Der letzte und der
erste Tag
Tom war eigentlich immer schon ein glücklicher
Mensch meinten viele. Andere dagegen sagten, sie hätten oft
erlebt, dass er unausgeglichen und zynisch wirkte. Dann gab es
noch die, die ihn undurchschaubar und eigenbrötlerisch nannten.
Und Tom selbst? Er sagte gar nichts. Er lächelte freundlich und
schien sich seinen Teil zu denken. Er war wohl, wie die meisten
Menschen, von allem etwas. Natürlich hatte es glückliche
Momente in seinem Leben gegeben. Aber er kannte auch Trauer und
Unzufriedenheit. Und, dass man mal "die Klappe" dicht
machte und für sich sein wollte, war ganz normal, meinte Tom.
Er sah sich als Repräsentant des positiven Durchschnitts. Das dürfte
es wohl auch am ehesten getroffen haben. Denn genau das sorgte für
seinen Erfolg in der Werbeagentur. Wollte man wissen, was dem berühmten
"Otto Normalverbraucher" zusagen würde, konsultierte
man Tom. Er hatte immer eine Idee, wie eine Strategie auszusehen,
ein Spot zu wirken und ein Text zu klingen hatte.
Dumm an der Sache war nur - für das Leben gab es keine Strategie.
Kein lockerer Werbespruch half, wenn Tom sich schlecht fühlte.
Und, die Figuren in den schicken Werbespots gingen nach
Drehschluss nach Hause, um ein, mehr oder weniger, normales Leben
zu führen. Das sollte aber nicht heißen, dass Tom unglücklich
gewesen wäre. Er hatte durchaus die Liebe und den Rausch, den
sie verursacht, kennengelernt. Nur, das war schon Jahre her.
Mittlerweile war es für ihn in Ordnung. Sein Leben plätscherte
dahin und von Zeit zu Zeit gab es eben Momente, in denen ihm schöne
und in denen ihm weniger schöne Dinge passierten.
Das Fortbildungsseminar, auf das man ihn geschickt hatte, gehörte
schon eher zu den schönen Dingen. Er war gerne mit Menschen
zusammen, die aus der "Branche" kamen. Man lernte
Neues, konnte sich austauschen und verbrachte eine gute Zeit
zusammen.
"Werbetext im Wandel der Zeit" war ein Bereich an dem
er besonders eifrig teilnahm. Es gab auch noch andere Themen, die
für ihn interessant waren, aber das Textseminar hatte etwas ganz
spezielles: Die Dozentin. Sie hieß Britta. Gleich zu Anfang des
Seminars, als sie sich einander vorstellten, war sie ihm
aufgefallen. Sie war zierlich und strahlte doch
Durchsetzungskraft aus. Ihre dunklen Augen leuchteten
angriffslustig, aber sie hatten auch einen Glanz, der Tom sofort
auf "Wolke 7" landen ließ, als sie ihn ansahen. Er war
verzaubert von dieser Person, von ihrer Gestalt, ihrer Art sich
zu bewegen und zu sprechen. Wenn sie in seiner Nähe war, hatte
er, egal was sie tat, immer das Gefühl, sie meinte nur ihn. Oft,
wenn er mit Kollegen an ihren Schulungen teilnahm, war ihm, als würden
sie beide alleine sein und sich, via Augenkontakt, über alles mögliche,
aber nicht über Werbetext unterhalten.
Zwei Wochen sollte das Seminar dauern und Tom hatte schon nach
wenigen Tagen die Befürchtung, dass ihm danach Brittas Gegenwart
fehlen würde, Am Wochenende war den Teilnehmern freigestellt
heimzufahren oder sich die nähere Umgebung anzusehen. Als Tom
erfuhr, dass auch sie bleiben würde, war es klar, dass keine
zehn Pferde ihn wegbekommen hätten.
Einige Kollegen verabredeten sich für Samstagabend, um bei dem
Italiener an der Ecke ein paar fröhliche Stunden zu verbringen.
Die einzige Bedingung, die es zu erfüllen gab, war: "Kein
Wort über Werbung!" Auch Britta wurde eingeladen, und während
sie zusagte, sah sie Tom auf eine Weise an, die dazu angetan war,
den Schmetterlingen in seinem Bauch eine Spannweite von
mindestens zwei Metern zu verleihen.
Beim Essen saßen sie sich gegenüber. Es wurde viel gegessen,
getrunken, geredet und gelacht. Bei den Unterhaltungen und
Scherzen am Tisch fand auch noch ein Gespräch statt, für das es
keine Worte gab. Wenn Tom seinem Nebenmann zuhörte, wußte er,
dass sie ihn intensiv beobachtete. Schaute er dann zu ihr herüber,
wich sie seinem Blick nicht aus. Im Gegenteil - sie nickte ihm
zu, lächelte und strich sich mit einer zarten Geste eine Strähne
ihres glänzenden dunklen Haares aus dem Gesicht. Nie hätte er
gedacht, dass man so viel sagen kann, ohne auch nur einen Ton von
sich zu geben.
In der zweiten Woche sahen sie sich nicht so häufig, denn Tom
wechselte, wie vorher geplant, zum Seminarbereich "Visuelle
Strategien". Doch dafür saßen sie in den Pausen und an den
Abenden immer öfter zusammen, redeten über "Gott und die
Welt" und wirkten unzertrennlich. Doch auszusprechen, was
sie beide am meisten bewegt, trauten sie sich nicht. Das war für
ihn auch nicht unbedingt notwendig, meinte Tom. Denn nie zuvor
war er jemandem so nah gewesen, und nie zuvor hatte er so ein
absolutes Gefühl der Gegenseitigkeit. Was hätte man mit Worten
da noch ausdrücken sollen, dass der andere nicht schon wußte?
Mittlerweile hatte sich, wie üblich, eine Clique gebildet zu
der, wie selbstverständlich, auch Tom und Britta gehörten. Wenn
möglich verbrachte diese lustige Truppe die Freizeit gemeinsam.
Also war es ganz natürlich, dass auch das Seminarende eine
Gruppenveranstaltung sein würde. Freitag war der letzte Tag des
Seminars. Am Sonnabend würden Teilnehmer und Dozenten nach dem
Frühstück wieder nach Hause fahren. Für den Abend wurde eine
kleine Feier verabredet. Die Kollegen waren in bester Laune, denn
jeder freute sich, nach zwei Wochen Seminarstress, endlich wieder
die Freunde und die Familien zu sehen. Das heißt, jeder nun doch
nicht so richtig... . Sicher, Tom freute sich auch auf zuhause
aber die Vorstellung, dass er Britta nicht mehr sehen sollte, gab
ihm einen Stich und ließ ihn nachdenklich werden.
Trotz allem hatten sie einen wunderbaren Abend. Das Tanzlokal bot
schicke Getränke, gute Musik und eine Tanzfläche, die groß
genug war, dass man sich nicht nur auf den Füßen stehen mußte.
Zum Reden kamen sie natürlich nicht in dieser ausgelassenen
Partylaune. Dafür tanzten sie die halbe Nacht miteinander und
die Aufforderungen, die Tanzpartner zu wechseln, wehrten sie
freundlich aber bestimmt ab. Endlich konnten sie sich berühren.
Sie konnten spüren, dass der Andere wirklich da war und wußten,
dass sie in diesem Moment glücklich waren.
Der Abend ging vorbei. Hand in Hand verließen sie das Lokal und
ihnen war bewußt, dass der letzte Tag des Seminars der erste Tag
ihrer gemeinsamen Zukunft sein würde.
Calo v. Oss 2003
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