westlich. "Wie", so hatte man ihn
gefragt "kann man dort eine Hotelanlage so in die Landschaft
integrieren, dass sie sich harmonisch an die Gegebenheiten anpaßt?"
Solche Aufträge liebte er. Mit großem Eifer hatte er sich an
die Planung einer Hotelanlage gemacht. Vor seinen geistigen Augen
entstanden Palmengärten mit Springbrunnen, in denen, versteckt
hinter Zitronen- und Orangenbäumen, Bungalows gebaut werden
sollten. Von außen würde die Anlage einfach und bescheiden
wirken. Dafür sollte im Inneren der pure Luxus herrschen.
Michael dachte nur noch an Kamine und Marmorterrassen, an
Swimmingpools, Restaurants und Zimmerfluchten. Er war in seinem
Element. Sein Leben fand, wieder einmal zwischen Bulldozern und
Baukränen statt. Er war wie berauscht von der Möglichkeit,
etwas neues zu erschaffen. Die Anlage wuchs von Monat zu Monat
und stand schon bald vor ihrer endgültigen Fertigstellung.
Eines Abends klingelte das Telefon: "Entschuldigen Sie, dass
ich sie so spät noch störe.", meinte sein Auftraggeber
"Aber ich möchte Sie in der nächsten Woche mit dem
Direktionsteam des neuen Hotels besuchen. Lassen Sie uns zusammen
essen gehen. Dann können wir die Endarbeiten besprechen und uns
anschließend noch ein paar schöne Tage machen."
Michael war froh Herrn Schubert wieder einmal zu sehen. Bei
seinem letzten Besuch hatte sich so etwas wie Freundschaft
zwischen ihnen entwickelt. Also, reservierte er einen Tisch in
dem kleinen Fischrestaurant, das Schubert so mochte und freute
sich auf die Zeit mit ihm.
Einige Tage später war Michael in der Anlage, um die Bepflanzung
um den großen Swimmingpool zu überwachen, als das Telefon in
seiner Hemdtasche summte: "Hallo Mike, hier ist Schubert.
Wir sind heute schon gekommen. Ich hoffe nur, das behindert Ihre
Pläne nicht." "Nein, überhaupt nicht. Im Gegenteil.
Ich freue mich, dass Sie da sind.", meinte Michael "Ich
muß nur die Reservierung in dem Hafenlokal ändern." "Das
brauchen sie nicht mehr zu tun. Wir sitzen nämlich schon hier
und genießen den Ausblick auf den Hafen bei einem exzellenten
Glas Wein. Kommen Sie doch einfach dazu, sobald sie Zeit haben."
Michael beeilte sich nach Hause zu fahren, um schnell zu duschen
und sich umzuziehen. Im Hafen angekommen, sah er schon von weitem
Schubert, der ihm von dem alten Steinbogen zuwinkte an dem das
Lokal stand. Draußen waren Tische aufgestellt worden. Dort traf
er auf eine kleine Gruppe gut gelaunter Menschen. "Schön,
dass Sie sich Zeit nehmen konnten Mike.", begrüßte ihn
Schubert "Darf ich Ihnen schon einmal einige meiner besten
Mitarbeiter vorstellen? Sie werden dafür sorgen, dass auch das
neue Haus ein Erfolg wird." Er zeigte auf die Anwesenden und
nannten ihre Namen. "Die wichtigste Person stelle ich Ihnen
auch gleich vor.", meinte Schubert mit einem hintergründigen
Lächeln "Was wäre ein Hotel schließlich ohne einen
Direktor? Sie müßte gleich da sein."
