Ein Abenteuer

Es gibt Tage, die beginnen stressig und hören auch so auf. Dazwischen nichts als Verkehrsstaus, unangenehme Besprechungen und genervte Kunden. Andere Tage gibt es natürlich auch. Solche, an denen es nur wenige Termine, gelungene Präsentationen und zufriedenen Gesprächspartner gibt. Dieser 9. November war so ein Tag. Ein Herbsttag, wie er im Buche stand. Eric konnte etwas länger schlafen und wurde durchs Fenster von freundlichen Sonnenstrahlen begrüßt. Der Bäckerjunge hatte die knusprigen Frühstücksbrötchen ausnahmsweise nicht vor dem Nachbarhaus abgelegt, und der Kaffee roch und schmeckte genauso köstlich, wie in der Werbung beschrieben. Er hatte nur zwei Termine in Hannover an diesem Tag. Die Kunden hatten die Ware auf der Herbstmesse schon vorgeordert. Eric wollte die Order nur noch bestätigen und den Besuch nutzen, um einige neue Teile zu präsentieren. Ein guter Tag für gute Geschäfte, dachte er zufrieden.

Am frühen Abend fuhr er, fröhlich pfeifend, über die Autobahn in Richtung Westen. Das Ergebnis des Tages war mehr als positiv. Es hatte seine Erwartungen noch übertroffen. Ein Kunde hatte seine Bestellung verdoppelt. Der andere war von den neuen Teilen so begeistert, dass er sie in großer Stückzahl für das Weihnachtsgeschäft in seinen Regalen und auf seinen Kleiderständern sehen wollte. "Perfekt gelaufen", dachte Eric vergnügt und freute sich auf einen netten Abend mit Freunden in seinem Stammlokal. "Besser kann so ein Tag eigentlich nicht werden." Doch da irrte er. Dieser Tag konnte noch besser werden.

Er hatte die enge Stadtdurchfahrt durch Bad Oeynhausen gerade hinter sich gelassen als die Musik im Autoradio ausklang und ein Nachrichtensprecher etwas berichtete was die Welt verändern sollte:
"Wir unterbrechen das Programm für eine wichtige Durchsage. Der Sprecher des Staatsrates der DDR, Günter Schabofski, erklärte soeben auf einer improvisierten Pressekonferenz, dass einem problemlosen Reiseverkehr aus der und in die DDR ab sofort nichts mehr im Wege stehe. Die Mauer ist damit faktisch nicht mehr existent. Wir werden Sie laufend informieren. Und nun weiter im Programm."

Eric war sprachlos. "Die Mauer fällt! Jetzt endlich und doch so unvermittelt?" Ja sicher, er wußte von den Montagsdemonstrationen. Jeden Abend hatte er vor dem Fernseher gesessen und die Bilder gesehen. Er war, so weit das möglich war, über die Situation "dort drüben" informiert. Er hatte mit den Menschen in der deutschen Botschaft in Ungarn gelitten und er hatte im Fernsehsessel gejubelt als Genscher die erlösenden Worte sprach. Er hatte Menschen kennen gelernt, die es auf abenteuerlichsten Wegen und unter Lebensgefahr geschafft hatten in den Westen zu kommen. Trotzdem war das alles irgendwie "vor" der Haustür geschehen und hatte ihn nicht persönlich berührt. Aber "das" betraf jetzt auch ihn. Die Gedanken überschlugen sich in seinem Kopf.

So schnell wie möglich steuerte er den nächsten Parkplatz an und stellte den Motor ab. Es hielt ihn nicht mehr im Wagen. Vielen Anderen schien es ähnlich zu gehen. Der Platz war voll von Menschen. Ein unbeschreiblicher Lärm von Autohupen, Trillerpfeifen und jedem möglichen anderen Instrument, empfing ihn. Menschen hüpften johlend um ihre Autos. Auf Fahrzeugdächern wurde getanzt. Eine wildfremde Frau umarmte Eric unvermittelt, küsste ihn leidenschaftlich und rief immer wieder: "Die Mauer ist weg! Die Mauer ist weg! " Eric tanzte, hüpfte, küsste und schrie mit, und ihm war egal, dass ihm Tränen in dicken Bächen das Gesicht herunter liefen.

