Die andere Nähe
Der Winter hat auch seine schönen Seiten. Vor allem, wenn es
Sonntag ist, wenn man gut geschlafen hat und draußen die Sonne
auf eine geschlossene Schneedecke scheint. Georg schenkte sich
noch einen Kaffee ein und schaute aus dem Fenster. Sein Blick
schweifte über die angrenzenden Gärten und Wiesen bis weit herüber
zum Waldrand. Hinten, wo die Hügel begannen, sah er Menschen,
die wie kleine dunkle Kuchenkrümel auf einer weißen Tischdecke
wirkten. Georg biß mit zufriedener Entschlossenheit in sein
knuspriges Frühstücksbrötchen. "Dieser Tag gehört mir,"
dachte er vergnügt. Er wollte auch raus und einen ausgedehnten
Sonntagsspaziergang machen.
Unter der Schneedecke verschwinden Ecken und Kanten. Alles wirkt
wie weich gezeichnet. Er genoss diesen Anblick. So weit das Auge
reichte, hatten sich diese kleinen, weißen Kristalle über die
Landschaft gelegt. Vom Hügelkamm aus blickte er verträumt auf
die Stadt, die vor ihm im Sonnenlicht lag. "Das Leben kann
so schön sein," sagte er laut und drehte sich sofort verschämt
um. "Ach, was soll's. Wer das Leben schön findet, muß es
auch laut sagen dürfen," meinte er und wanderte weiter.
Eine kleine Melodie summend ging er den Weg am Waldrand entlang.
An einer Lichtung lag ein kleines Gasthaus. Dort wollte er Rast
einlegen und sich ein heißes Getränk gönnen.
Der kleine Gastraum war voller Menschen. Von den Tischen drangen
Gesprächsfetzten zu ihm herüber und sorgten für diese Atmosphäre
fröhlicher Betriebsamkeit, die man oft in Ausflugslokalen
antrifft. Immer wieder dröhnte lautes Lachen durch den Raum.
Georg sah sich suchend um und entdeckte schließlich einen freien
Platz an einem der hinteren Tische.
"Entschuldigung, ist dieser Platz noch frei?" Der Mann
am Tisch drehte sich zu ihm um, machte erst ein überraschtes,
dann aber ein sehr erfreutes Gesicht. "Aber natürlich Georg.
Schön dich mal wieder zu sehen. Bitte setz dich doch." Auch
Georg freute sich, hier einen Bekannten zu treffen. Mit Werner
war er früher oft um die Häuser gezogen. Vor zwei Jahren hatte
der dann geheiratet, und so wurden die gemeinsamen Ausflüge in
die Kneipenlandschaft immer seltener. "Wie geht es deiner
Frau?" fragte er Werner. "Danke, ich hoffe
ausgezeichnet. Sie liegt in der Klinik und wartet, dass unser
Kind sich endlich in die Welt traut. Und wie geht es dir? Immer
noch unbeweibt?" "Oh nein, schon lange nicht mehr. Ich
habe die beste Frau, die man sich wünschen kann." "Ach
deshalb machst du so einen zufriedenen Eindruck. Wo ist sie? Hast
du sie unterwegs verloren? Ich hoffe, ich kann sie gleich kennen
lernen." "Das wird leider nicht so schnell möglich
sein," meinte Georg, "sie lebt im Ausland." "Das
ist ja typisch für dich. Wenn du schon eine Beziehung hast, dann
muß es unbedingt eine schwierige sein." "Wieso
schwierig," wehrte Georg ab " Unsere Beziehung läuft
ausgezeichnet und wir sind sehr glücklich." "Ich muß
gestehen, dass du auch sehr glücklich wirkst. Aber wie soll so
etwas denn funktionieren? Meine Frau und ich waren selten länger
als eine Woche getrennt. Selbst dann fehlte uns schon die Nähe.
Jetzt, da sie in der Klinik ist, bin ich jeden Tag mindestens
zwei mal bei ihr, bis es so weit ist. Eine längere Trennung wäre
für mich unerträglich." So, wie du es siehst, magst du
recht haben. Aber ich habe eben nicht das Gefühl, dass wir
getrennt sind." "Wie soll ich dass denn verstehen? Man
ist doch entweder zusammen oder getrennt. Ein Zwischending gibt
es nicht."
"Das gibt es sehr wohl. Ich will versuchen, es dir zu erklären.
Wenn du morgens aufwachst, dann siehst du deine Frau. Wenn ich
morgens aufwache, bin ich als Erstes in Gedanken bei meiner Frau
und bin glücklich darüber, dass es sie gibt. Oft beginnt der
Tag mit einem Weckruf und einer kleinen Unterhaltung am Telefon.
Sie ist immer in meiner Nähe und ich in ihrer. Wenn ich
einkaufe, ist sie bei mir und hält mich davon ab, diese fette
Wurst zu kaufen, von der ich Sodbrennen bekommen würde. Wenn ich
ein Buch lese, freue ich mich schon darauf ihr davon zu berichten.
Ohne, dass wir uns abgesprochen hätten, denken wir oft zur
selben Zeit an dieselben Dinge. Wenn ich dann abends bei einem
Glas Rotwein sitze und Musik höre ist sie bei mir. Ich weiß,
dass das Telefon bald wieder läuten wird und sie mir erzählt,
wie ihr Tag verlaufen ist. Manches mal bin ich der Meinung, dass
wir uns näher sind als viele andere Paare. Wenn wir abends
schlafen gehen, sagen wir uns eben nicht kurz "Gute Nacht"
und drehen uns dann auf die Seite. Wir denken so intensiv
aneinander, dass wir die Gegenwart des anderen praktisch spüren
können. Du hast recht. Räumlich sind wir viele Kilometer
voneinander entfernt, aber getrennt sind wir nicht. Sie ist ein
Teil von mir und ich bin ein Teil von ihr."
"Trotzdem," protestierte Werner "In einer
funktionierenden Beziehung gibt es doch noch mehr als nur die
geistige Ebene. Ich kann nicht verstehen, wie du so glücklich
sein kannst, wenn deine Frau so weit weg ist, dass du nicht
einmal die Chance hast sie zu berühren." "Ach das
meinst du." Georg lächelt verschmitzt. "Es gibt natürlich
Tage, an denen ich besonders froh darüber bin, dass es sie gibt.
Und heute ist so ein Tag. Am Abend werde ich zum Flughafen fahren.
Sie wird, wie immer, in der Ankunfthalle stehen und mich anlächeln.
Manchmal können Wochen und Monate vergangen sein, bevor sie das
nächste mal wieder hier ist. Aber jedesmal ist es, als wäre sie
nie fort gewesen. Denn zwischen uns gibt es eben nicht nur die körperliche,
sondern auch die andere Nähe.
Calo v. Oss 2003
© Calo v. Oss 2003
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