Michael ließ sich einschenken und war froh, dass Schubert seine
Mitarbeiter nicht nur mit Hilfe von Zertifikaten, sondern auch
mit dem Herzen auszusuchen schien. Er spürte sofort, dass
Menschen an diesem Tisch saßen, mit denen er auch privat gerne
zusammen sein würde. "Und jetzt darf ich sie, wie
versprochen mit der wichtigsten Person bekannt machen.",
unterbrach Schubert seine Betrachtungen. Während Michael sich
umdrehte um den Neuankömmling zu begrüßen meinte Schubert:
"Hier, lieber Mike ist der Boss des Hotels. Frau Helga
Steinbach. - Nanu Helga, was ist los mit Ihnen? Wollen Sie
unseren Stararchitekten nicht begrüßen? Keine Angst, der beißt
nicht."
Das wußte sie nur zu gut. Wie angewurzelt stand sie da, bekam
den erstaunten Ausdruck nicht aus dem Gesicht und den Mund nicht
zu. Auch Michael wußte nicht was er sagen sollte. Er stand vor
ihr und konnte doch nicht glauben, dass sie es war. Im nächsten
Augenblick lagen sie sich in den Armen und begrüßten sich zärtlich.
Nach kurzer Zeit wendeten sie sich entschuldigend den anderen zu
und bestürmten Schubert mit Fragen: "Wieso haben Sie mir
nicht gesagt, wer der Architekt ist?" "Warum haben Sie
mir nichts von Frau Seinbach gesagt?" " Wußten Sie,
dass ich ihn kenne?" " Weshalb ist sie die neue
Direktorin?" "Halt, halt!", donnerte Schubert fröhlich
glucksend dazwischen. "Eines nach dem anderen. Ich habe
Ihnen gesagt, Helga, dass Mike Hart der Architekt ist. Er nennt
sich nun mal nicht mehr Michael Hartmann. Und warum sollte ich
Ihnen, Mike, unbedingt von Frau Steinbach erzählen?
Um der Wahrheit die Ehre zu geben - Natürlich wußte ich, dass
Sie ihn kennen. Sie haben es mir selbst gesagt. Erinnern Sie
sich? Als wir das Hotel in Wien umgebaut haben, habe ich Sie
gefragt, ob Sie einen guten Architekten kennen würden. Sie haben
gesagt, der einzige den Sie kennen und der das könnte, wäre
Michael Hartmann. Aber der wäre gerade in Südamerika. Dabei
haben Sie so verträumt geschaut, dass ich gleich Bescheid wußte.
Und warum Helga die neue Direktorin ist? Ganz einfach, weil sie
die Beste ist und es Zeit wurde, dass sie ein Haus leitet. Natürlich
habe ich insgeheim gehofft, dass genau das geschehen würde, was
jetzt gerade passiert. Ich habe in meinem Job so viel mit Mißgunst
und Neid zu tun. Da wollte ich einfach mal versuchen, zwei
Menschen zu helfen, die es augenscheinlich verdienen. Es macht
Spaß, den Weihnachtsmann zu spielen. Prost auf euch!"
Verschmitzt grinsend nahm er sein Glas und trank es in einem Zug
aus.
Auch das war schon wieder ein Jahr her. Das Hotel erweist sich
mittlerweile als Volltreffer. Helga leitet es mit großem
Geschick und Liebe zum Detail. Mike baut immer noch Häuser. Zur
Zeit ist er dabei, ein besonderes Projekt in die Tat umzusetzen:
Eine Villa für zwei, mit unverbaubarem Meeresblick. Im nächsten
Monat werden sie gemeinsam dort einziehen. Voller Liebe denkt er
an Helga und daran, dass er nach langen Wegen nun endlich mit
ihr, auf dieser Insel der Aphrodite, auch einen sicheren Hafen
gefunden hat.
Er sitzt immer noch an seinem Lieblingsplatz, schlürft genüßlich
den Rest aus seiner Moccatasse und schickt ein kleines Dankgebet
zum Himmel. Dann steht er auf, winkt seinem Freund, dem alten
Bootskapitän grüßend zu und schlendert glücklich zum
Bauplatz, um die Bepflanzung rund um den Pool zu überwachen.
"Der liebe Gott ist manchmal schon sehr großzügig."
Calo v. Oss 2003