Der Gedanke, "Wenn Mutter das noch erlebt hätte." lies seine Gefühle rasen. Sie hatte sich so sehr gewünscht einmal ihre Heimat wieder zu sehen. Aber die lag im DDR - Sperrgebiet und durfte nicht besucht werden. Wie hatte sie immer gesagt: "Das Leben ist ein Abenteuer. Jeden Tag begegnet einem etwas neues. Es kann gut, es kann schlecht sein. Egal was es ist, nutze deine Erfahrungen. Nichts ist so schlecht das es nicht für irgendetwas gut ist."
Sie lebte schon seit Jahren nicht mehr. Aber sie hatte ihm das Bewußtsein vermittelt, dass das Land jenseits der Grenze ein Teil seiner Heimat war. Er freute sich darauf es kennen zu lernen.

"Hallo Eric. Auf deinem Schreibtisch liegen die Listen, die du für deine Reise haben wolltest. " "Danke. Hast du alles zusammen bekommen?" "Na hör mal," ereiferte sich Klaus, " wer ist denn hier der Computerfachmann? Wenn ich aus der Kiste was rauskriegen will, dann schaffe ich das auch. Ich habe alles ausgedruckt. Wegbeschreibungen, Übernachtungsmöglichkeiten und eine Auflistung der potentiellen Kunden. Ich verstehe nur nicht, warum du jetzt schon fahren willst. Da drüben ist doch nichts los." "Was heißt hier jetzt schon?" protestierte Eric "Die Euphorie des letzten Jahres hat sich einigermaßen gelegt. Wir können mittlerweile alle wieder klar denken. Außerdem weißt du doch am besten wieviel Leute aus Ostdeutschland auf der Frühjahrsmesse bei uns gewesen sind. Und auch du solltest mitbekommen haben, dass es seit dem letzten Oktober fünf neue Bundesländer gibt. Wenn wir in jedem Bundesland vertreten sein wollen wird es höchste Zeit, dass ich rüber fahre."

Ja, es waren fast zwei Jahre vergangen, bevor Eric seinen Plan, in die neuen Länder zu fahren, in die Tat umsetzen konnte. Aber jetzt war es soweit. Im nächsten Jahr wollten sie zum ersten mal in Leipzig auf der dortigen Modemesse ausstellen. Es wurde also wichtig, sich einen Kundenstamm aufzubauen, damit nicht nur zufällig jemand auf ihren Stand kam. Der Wagen war, bis oben hin, voll gepackt mit der neuesten Kollektion. Auf dem Beifahrersitz lag ein Stapel Straßenkarten. Der Tank war bis zum Rand gefüllt. Reifendruck und Ölstand waren kontrolliert. Eric war nervös wie ein Rennpferd vor dem ersten Start. Endlich sollte es los gehen. Beginnen würde seine Reise in Mecklenburg - Vorpommern. Er freute sich, bisher unbekannt Landschaften und Menschen kennen zu lernen. Ein neues Abenteuer. Das war ihm, um der Wahrheit die Ehre zu geben, mindestens genau so wichtig wie die Möglichkeit dort erfolgreiche Geschäfte abzuschließen. Rostock und Schwerin sollten die ersten Stationen sein. Dann würde es in Zickzacklinie weitergehen über Brandenburg und Potsdam bis nach Magdeburg. Von dort aus würde er Erkundungstouren bis tief in den Harz machen. Berlin käme später dran. Halle und Erfurt waren die nächsten Reiseziele, bevor es nach Leipzig und Dresden ging. Dann weiter in den Südzipfel Sachsens bis nach Annaberg - Buchholz.

