Lucky
" Es ist manchmal schon seltsam," meinte Paul, wie man
sich in einem Menschen täuschen kann." "Wieso? Warst
du zu gutgläubig? Hat dich jemand betrogen oder dein Vertrauen
mißbraucht?" "Nein, überhaupt nicht, alles in Ordnung.
Aber du kennst das doch sicher auch: Du hast von den Menschen,
die dir begegnen, eine bestimmte Vorstellung. Du siehst jemanden
und ohne dass du näheren Kontakt zu ihm hast, heftest du ihm in
Gedanken ein Merkblatt an. Du lernst ihn kennen und machst
Eintragungen auf dem Merkblatt. Ihr trefft euch öfter und du füllst
es aus, bis du der Meinung bist, dass alles was zu dieser Person
zu sagen ist, abgespeichert werden kann. Zufrieden mit dir und
deiner Menschenkenntnis machst du die entsprechende Schublade
auf, schiebst das Blatt in die Kartei und bist dir sicher, dass
dein Bekannter bis aufs i-Tüpfelchen genau dem Menschen
entspricht, den du in deinem Karteikasten abgelegt hast."
"Ja natürlich. Das ist doch ein ganz normaler Vorgang. So
lernt man Menschen kennen." "Nein," protestierte
Paul "so lernt man Menschen eben nicht kennen. So lernt man
nur, sie zu katalogisieren. Jemanden zu kennen ist etwas gänzlich
anderes." "Wie bist du denn heute drauf? Hast du zu
viele Talkshows gesehen? Du bist doch sonst nicht so besinnlich.
So kenne ich dich ja gar nicht." "Genau das ist es.
Weil du mich "so" nicht kennst, kennst du nur
eigentlich nur einen Teil von mir. Ich versuche selbstverständlich
dir den besten Paul zu zeigen, den man sich wünschen kann. Für
mich ist das kein Problem, weil ich mit mir, im großen und
ganzen, zufrieden bin. Aber es gibt offensichtlich auch Menschen,
für die das nicht so einfach ist" "O.K. Du möchtest
mir etwas erzählen. Also spann mich nicht länger auf die Folter.
Worum geht es?" "Um Lucky."
"Lucky?! Ich bitte dich. Den kennt doch nun wirklich jeder.
Eine, frisch geputzte, Schaufensterscheibe ist nicht so
durchsichtig wie der. Davon kannst du dich doch jede Woche überzeugen,
wenn du die Flimmerkiste anschaltest. Wie heißt die Sendung noch
einmal? Ach ja: "Luckys Stück vom Glück" Kandidaten
haben einen Wunsch und Lucky versucht diese Wünsche zu erfüllen.
Hat dann alles geklappt, was nicht anders zu erwarten war, liegen
sich die Leute schluchzend in den Armen und Lucky schreit voller
Begeisterung in die Kamera: "Schalten Sie nächste Woche
wieder ein. Mein Glücksvorrat ist riesengroß. Dann schenke ich
ihnen wieder ein kleines Stück von meinem Glück!" Und an
dem soll etwas geheimnisvolles sein? Tut mir leid. Soweit reicht
meine Fantasie nicht. Das ist eben ein etwas verrückter "Hans
Dampf". Ausreichend sympathisch aber wenig Tiefgang. Was hat
der denn nun mit deiner Geschichte zu tun?" "Ganz
einfach. Alles was du gesagt hast, ist richtig - und trotzdem
auch wieder nicht. Außerdem - Lucky ist die Geschichte.
Früher hieß er noch Lutz. Das erste Mal begegneten wir uns in
der Grundschule. Wir waren in der 3. Oder 4. Klasse. Er war sehr
unauffällig, doch irgendwie mochte ich ihn. Er war ein behütetes
Kind glücklicher Eltern. Alles, was er brauchte, bekam er - und
noch mehr. Das Einzige was sie ihm nicht geben konnten war Körpergröße.
Lutz war immer "der Kleine". Er merkte sehr schnell,
dass das ein Nachteil war. Bei jeder, noch so harmlosen, Keilerei
auf dem Schulhof zog er den kürzeren. Wenn im Sportunterricht
die Mannschaften gewählt wurden, war Lutz immer der letzte, der
am Spielfeldrand stand. Das Team, das in den Augen des Trainers
zu gut weg gekommen war, bekam den kleinen Lutz hinzu, damit die
anderen eine bessere Chance hatten.
Er war zwar klein, aber nicht dumm. Deshalb erkannte er auch,
dass er als Bremse eingebaut werden sollte und nicht als Motor.
