Kommt nicht in
Frage
Ich weiß nicht was es ist. Ich weiß nicht genau, was mich so
sehr bewegt, wenn ich Schnee fallen sehe. Ich schaue oft aus dem
Fenster und beobachte, wie kleine, weiße Schneeflocken auf die
Erde fallen. Bald werden die Kristalle größer und man kann
keine fünfzig Meter weit sehen. Eine weiße, sich hin und her
bewegende, Wand baut sich vor meinen Augen auf. Sehr schnell hat
der Schnee alles eingehüllt in seine Zuckerbäckerdecke
Dieser Anblick erinnert mich an die Zeit, in der ich Kind war. An
eine Zeit, in der ich nicht weiter denken konnte, als vom Frühstück
mit Eltern und Bruder bis zum abendlichen Gutenachtkuss. Damals
hatten Schnee und Glatteis für mich noch nichts zu tun mit
endlosen Autostaus, Heizkostenabrechnungen und dem Wunsch nach
einem Urlaub in der Karibik.
Wenn ich damals auf den Küchenhocker stieg sah ich durch das
Fenster nur ein wunderschönes, weißes Paradies. Alles war von
dieser herrlichen, weißen Masse zugedeckt. Die Autos, die sonst
an ihrer bunten Lackierung leicht zu erkennen waren, ließen sich
nicht mehr voneinander unterscheiden. Sie waren nur noch weiße Hügel
unten auf der Straße. Ihre Form änderte sich von Minute zu
Minute. Der Nachbargarten, drüben auf der anderen Seite, hatte
seine Bedrohlichkeit verloren. Noch vor kurzer Zeit hatte er, mit
seinen hohen Bäumen und dichten Gebüschen, dunkel und
geheimnisvoll gewirkt. Jetzt wirkte er geradezu einladend. Am schönsten
waren die Abende für mich. Auch nach Eintreten der Dunkelheit
durfte ich unten mit den Großen spielen. Immer wieder warfen wir
uns in die meterhohe, weiße Pracht. Es war wunderbar im Schnee
zu liegen, ausgelassen herum zu toben und von dieser nasskalten
Masse zu kosten. Wenn wir dann, überglücklich und bis auf die
Haut durchnäßt, vor den alten Gaslaternen standen war die Welt
für uns in Ordnung. Oben, auf den Laternen hatten sich lustige
Schneehüte gebildet. Der enge Lichtkegel machte das Wunder
vollkommen. Wie viele Millionen kleiner Sterne glänzten und
blitzten die Kristalle im Gaslicht. So mußte es im Märchenland
aussehen, in dem Elfen und Zwerge lebten, in dem die Tiere
sprechen und die Schneemänner gehen konnten.
Mit den Schneemännern war es nämlich eine ganz besondere Sache.
Vater hatte uns gezeigt wie man solch einen weißen Koloss
herstellt. Und so war die Wiese vor dem Haus bald übersät mit
breiten, tiefen Rollspuren. Drei Kugeln brauchte man als erstes.
Wir rollten Schneebälle so lange über die Wiese, bis sie die
richtige Größe hatten. Eine große Kugel brauchten wir für den
Unterkörper, eine etwas kleinere für den Bauch und eine kleine
Schneekugel für den Kopf. Hatten wir das geschafft, mußten wir
unser Organisationstalent unter Beweis stellen. Es gab einiges zu
organisieren. Wir benötigten Eierkohlen aus dem Keller für die
Mantelknöpfe. Nüsse und eine dicke, rote Wurzel für Mund und
Nase mußten aus der Vorratskammer besorgt werden. Noch schnell
den alten Reisigbesen und einen Henkeltopf aus der gut bewachten
Küche geholt und alle wichtigen Zutaten für einen wirklich
guten Schneemann waren vorhanden.
Nachdem aus Schneewürsten dicke Arme geformt worden waren,
konnte unser Meisterwerk dekoriert werden. Einen Arm stemmte er
hoheitsvoll in die Hüfte. Der andere hielt den Besen wie einen
Bischofstab. Schnell wurden die Knöpfe eingedrückt, die Rübennase
befestigt und mit Nußschalen ein freundlicher Mund geformt. Die
Krönung war der Topfhut, der unbedingt große Henkel haben mußte.
Die Henkel stellten die Ohren dar. Ein Schneemann ohne Ohren wäre
ja nun wirklich nicht präsentabel gewesen.
Verzückt standen wir, nach getaner Arbeit, auf der Wiese und
waren stolz, etwas so perfektes erschaffen zu haben. Er hatte
aber auch wirklich alles, was ein erste Klasse Schneemann benötigte.
Nur eines nicht - Beine! Hat man je einen Schneemann mit Beinen
gesehen? Nein, und das hat auch seinen Grund.
Ich bin an einem Sonntag geboren. Also bin ich ein Sonntagskind.
Nun hatte ich gehört, dass, wenn ein Sonntagskind vor einem
Schneemann niesen muß, dieser auch niesen muß und lebendig wird.
Jetzt stelle man sich einmal vor, mit wieviel Mühe und Arbeit
wir am Werk gewesen waren, um so etwas wunderbares auf der Wiese
aufzustellen. Jeden Morgen führte mich mein erster Weg zum
Fenster, um zu sehen, ob er noch da war. Und da soll ich ihm auch
noch Beine machen damit er fortlaufen kann nur weil ein
Sonntagskind wie ich einmal niesen mußte? Kommt nicht in Frage!
Calo v. Oss 2003
© Calo v. Oss 2003
Email an Calo:
[email protected]