Eric war überrascht über den guten Zustand der Straßen. Er hatte gehört, dass die meisten Landstraßen mit Steinen gepflastert wären. "Das waren sie auch." verriet ihm ein Tischnachbar in einer Raststätte abseits der Straße, "Aber das Erste, was ihr Wessis uns gebracht habt waren neue Straßenbeläge. Die wurden einfach über das Kopfsteinpflaster gegossen. Jetzt könnt ihr auch mit euren empfindlichen Westschlitten durch unsere Gegend jagen. Die sind zwar schön aber nicht besonders belastungsfähig. Unsere Trabis waren da ganz anders. Die haben sich geradezu über unebene Straßen und Schlaglöcher gefreut. Nicht alles, was schön ist, ist auch gut und, nicht alles was aus dem Westen kommt ist besser."

Diesen Satz mußte Eric noch manches mal hören. Er hatte das Gefühl, dass er, überall wo er hin kam, erst einmal misstrauisch auf seine "Osttauglichkeit" abgetastet wurde. Schnell bemerkte er, dass der Begriff "Besserwessi" zwar wenig schmeichelhaft aber allseits gebräuchlich war.

Oft betrat er einen dieser kleinen Modeläden mit dem gewinnenden Lächeln des freundlichen Vertreters von nebenan. "Einen Schönen guten Tag. Mein Name ist..." "Von was für ´ner Firma sind Sie denn?" Wurde er dann barsch unterbrochen. "Wollen Sie mir auch was aufschwatzen? Ich kann Ihnen gleich sagen, ich brauche keine Satelitenschüssel. Hab ich schon. War viel zu teuer. Versichert bin ich auch bis über die Ohren. Sogar mit Hundehaftpflicht, obwohl ich gar keinen Hund habe. Rheumabetten liegen auch stapelweise im Schlafzimmer. Damit könnte ich selbst Handel treiben. Und wenn ich daran denke, wie viele Raten ich noch für den neuen Wagen zu zahlen habe, wird mir schlecht. Ich brauche also kein, noch so günstiges, Finanzierungsangebot für einen weiteren Wagen. Das einzige was ich brauchen könnte sind diese günstigen Jeans von der neuen, holländischen Firma von der alle reden. Was, Sie sind von der Firma? Warum haben sie das denn nicht gleich gesagt? Möchten Sie einen Kaffee?"

Eric hatte schon überlegt, ob er bei solchen Besuchen nicht ein Schild hochhalten sollte. "Keine Versicherungen, Rheumabetten etc. Nur Mode!" Aber, das hätte der eine oder andere wohl auch nur für den neuen Trick eines oberschlauen Besserwessis gehalten. Trotz allem hatte er eine gut Zeit auf seiner Reise durch dieses, für ihn, neue Land. Denn es gab auch sehr angenehme Erlebnisse. Er begegnete immer wieder netten Menschen und großer Gastfreundschaft. - "Was ist denn mit ihrem Wagen? Kann ich ihnen helfen?" wurde er einmal auf einer verlassenen Landstraße angesprochen, "Warten Sie. Im nächsten Ort wohnt mein Schwager. Der ist KFZ-Mechaniker. Ich habe ein Abschleppseil. Und wenn es länger dauert, können sie bestimmt im Gasthof übernachten." Das war nur ein Beispiel unvoreingenommener Hilfsbereitschaft, die er erlebte. Die Abende in solchen Landgasthöfen gehörten zu den schönsten Erfahrungen, die er auf seiner Reise machen konnte. Er beendete seine, viel zu kurze, Reise durch die neuen Länder mit dem Wissen, dass die Geschäfte ausbaufähig waren, dass er aber viel zu wenig gesehen hatte. Dafür müßte er öfter und länger dort sein. Die nächste Gelegenheit würde die Frühjahrsmesse in Leipzig sein.