Selbstverständlich versuchte Lutz, das zu ändern. Er trainierte
unentwegt. Er versuchte größere Schritte zu machen, höher zu
springen und schneller zu laufen als die anderen. Das Resultat
war aber nur, dass er einen gnadenlosen Muskelkater bekam und ihn
auch außerhalb des Sportplatzes keiner ernst nahm.
Auch der strenge Schmidt übersah Lutz geflissentlich. Herr
Schmidt entstammte einer Generation, die noch daran glaubte, dass
sich ein gesunder Geist nur in einem Körper entwickeln konnte,
in dem genügend Platz dafür war. Je mehr Platz, sprich Größe,
um so besser. Kleine Leute kamen in Schmidts Welt nicht vor.
Deshalb förderte er die Großen und ignorierte den kleinen Lutz.
Wenn der sich meldete um eine Frage zu beantworten, was sehr häufig
vorkam, wurde seine Situation noch dadurch erschwert, dass er in
der letzten Bank saß - hinter den Großen. Seine hochgereckte
Hand wurde einfach nicht gesehen.
Eines Tages rauschte Schmidt in die Klasse und brüllte sogleich
los: "Ruhe! Ich bitte mir unbedingte Ruhe aus!" -
Niemand hatte gesprochen. Im Klassenzimmer hätte man eine
Stecknadel fallen hören können. Aber dieser Auftritt gehörte
nun mal zu Schmidt wie sein braunkariertes Oberhemd. "Ruhe,
Ordnung und Disziplin sind das "A" und "O".
Das gilt fürs ganze Leben. Wer glaubt, er könne sich darüber
hinwegsetzen, der fliegt. Wer glaubt, er müsse das Leben nicht
ernst nehmen, der fliegt. Das Leben ist ernst und grausam. Da
gibt es nichts zu lachen. Wer lacht - fliegt!" Bei diesen
Worten stolzierte er mit hochrotem Kopf durch den Raum und sah
jedem der verschüchterten Schüler mit unerbittlichem Blick tief
in die Augen. Dann ging er zur Tafel und nahm ein Stück Kreide:
"Schlagt eure Hefte auf! Wir schreiben einen Aufsatz."
Na wunderbar. Immer, wenn er "wir schreiben" sagte,
hatte er sich etwas besonders grausames ausgedacht. Und so war es
auch. "Das Thema heißt: "Was ist Schrecken" sagte
er und schrieb mit großen schwungvollen Buchstaben diesen
niederschmetternden Satz an die Tafel.
Ruhig, ordentlich und diszipliniert beugten die Schüler sich über
die Hefte, verzogen angewidert die Gesichter und malten in
Gedanken riesige Fragezeichen in die Luft.
Nur einer, in der hintersten Bank, schraubte seinen Füllfederhalter
auf, überlegte kurz und begann zu schreiben. Lange, bevor die
Pausenklingel schrillte, hatte Lutz seinen Aufsatz beendet und
war ängstlich nach vorne zu dem erhöhten Lehrerpult gegangen.
Dort legte er das Blatt vorsichtig vor dem, über allem
thronenden, Herrn Schmidt ab. Nun saß er auf seinem Stuhl in der
letzten Reihe und versuchte, sich noch kleiner zu machen als er
war. Eine Tarnkappe wäre jetzt gut gewesen oder ein Loch im
Boden. Alles, nur nicht hier sitzen und warten müssen, dass die
Welt über ihm zusammen stürzte. Dass das geschehen würde,
davon war er überzeugt. Denn der Lehrer saß nur zehn Meter von
ihm entfernt und las mit grimmiger Miene den Aufsatz, der als
erster auf seinem Pult gelandet war.
Und dann kam was kommen mußte. Mit einem ungesunden Grollen
bauten sich Töne auf. Diese Töne sammelten sich im Zwerchfell
und im Kehlkopf des Herrn Schmidt um dann mit Urgewalt
herauszubrechen. Brüllend rasten sie durch den Raum, klatschten
an die entgegengesetzte Wand und sausten als Echo zurück. Lutz
saß, wie versteinert, in seiner Bank und versuchte seine
aufkommenden Panikgefühle zu unterdrücken, bevor er erkannte
was hier gerade geschah. Herr Schmidt hatte den Stuhl zurückgeschoben,
stand in seiner ganzen, unerreichbaren Größe hinter dem Pult,
sah immer wieder auf das Blatt in seiner Hand und - lachte.
