Umleitung
Es war einer dieser Tage. Er hatte schon nicht allzu gut begonnen.
- Mit dem Aufstehen. Das Wetter war nicht gerade berauschend und
meine Laune hatte sich mit Leichtigkeit dieser Situation angepaßt.
Nach einer Blitzdusche und einem opulenten Frühstück, bestehend
aus Nescafé und Müsliriegeln, eilte ich aus dem Haus.
Freundlicher Schnürlregen empfing mich mit munterem Geplätscher.
Es war jene Art Regen, die auf den ersten Blick eher harmlos
erschien. Sehr schnell aber wurde man eines Besseren belehrt. Das
einzige Kleidungsstück, in dein man mit trockener Haut sein Ziel
erreichen könnte, wäre ein Taucheranzug. Denn, dieser "hinterlistige
Regen war so fein, daß er sich durch jeden Stoff und durch jede
Naht schlängelte, um auf Schultern und Rücken dieses unangenehm
klamme Gefühl zu erzeugen, das auch nach kräftigem Frottieren
immer noch für Gänsehaut sorgte.
Wenn ich in die Redaktion musste, was heute der Fall war, fuhr
ich mit der S-Bahn in die Stadt. Zum einen konnte ich mit meinem
ausgeprägten Urnweltbewußtsein prahlen, zum anderen war es fast
unmöglich, einen Parkplatz zu finden, der meinem Einkommen
angemessen war.
In der Redaktion angekommen, war ich, wie erwartet, nass bis auf
die Haut. Der einzige Trost der mir blieb, war die Tatsache, daß
es den lieben Kollegen nicht anders ergangen war. Aus diesem
Grunde wurde die Besprechung, die eher an eine gemischte Sauna
erinnerte, in Rekordzeit beendet und jeder konnte seinen
sonstigen Verpflichtungen nachgehen.
Für mich bedeutete das erst einmal: Wieder raus in den Regen und
rüber in die Bank. Kontostand überprüfen, einige Daueraufträge
bestätigen und etwas Bargeld abheben. Wie ein Akrobat tänzelte
ich über die Straße um den größten Pfützen auszuweichen, Ein
sowohl hoffnungsloses wie auch überflüssiges Unterfangen. Meine
Schuhe, meine Strümpfe und die Hose waren mittlerweile ein Fall
für den Wäschetrockner, die Altkleidersammlung oder für die Müllabfuhr.
Während ich noch grübelte, warum es keine wasserfesten Straßenschuhe
gab, trat ich auf etwas Weiches. "Herr Gott noch mal - das
jetzt bitte nicht auch noch!" Ich sah nach unten und
entdeckte unter meinem Fuß zum Glück keinen Hundehaufen,
sondern einen, vom Wasser nahezu aufgeweichten, Tannenzapfen.
Wie kommt ein Tannenzapfen außerhalb der Weihnachtszeit in die
City? Keine Ahnung. Vielleicht hatte ein Kind mit ihm gespielt,
ein Vogel ihn verloren, oder er war von einem LKW gefallen. Egal
- was auch immer der Grund war, der Zapfen lag hier und ich stand
drauf. Wann hatte ich das letzte Mal einen Tannenzapfen gesehen?
War das wirklich schon Jahre her? Langsam ging ich weiter. Der
Regen war mir plötzlich egal, die nassen Füße nicht mehr
wichtig und die durchweichte Kleidung wurden zur Nebensache.
Die hübsche Brünette am Bankschalter wollte sich schon genervt
dem nächsten Kunden zuwenden, als ich bemerkte, daß sie mich
mittlerweile zum drittenmal nach meiner Kontonummer gefragt hatte.
Zerstreut erledigte ich meine Bankgeschäfte und fand mich
unvermittelt auf der Straße wieder.
Meine Gedanken drehten sich immer noch um diesen zertretenen
Tannenzapfen. Er erinnerte mich an ein Leben, von dem ich mich
schon vor langer Zeit verabschiedet hatte Er erinnerte mich an
Oberbayern und an eine Zeit, die für mich hauptsächlich pures
Glück bedeutete. Ich liebte die Menschen. Ich liebte die Dörfer.
Mit echter Leidenschaft aber liebte ich vorallem die grandiose
Berglandschaft. Nie zuvor und nie danach habe ich Wiesen von
solcher Farbenpracht gesehen. Sie schmiegten sich geradezu sanft
in die Bergtäler oder tauchten unvermittelt hinter der nächsten
Wegbiegung im Wald auf. Wie unvergleichlich war das Erlebnis
einer Bergwanderung, wenn man sich den Wecker auf fünf Uhr
gestellt hatte, um so früh wie möglich unterwegs sein zu können?
Die Nässe des Morgentaus hing noch an den Grashalmen auf der
Wiese. Und, durch die Spinnweben, die zwischen den knorrigen Ästen
alter Bäume gespannt waren, stahlen sich die ersten
Sonnenstrahlen in den Wald.