"Hallo Sie! Wir brauchen hier noch mindestens drei Steckdosen. Wo ist den die Kiste mit der Dekoration? Hat jemand die Rolle Klebeband? Stellt den Computer in die andere Ecke. Dort soll doch der Kühlschrank mit den Getränken hin. Nein, die Ware bleibt im Wagen, solange die Regale noch nicht fertig sind. Ich bin gespannt, ob das überhaupt noch geschieht. Stop Eric! Lauf nicht weg. Besorge mir bitte eine Flachzange, egal woher." "Wo soll ich den jetzt eine..." "Das ist mir egal. Irgendwo wird schon eine zu finden sein. Ich brauche sofort eine Flachzange!" Das war Rolf. Groß, breit, laut und der Chef der Firma. Seine Mitarbeiter waren aufeinander eingespielt. Jeder wußte was zu tun war, um den Stand aufzubauen. Sie taten das nicht zum ersten Mal. Alles würde, wie gewohnt, rechtzeitig fertig werden. Der Einzige, der sich offensichtlich immer wieder bemühte das zu verhindern war Rolf. Mit gewohnter Hektik streßte er das Team und versuchte, wie vor jeder Messe, Chaos zu verbreiten. Aber niemand nahm es ihm übel. So war er eben. Ansonsten war Rolf ein angenehmer Chef. Er legte großen Wert auf ein freundschaftliches Verhältnis zu seinen Leuten. Er duzte sie ganz bewußt, um jedem das Gefühl zu geben, dazu zu gehören. Das funktionierte auch sehr gut. Nur eben nicht an den Tagen des Messebaus. An solchen Tagen wollte eigentlich keiner so richtig zu Rolf gehören. Die Kollegen auf den anderen Ständen sahen schon belustigt rüber und Rolfs Leuten blieb wieder einmal nur, die Schultern hochzuziehen, entschuldigend zu lächeln und weiterzumachen.

Sie waren das erste Mal in Leipzig. Rolf wollte, dass sie sich perfekt präsentierten. Er verstand einfach nicht, wieso die anderen so ruhig bleiben konnten. Na ja, es war eben nicht ihre Firma. Aber an ihm blieb alles hängen. Er hatte das ganze Risiko zu tragen. Da durfte man sich doch wohl mal aufregen, wenn die LKW nicht pünktlich ankamen, weil sie zum großen Messegelände gefahren waren und deshalb stundenlang als verschollen galten. Die Veranstaltung fand aber im Ringmessehaus statt, einem mehrstöckigen Gebäude in der Innenstadt. Unten, in dem kleinen Innenhof und auf der engen Straße dahinter, stauten sich die Messefahrzeuge bis weit auf die Hauptstraße und sorgten auch dort für einen gemütlichen "Stop and Go" Verkehr.

"Eric! Wo ist die Flachzange! Frag die Leute von nebenan! Vielleicht spricht von denen einer deutsch." Nebenan, dass war der Stand der Portugiesen. Eine kleine Gruppe konzentriert arbeitender Menschen war dort schon dabei eine Kollektion leichter Sommermode dekorativ anzuordnen. In der Ecke hockte eine junge Frau mit raspelkurzen, dunklen Haaren. Sie stapelte dort gerade bunte T-Shirts auf. Erfreut bemerkte Eric, wie vorteilhaft sich ihr hellgrüner Hosenanzug um die hervorragenden Bereiche ihrer zierlichen Figur schmiegte. Er genoss den Anblick einen Moment und überlegte wie er sie ansprechen sollte. "Deutsch oder englisch? Ich versuche es besser auf englisch. Das spricht sie bestimmt. Aber wie sagt man Flachzange auf englisch?" Sie wandte ihm immer noch ihren bezaubernden Rücken zu und schien konzentriert zu arbeiten. Er setzte trotzdem sein charmantestes Lächeln auf und sprach sie an: "Sorry Miss. Do you have... " "Ja wir haben eine Flachzange." Unterbrach sie ihn. - Warum ließ ihn hier eigentlich kein Mensch aussprechen und wieso sprach diese hübsche Kehrseite Deutsch? - "Sie liegt dort vorne auf dem Hocker. Aber bringen Sie sie auch wieder. Auf so einer Messe verschwindet alles mögliche. Und sagen Sie Ihrem Schreihals, dass er hier nicht alleine ist." Sie hatte sich nicht einmal umgedreht, sondern nur mit einer flüchtigen Handbewegung auf den Hocker gezeigt. Wir sind heute aber besonders freundlich, dachte er bei sich. Er nahm die Zange und bedankte sich kurz.