Ja, wirklich. Herr Schmidt brüllte nicht vor Zorn, sondern vor
Lachen. Niemand hätte je geglaubt, dass diese Mundwinkel so weit
nach oben rutschen könnten. Keiner hätte für möglich
gehalten, dass Tränen der Heiterkeit jemals wie Kaskaden aus
diesen strengen Augen schießen könnten. Aber es war so. Der
Lehrer bog sich vor Lachen und hatte überhaupt nichts dagegen,
dass sich dieses Lachen fortsetzte. Die Klassenkameraden, eben
noch geschockt über dieses Naturereignis, lösten sich aus ihrer
Erstarrung und lachten mit. - Man wußte schließlich, was man
einer Respektsperson schuldig war.
Was war geschehen? Was hatte dafür gesorgt, dass dem
unerbittlichen Lehrer Schmidt ein Mensch geworden war? Langsam
drehten sich alle um zu unserem kleinen Lutz, der verlegen in
seiner Bank hockte und nicht wußte, ob er doch im Boden
versinken oder den strahlenden Gesichtern schüchtern zulächeln
sollte. Die Pausenklingel erlöste ihn. Mit einer
Geschwindigkeit, die ihm niemand zugetraut hätte, sammelte er Bücher
und Hefte zusammen, verstaute sie in seiner Mappe und verließ
fluchtartig das Klassenzimmer.
Auf dem Pausenhof wurde er gestellt. Ein, glücklich lächelndes,
Klassentribunal verlangte Rede und Antwort. Also berichtete er,
dass ihm zu dem Begriff Schrecken nichts richtiges eingefallen
war. Aber, ein leeres Blatt abzugeben, war die größte aller Sünden.
Eine Sache gab es allerdings, die ihn jeden Tag in Angst und
Schrecken versetzte: Herrn Schmidts allmorgendliche Ansprache.
Und genau das hatte er geschrieben und gottergeben auf das
gewartet, was seiner Meinung nach, nun unausweichlich war: "Einzelhaft
bei Wasser und Brot."
Der Text lautete folgendermaßen:
Jeden Morgen, wenn ich in der Schule bin passiert etwas worüber
ich mich erschrecke. Zu hause erschrecke ich mich nie. Meine
Eltern sind immer sehr lieb zu mir. Unser Lehrer, Herr Schmidt,
ist nicht böse zu mir aber erschreckt mich trotzdem. Zuerst
schimpft er mit uns. Und dann sagt er, dass das Leben hart ist.
Wer das nicht glaubt, der fliegt sagt er. Lachen darf man auch
nicht. Dann fliegt man auch. Ich habe meine Eltern gefragt ob das
stimmt. Die haben gesagt, dass gute Menschen ruhig lachen dürfen
und dass unser Lehrer bestimmt nicht so böse ist wie ich denke.
Und sie haben gesagt, dass ihn vielleicht lange kein
Schmetterling mehr gekitzelt hat. Denn, wenn einem das passiert,
dann muß man einfach lachen. Bald wird es wärmer. Dann kommen
wieder Schmetterlinge. Ich wünsche mir, dass dann ganz viele
unseren Lehrer kitzeln. Hoffentlich muß er dann nicht auch
fliegen. Das ist wohl auch der Grund, warum er so ernst ist. Wer
lacht der fliegt und wer nicht lacht der bleibt. Er will bestimmt
nicht böse sein, sondern nur seine Arbeit behalten.
Das also hatte der kleine Lutz geschrieben und damit geradezu
einen Erdrutsch ausgelöst. Nie wieder hat man erlebt, dass Herr
Schmidt seinen berühmten Vortrag gehalten hätte. Er wandelte
sich in einen ausgesprochen freundlichen und umgänglichen Lehrer
und wurde bei Schülern und Kollegen immer beliebter. Möglicherweise
lag das daran, dass jetzt immer ein kleiner Plastikschmetterling
in einer Vase auf seinem Pult stand. Auch Lutz erfreute sich plötzlich
großer Beliebtheit. Er wurde jetzt "Lucky Lutz"
genannt, nach der berühmten Comicfigur. Wo er auch hinkam, wurde
er aufgefordert etwas lustiges zu tun oder zu sagen. Alle mochten
ihn und warteten begierig auf, gut gelaunten, Nachschub. Der
Preis dafür war ziemlich hoch für Lucky. Er lernte nämlich
sehr schnell was man unter dem Begriff Leistungsdruck zu
verstehen hatte. Viele Jahre lang war es ganz klar: "Brauchst
du einen Garanten für gute Laune, einen Eintänzer, jemanden der
mit Charme und Witz eine Party oder einem Fest die richtige Würze
verleiht, Dann lade Lucky ein. Der wird ´s schon richten."