Um mir ein Stück vom Glück zu holen, brauchte ich nicht mehr
als festes Schuhwerk, Wanderstöcke und im Rucksack das, was in
Bayern eine "Brotzeit" genannt wird. Bei jeder
Wanderung empfing mich der Berg auf eine andere Art.
Mal winkte er mir mit den Kronen mächtiger Tannen freundlich zu,
mal zeigte er mir den Weg mit Hilfe der goldroten Morgensonne,
mal drückte er mich mit dem Wind, der über den Kamm wehte, in
die richtige Bergschneise um den Aufstieg zu beginnen. Das Ziel
war immer dasselbe und doch jedesmal anders. Nach oben wollte
ich, auf die Spitze des Berges. Trotzdem war das Erklimmen des
Gipfels nur das letzte Sahnehäubchen auf dem Dessert. Der Weg,
so sagt man, ist das Ziel. ,Nirgendwo sonst stimmt dieser Satz so
sehr, wie bei der Wanderung durch und auf einen Berg. Was man
sieht, riecht und fühlt ist nur schwer zu beschreiben Der Duft
von sattem Moos begleitet einen auf dem Weg durch den Wald. Der
Gebirgsbach in der Nähe erinnert daran, daß das Werden, Wachsen
und Vergehen eine ewiger Kreislauf ist. Der Geschmack seines
Wassers ist besser als jeder Champagner. Den Wald hinter sich
lassend, erreicht man Almwiesen, die vor Kraft nur so strotzen.
Neugierig beäugen einen die Rindviecher, die sich bis zum Herbst
stark fressen damit sie den Bergbauern diese unvergleichlich gute
Milch geben können.
Die Baumgrenze ist erreicht. Gleichmäßig in immer demselben
Takt und derselben Geschwindigkeit geht es weiter. Der Weg führt
über Geröllfelder, zwischen denen ab und zu ein paar Grasbüschel
dem Wanderer ihren ungebrochenen Überlebenswillen beweisen.
Pause machen ist jetzt wichtig. Umdrehen und demütig
herunterschauen auf das Tal, den Wald und die Wiesen die man
schon durchwandert hat. Man rruss kein Betbruder sein, um zu
verstehen, warum der Glaube an Gott gerade in Bayern so tief
verankert ist.
Mit neuer Kraft geht es jetzt weiter über den schmalen Grat und
die Steine herauf, die fast wie eine Treppe bestiegen werden können.
Und da ist es! Das Gipfelkreuz, das vor langer Zeit von starken
Schultern und festen Händen hier herauf getragen worden ist.
Erst wenn man das Kreuz berührt hat, ist man da. Die einen tätscheln
es wie einen alten Freund. Andere halten sich daran fest, als
wollten sie es nie mehr los lassen. Wieder andere streicheln es
voll Inbrunst, als wollten sie sich bedanken, daß sie es bis
hierher geschafft haben.
Jetzt heißt es wieder umschauen, genießen, einsaugen und
festhalten, Bis an den Horizont reiht sich Gipfel an Gipfel. Weit
hinten sieht man an etlichen Nordhängen noch riesige
Schneebretter kleben. Nirgendwo sonst ist das Wechselspiel aus
Licht und Schatten so intensiv.
Es fällt schwer, sich auf den Rückweg zu machen, weil man sich
nicht trennen will von diesem herrlichen Ausblick, der einem
unvergleichliche Glücksgefühle beschert. Den Berg hinab fühlt
man sich leicht wie eine Feder. Die Strapazen des Aufstieges sind
längst vergessen. Auf halbem Weg wird Rast gemacht an der Almhütte
deren Wirt du schon längst einen Besuch versprochen hast.
Rundherum sieht man nur fröhliche Menschen. Man könnte meinen,
bei all dem Lachen und Rufen könnte niemand auch nur ein Wort
seines Nachbarn verstehen. Aber was soll's? Das Glück braucht
sowieso nicht viele Worte. Der Weg führt weiter runter ins Tal.
Von weitem hört man schon die Glocke der kleinen Dorfkirche
rufen, und selbst die letzten Meter geht man beschwingt als hätte
die Wanderung gerade erst begonnen.
Ich stand immer noch im Regen und dachte an den naßglänzenden
Tannenzapfen. Dachte an Wälder an Berge und daran, dass jeder
selbst für sein Glück verantwortlich ist.
Was hielt mich hier in diesem Schmuddelwetter? Hatte ich wichtige
Termine in den nächsten Tagen? Keine! - Gut sehr gut. So schnell
es ging machte ich mich auf den Weg in meine Wohnung. Schnell
packte ich die nötigsten Dinge in eine Reisetasche und verstaute
sie im Wagen. Und dann ging es los. Raus aus der Stadt und dann
immer Richtung Süden. Ich wollte mich nicht mehr nur erinnern.
Ich wollte es wiedererleben dieses Gefühl, das so tief in mir
verankert war. Ich wollte mir dieses Gipfelglück wiederholen.
Und ich tat es.
Calo v. Oss 2001
© Calo v. Oss 2003
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