Als er zurück kam stand Rolf mit verbissenem Gesicht auf einer Leiter und befestigte Stromkabel an einer Deckenstrebe. Die Kabelenden fixierte er mit einer neuen, silbern glänzenden Flachzange. "Hallo Eric, wo steckst du denn die ganze Zeit? Die Regale sind fertig. Könntest du schon mal die Ware auszeichnen und einräumen? Ich beende das hier schnell und helfe dir dann. Übrigens, stell dir vor," bemerkte er fröhlich "die Zange war die ganze Zeit in meinem Werkzeugkoffer. Sie lag unter dem Klebeband."
Es gibt Momente, in denen sollte man die Hände tief in den Taschen versenken und sie erst herausziehen, nachdem man mindestens bis zehn gezählt hat. Das spart Nerven und Rechtsanwaltskosten. Eric hörte auf seine innere Stimme, atmete tief durch und ging, um die geliehene Zange zurück zu bringen.

Am Nachbarstand wurde er schon erwartet. Aber nicht, wie er vermutet hatte, von einer arrogant grinsenden Oberlehrerin, sondern von dem anziehendsten und strahlendsten Geschöpf, das er seit langem gesehen hatte. In seinem Gehirn griffen die Zahnräder ineinander. Mit lautem Knacken schlossen sich die Kontakte. Die Augen hatten ihr Scanning beendet und weiter gemeldet, was für das Großhirn wichtig erschien: "Nicht nur die Rückfront, auch die Forderfront ist absolut ansprechend. Gesicht strahlt Intelligenz und Wärme aus. Aufnahme zwischenmenschlicher Beziehung könnte schwierig aber lohnenswert sein." "Nun," fragte dieses hübsche Gesicht "braucht der Schreihals unsere Zange doch nicht?" - Wieso nur hatte Eric den Eindruck, sie würde sich über ihn lustig machen? Und warum ärgerte ihn das so sehr? "Nein danke. Er hat seine eigene Zange gefunden. Viel Spaß noch beim Aufbau." "Danke," meinte sie hintergründig "Wir haben bestimmt Spaß."

Er war total verunsichert. Das gab es doch gar nicht. Er hatte das Gefühl, sie würde ihn nicht im geringsten ernst nehmen aber trotzdem mit ihm flirten. Nun, er würde sich wohl in der einen oder anderen Richtung irren, denn beides zusammen ging einfach nicht - oder doch?

Die Messe begann auch sonst erfreulich. Täglich nahmen die Besucherzahlen zu und viele davon verliefen sich in die Halle, in der Eric mit seinen Kollegen auf alte und neue Kunden wartete. Der Messealltag lief ab wie programmiert. Sie alle kümmerten sich nur noch um "Geschäfte machen" und "Umsatz steigern." Allerdings, auch der hektischste Messebetrieb ließ Pausen zu. Die verbrachte Eric immer öfter mit der netten Dame von nebenan. Zuerst war es eher Zufall, dass sie sich in der Cafeteria trafen. Dann verabredeten sie sich auf ein Getränk und zuletzt gingen sie, wie selbstverständlich, zusammen in die Pause. Sie war anders. Sie war neu. Er konnte sich nicht erklären was es genau war und gerade deswegen ging sie ihm nicht aus dem Kopf. Anja hieß sie, und das war eigentlich auch schon alles, was er von ihr wußte. Schon bald lud er sie zum Essen ein. Trotz ihrer gemeinsamen Pausen war er sich nicht sicher, ob sie seine Einladung annehmen würde. Doch sie sagte einfach nur: "Ja gerne. Das wird bestimmt schön." Dabei sah sie ihn an als wollte sie sagen: "Wurde ja auch langsam Zeit. Wie lange sollte ich denn noch warten, bis du wach wirst?"