Das tat er auch. Und er tat es gerne. Zum einen liebte er es im
Mittelpunkt zu stehen. Zum anderen war es wunderbar für ihn
beliebt zu sein und "dazu" zu gehören.
Es ergab sich fast zwangsläufig, dass er seinen Talenten folgte
und Karriere im Fernsehen machte. "Lucky macht Menschen glücklich."
Das passte doch wie die berühmte Faust aufs Auge. Es hat sich
also augenscheinlich alles zum besten für den kleinen Lutz
entwickelt." "Das ist ja eine ganz nette Geschichte.
Aber was hat das mit Lucky ´s angeblicher Undurchsichtigkeit zu
tun? Du beschreibst ihn doch genau so, wie ihn jeder kennt."
"Nicht, wie ihn jeder kennt, sondern wie ihn jeder zu kennen
glaubt. Ich habe ihn vor kurzem getroffen und war schon sehr
erstaunt über das, was ich erlebte.
Ich laufe sonntags gerne früh um den See und durch den
angrenzenden Wald. Es ist schön, das alles für sich allein zu
haben. Ich muß keinem Hund ausweichen und auch nicht auf
Kinderwagen achten, die sich selbstständig gemacht haben. Am
letzten Sonntag regnete es zwar, aber das war mir egal. Ich zog
eine leichte Regenjacke über und lief los, um jede Menge
Sauerstoff und Wohlgefühl zu tanken. Auf halbem Wege liegt eine
kleine Waldlichtung, die ich gerne nutzte, um ein paar Übungen
zu machen. Als ich dieses Mal darauf zulief, hörte ich schon von
weitem lautes Rufen. Ich kam näher und sah einen Mann, der, dick
eingepackt in eine Daunenjacke und eine warme Wollmütze auf dem
Kopf, einen seltsam anmutenden Tanz aufführte. Zwischendurch
rief er, mit sich überschlagender Stimme, kurze Sätze, die ich
aber noch nicht verstehen konnte. Das änderte sich als ich die
Lichtung erreichte.
"Verfluchter Mist! ", hörte ich ihn schreien, "Kann
mir mal jemand sagen, was der ganze Blödsinn soll? Ich bin doch
nicht zum Spaß hier. Bin ich vielleicht ein Automat in den man
nur ein paar Münzen stecken muß, damit er funktioniert? Ich
funktioniere nicht - ich lebe! Steckt euch doch euren Lucky sonst
wo hin. Ich heiße Lutz!" Als ich auf die Lichtung trat
drehte es sich um und erkannte mich. "Hallo Paul. Was machst
du denn hier?" "Laufen", antwortete ich verwirrt
"und du?" "Schreien. Das muß ich alle paar Wochen
tun sonst drehe ich durch. Keine Sorge - sieh mich nicht so
skeptisch an. Mit mir ist alles in Ordnung - hoffe ich jedenfalls."
Wir haben dann den Rest des Tages gemeinsam verbracht. Es wurde
noch ein schöner und interessanter Tag. Wir tranken etliche Gläser
und redeten fast ununterbrochen. Das heißt, eigentlich habe ich
zugehört und Lutz hat geredet. Darüber, wie es ist, wenn man
eine Rolle ausfüllen muß. Darüber, dass man sich dieser Rolle
unterzuordnen hat, wenn es erfolgreich weiter gehen soll. Auch
darüber, wie glücklich er war als er seine Frau traf, die ihn
nicht vom Bildschirm sonder vom Bäcker kannte. Und natürlich
hatte das alles mit seinem Beruf zu tun, den er so sehr liebte,
der ihm aber auch in menschlicher Hinsicht so viel abverlangte.
Er könnte sich gar nicht vorstellen, etwas anderes zu tun. Nur,
manchmal möchte er eben nicht der prominente Lucky, sondern der
kleine Lutz sein, der, wie jeder andere auch, weinen, schreien
und fluchen darf."
"Und wie ist er nun, dieser Lutz?" Er ist ganz normal
wie du und ich. Er ist, wie wir alle, nicht durchsichtig sonder
vielschichtig. - Seltsam, dass ich daran nie gedacht habe. Wie
man sich doch in einem Menschen täuschen kann. Wenn du also mal
durch den Wald gehen solltest und du hörst dort jemanden
schreien und fluchen nach allen Regeln der Kunst... Keine Sorge,
das ist nicht Lucky, denn der hat gerade Pause. Nein, das ist
Lutz und der ist schließlich nicht "nur" zum Spaß
hier.
Calo v. Oss 2003
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