Die Fußmatte
Kennst du das, wenn du am Morgen aufwachst und das Gefühl hast,
die Augen zu öffnen war der erste Schritt in eine unaufhaltsame
Katastrophe? Der gestrige Tag war von Misserfolg gekrönt. Heute
hast du das gefürchtete Kriesengespräch mit dem Chef, und
morgen wirst du dir unter Umständen einen neuen Job suchen müssen.
Du schaust in den Spiegel und siehst nur eine Maske. Da ist keine
Fröhlichkeit, kein Mut und keine Kraft zu erkennen. Dein
Selbstbewußtsein passt in einen kleinen Fingerhut. Und dann
kommt jemand, der dir mit strahlendem Gesicht versichert: "Es
ist gut, dass es dich gibt!"
"So ein Unsinn", erwiderst du "was soll denn daran
gut sein?" Ich kann es dir sagen: Alles daran ist gut. Wenn
du nicht hier wärst an diesem Ort, in diesem Land, auf dieser
Erde, dann wäre die Welt nicht, wie sie ist. Jeder Mensch, auch
du, ist der kleine Teil eines großen Ganzen. Stell dir vor, die
Gesellschaft, in der du lebst ist ein Haus. Du bist ein
untrennbarer Bestandteil dieses Hauses. Was sagst du? Du könntest
höchstens eine Fußmatte sein? Ja, das ist doch gut! Die Matte
ist nichts schlechtes oder minderwertiges. Du mußt es nur
richtig verstehen.
Die Matte sorgt dafür, dass es im Haus sauber bleibt. Der Dreck
und der Staub der Straße werden von ihr fachkundig aufgefangen.
Niemand kann ins Haus gelangen, wenn er nicht vorher den Fußmattencheck
durchlaufen hat. Es spart enorm viel Arbeit im Haus, wenn eine Fußmatte
da ist, die ihren Auftrag ernst und sorgfältig ausführt. Kein
Mensch kommt durch die Tür, den Flur, die Zimmer, die Treppe
hinauf bis zum Dach, wenn er nicht zuvor der Fußmatte seine
Referenz erwiesen hat. Alle im Haus werden sagen: "Hallo Fußmatte,
wir danken dir. Ohne dich wären wir kein komplettes Haus. Es ist
gut dass es dich gibt."
Die Fußmatte wird stolz ihre Borsten aufstellen und denken:
"Ja, ich gehöre dazu. Meine Aufgabe mag klein sein, aber
sie ist trotzdem wichtig. Wenn ich nicht hier wäre, würden sich
bestimmt überall Schlamm- und Dreckspuren durch das Haus ziehen.
Es würde verkommen und nie mehr so sein, wie es jetzt ist. Wenn
ich mir ein wenig Mühe gebe, werde ich vielleicht irgendwann ein
Läufer oder sogar ein Teppich. Man kann nie wissen... " Sie
wird sich zufrieden zurecht schütteln, damit der letzte Staub
des Tages nach unten rieselt und dann glücklich einschlafen.
Nach wunderschönen Träumen von Filzpantoffeln und seidenweichen
Hausstrümpfen wird sie den neuen Tag mit dem Gedanken beginnen:
"Gut dass es mich gibt."
Calo v. Oss 2003
© Calo v. Oss 2003
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