Es wurde ein wunderschöner Abend. Sie aßen in einem kleinen, kubanischen Restaurant, in dem es nach Steaks, Rum und Zigarren roch. Die anschließenden Cocktails waren süffig und die Gespräche anregend. Anja war Leipzigerin, erfuhr er. Gleich nach der Wende hatte sie im Bildungswesen gearbeitet. Später führte sie dieser Job nach Süddeutschland. Da sie gerne neues ausprobierte, hatte sie das Angebot angenommen, den Vertrieb für eine portugiesische Modemarke zu übernehmen. Und jetzt war sie wieder in Leipzig. Das erste mal als Besucherin in ihrer alten Heimatstadt. "Ein seltsames Gefühl ist das." Meinte sie versonnen "Du bist von hier und trotzdem irgendwie fremd. Damit muß man erst einmal klar kommen. Genauso wie damit, im Westen zu leben. Du weißt, das ist jetzt auch dein Land aber so richtig gehörst du nirgendwo hin."

Sie tranken und redeten. Sie gingen tanzen und redeten. Sie verbrachten eine herrliche Nacht zusammen und wenn sie sich, erschöpft und erhitzt im Kerzenschein, eine Zigarette angezündet hatten redeten sie so lange bis ihre Nähe ihnen keine Ruhe ließ. Hände, Lippen und Körper pressten sich erneut zusammen, um jeden flüchtigen Moment voll auszukosten. Sie hatten nur diese eine Nacht. Viel zu kurz um sich alles zu geben und kurz genug um nichts versprechen zu müssen.

Die Messe ging zuende. Eric und Anja bemühten sich, die restlichen Tage so "normal" wie möglich miteinander umzugehen. Doch zwischen dem Bemühen und der Wirklichkeit liegt das unbewußte Verhalten. Jeder in ihrer Umgebung wußte, was mit den beiden geschehen war. Sie hätten genau so gut eine Plakette mit der Aufschrift tragen können: "Wir haben es getan und es war gut!" Der baldige Abschied fiel ihnen ungewohnt schwer. Doch sie trösteten sich damit, dass sie eben nur ein flüchtiges Erlebnis gesucht hatten. Außerdem war schon bald wieder eine Messe. Dann könnten sie sich ja wieder sehen.

Eric hatte oft den Eindruck, zu einem Wanderzirkus zu gehören, der sich auf acht Höhepunkte im Jahr konzentrierte, die Modemessen. Nach einer Veranstaltung wurden die verabredeten Termine abgearbeitet. Danach war es schon bald wieder Zeit, sich auf die nächste Messe vorzubereiten. Er freute sich jedesmal wieder auf den bunten Trubel. Ganz besonders freute er sich auf die Kollegen. Sie kamen von überall her und im Laufe der Zeit hatten sie freundschaftliche Beziehungen zueinander aufgebaut.

So war es ganz normal, dass er wenige Wochen später beim Standaufbau in Köln gefragt wurde: "Na, wo ist denn deine kleine Freundin aus Leipzig?" "Wer?" Fragte Eric verunsichert "Ach du meinst Anja. Ich habe keine Ahnung wo sie ist." "Aber hat sie nicht gesagt, sie würde auch hier ausstellen?" "Ja, kann schon sein. Wenn sie da ist werden wir sie auch sehen."
Er gab sich wirklich die größte Mühe unbeteiligt zu wirken. Keiner konnte ahnen, wie schwer ihm das fiel. An nichts und niemanden hatte er in der letzten Zeit so häufig gedacht, wie an Anja. Abends schlief er in Gedanken mit ihr ein um morgens, nach einer unruhigen Nacht, mit ihr auf zu wachen. Und nichts war für ihn wichtiger als die Möglichkeit, dass sie in Köln sein könnte. Er wußte es wirklich nicht genau, denn sie hatten nicht einmal die Telefonnummern ausgetauscht. Warum auch? Es war doch nur so eine kleine Sache, wie sie immer wieder und überall auf der Welt vorkam. Eigentlich sollte ihn diese Überlegung beruhigen. Aber genau das Gegenteil war der Fall. Was, wenn sie auf der Messe war und ihn gar nicht beachtete? Was, wenn sie mit einem anderen Mann zusammen war? Was, wenn... Tausend Ideen schossen ihm durch den Kopf, und jede machte ihn noch unsicherer. Die beste Ablenkung war Arbeit. Also schuftete er rund um die Uhr. Er baute, dekorierte, schleppte Ware, kontrollierte sie und zeichnete sie aus. Nur keine Pausen. Nur nicht an "Sie" denken. Am nächsten Tag öffneten sich frühmorgens die großen Hallentore um das Fachpublikum einzulassen. Köln hatte eine große Messetradition. Dementsprechend groß war der Andrang schon am ersten Tag. "Gott sei Dank." Dachte Eric "So habe ich nicht einmal die Wahl an etwas anderes zu denken als an Stückzahlen, Liefertermine und Zahlungsziele." Nur wenig später wurde er eines Besseren belehrt.

Mitten in einem anregenden Kundengespräch über Stoffarten und Farbmuster hatte er das Gefühl, dass ihn jemand beobachtete. Nun ist es nichts außergewöhnliches auf einem Messestand beobachtet zu werden. In der Regel lösen sich aus den vorbei treibenden Menschenmassen immer wieder Interessenten, die neugierig den Stand betreten. Während sie ungeduldig darauf warten "endlich" bedient zu werden, versuchen sie einen Berater so mit ihren Blicken zu hypnotisieren, das er seine "überflüssige" Zeit endlich ihnen widmet. Vertreter haben Sensoren für solche Menschen. Also sah Eric kurz hinter sich, um dem wartenden Kunden einen Kaffee und einen Sitzplatz auf einem, überaus gemütlichen, Messebarhocker anzubieten. Aber da war kein neuer Besucher. Alle Gäste auf dem Stand wurden bestens betreut. Demnach gab es keinen Grund sich zu beeilen. Er wendete sich seinen Kunden erneut zu, um das Gespräch wieder aufzunehmen. Doch etwas irritierte ihn. Dieses seltsame Kribbeln im Nacken nahm zu. Wiederholt sah er auf den Gang. Da mußte doch jemand sein. - Und richtig. Immer wieder verborgen von vorbeischlendernden Messebesuchern stand, auf der gegenüberliegenden Gangseite, der Grund für seine Nervosität. - Stand einfach da, lächelte auf diese wunderbare Art, die er so liebt und tat sonst nichts.
Moment! - Hatte er gerade gedacht, dass er dieses Lächeln liebte?
Sein Herz begann zu rasen. Seine Hände wurden feucht und er hatte Mühe, das laufende Gespräch in gewohnt ruhiger und professioneller Art zu beenden. Eine kurze Verabschiedung, die besten Wünsche und auch Grüße an die Frau Gemahlin und dann war er frei. Vor Aufregung und Freude standen ihm kleine Schweißperlen auf der Stirn. Er meldete sich kurz bei Rolf ab und beeilte sich mit ein paar Sprüngen auf die andere Seite zu kommen. Hier ein kleiner Rempler, dort eine kurze Entschuldigung und er war drüben. Nur sie war nicht mehr da. Sie war weg, wie vom Erdboden verschluckt. Hatte er eine optische Täuschung gehabt? Hatten seine unausgesprochenen Wünsche ihm etwas vorgegaukelt? In der Hoffnung, sie doch noch irgendwo zu entdecken, drehte er sich forschend in alle Richtungen. - Aber vergebens.

Enttäuscht schlich er zu seinem Stand zurück. "Was ist mit dir denn los?" Fragte ihn Rolf "Ich denke du machst Pause." Ja schon." Antwortete Eric niedergeschlagen "Ich dachte, ich hätte jemanden gesehen, den ich kenne. Aber ich habe mich wohl geirrt." "Ach so. Der Herr hat sich geirrt," bemerkte Rolf verschmitzt, "Wenn das so ist, dann ist der Zettel, den ich hier habe bestimmt auch nur ein Irrtum, oder?" " Was für ein Zettel? Gib her! Was steht da drauf?"
"Och, nichts Wichtiges. Hier war nur vorhin, als du die Kunden aus Dortmund hattest, eine bildhübsche, junge Frau. Sie meinte, du würdest dich eventuell für irgend so eine Standnummer interessieren. Aber, es wird wohl nicht so wichtig gewesen sein." Erics Magen krampfte sich zusammen. Die Schweißtropfen hatten mittlerweile den Hemdkragen erreicht. Mit größter Anstrengung beherrschte er sich, um seinem Chef den Zettel nicht einfach aus der Hand zu reißen. "Rolf! Bitte gib mir den Zettel!" "Hier ist er, du Casanova. Halle 5A, Stand C34. Direkt unter uns. Grüß sie schön. Sie soll zum Kaffe kommen!"
Die letzten Worte hatte Eric schon nicht mehr gehört. Als ginge es darum, den Weltrekord im Hindernislauf zu brechen, war er losgespurtet. Die Gedanken rasten nur so durch sein Gehirn: "Sie ist da. Sie will mich wirklich wiedersehen. Mein Gott, ich freue mich so. - Warum eigentlich? Ja, verdammt noch mal - ich liebe sie" Außer Atem, nach Luft ringend erreichte er ihren Stand. Da saß sie, noch viel schöner als er sie in Erinnerung hatte. Neben ihr, auf einem kleinen Tisch standen zwei gefüllt Sektgläser. Er versuchte verzweifelt seine Emotionen in den Griff zu bekommen und seine Gedanken zu ordnen. Sie stand auf, ging ihm einen Schritt entgegen und sah ihn, mit diesem vielsagenden Lächeln an. "Reiß dich zusammen," ermahnte er sich "du mußt jetzt etwas sagen. Aber bitte nichts Dummes. Das könnten die wichtigsten Sätze deines Lebens werden." Er atmete noch einmal tief durch und begann. "Du - ich, ich meine wir - glaube bitte nicht, dass das in Leipzig nur so ein kurzes Abenteuer für mich war," stotterte er, um Fassung ringend. Ihre Augen wurden ernster. "Doch, das war es," entgegnete sie, "für uns beide." Eric hatte unmittelbar die Befürchtung, das Gebäude würde über ihm einstürzen. "Aber damit ist jetzt Schluß," meinte sie mit weicher Stimme und streichelte zärtlich sein Gesicht. "Denn der ganze, hoffentlich lange Rest wird ernst, soweit das vertretbar ist. Und jetzt küss mich endlich du Trottel. Oder hast du gerade etwas wichtigeres zu tun?"

Im folgenden Jahr fand die Modemesse nicht mehr im Leipziger Ringmessehaus statt. Sie war umgezogen auf das große Messegelände, um den Ausstellern mehr Platz für größere und aufwendigere Stände zu geben. Die Veranstaltung hatte sich ausgesprochen positiv entwickelt. Genau wie die Beziehung von Anja und Eric. Die feierten mit ihrer Clique ausgiebig die Hochzeit nach, die nur wenige Wochen zuvor stattgefunden hatte.

Calo v. Oss 2003

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