C. v. O.
für Günni und Steve, die besten Freunde die ein Mann haben kann und für die Bande

Von der Sonne geküsst


Dies ist eine kleine Geschichte, die so oder ähnlich schon jedem einmal begegnet ist. Nur: "Nicht jeder bemerkt es, wenn es passiert."
"Zypern - ein Stück vom Himmel" - heißt es in der Werbung. Manche mögen das für übertrieben halten. Aber, wer einmal dort war, hält es eher für eine Untertreibung. So wie ich.

Für zwei Wochen dem "Grau in Grau" der Heimat entfliehen und dem Weihnachtsstress die kalte Schulter zeigen. - was wäre besser als das? Nichts! Also beschlossen mein bester Freund und ich dem Christkind und dem neuen Jahr auf Zypern zu begegnen.
Alles war wie gewünscht und besser. Die Insel zeigte uns ihr schönstes Wintergesicht. Die warme Mittelmeersonne streichelte die Haut. Alte und neue Freunde machten jeden Tag zu einem neuen Erlebnis. Der Wein hielt immer was der Wirt versprach. Und erst das Essen...
Dankbar nahmen die Currywurst geschundenen Körper jedes Angebot an und verlangten ständig nach mehr dieser mediterranen Köstlichkeiten. Selbst ich, der normalerweise den Eindruck macht, als befände ich mich in Daueraskese, stellte erfreut fest, dass der Hosengürtel vorne auch Löcher hat.

Sehr schnell waren wir "Zyperninfiziert" und hatten nicht die geringste Lust diesen Virus so bald wieder zu verlieren. Aber, Urlaubstage vergehen bekanntlich schneller als Arbeitstage. So mußten auch wir uns damit abfinden, dass die Abreise bevorstand, kaum daß wir richtig angekommen waren.
"Wir kommen wieder - schon bald", beteuerten wir unseren Freunden und betäubten den Abschiedsschmerz mit Umarmungen und etlichen Flaschen besten zypriotischen Weines.

Zwei Stunden Schlaf blieben, bevor der Wecker unerbittlich daran erinnerte, dass der Flieger sehr früh startete und wir gefälligst an Bord zu sein hätten.
Wer Nordzypern besucht, bemerkt sehr schnell, dass er sich den schöneren Teil der Insel ausgesucht hat. Er weiß aber auch, dass An- und Abreise nicht ganz einfach sind. Die politischen Gegebenheiten auf der Insel zwingen den Reisenden auch Anfang 2003, den Umweg über Istanbul zu nehmen. Ein einfacher Direktflug wird leider immer noch zum Politikum und als solches von der griechischen Seite verhindert. "Kein Problem," meinte mein Freund "es ist alles so gebucht, dass wir genug Zeit haben. In Istanbul haben wir eine Stunde für den Anschlußflug und in Düsseldorf bleiben uns sogar zwei Stunden, bevor der Zug abfährt. In Dortmund haben wir zwar nur fünfzehn Minuten, aber unser nächster Zug fährt vom selben Gleis ab. Also, alles in bester Ordnung." meinte er und strahlte dabei eine zufriedene Ruhe aus, die ich so an ihm seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte. - Wie so eine Insel und alles, was damit zu tun hat den Menschen verwandeln kann...

Keine Abflughalle der Welt scheint Tageszeiten zu kennen. So war es auch auf dem kleinen Behelfsflughafen von dem aus wir unsere Heimreise starten sollten. An den Schaltern, in der Wartehalle und in der Cafeteria drängten sich Menschen dicht an dicht. Das Sprachengewirr konnte einen schwindelig machen und ließ an Babylon denken. Türkisch, Englisch, Russisch, Deutsch - ja sogar chinesische Wortfetzen wehten herüber und sorgten für dieses unablässige Rauschen und Summen, dass einen Flugplatz zum Airport macht.
90 Minuten Flugzeit bis Istanbul. Die letzte Möglichkeit sich im frühen Morgenlicht von der Insel zu verabschieden und der warmen Sonne "Danke" zu sagen.
Aber erst hieß es einmal: "Ladies and Gentlemen. Hier spricht ihr Captain. Wegen weiterer Gepäckzuladung verzögert sich der Abflug um einige Minuten." "Nun ja. Einige Minuten - das macht nichts," meinte mein Freund zuversichtlich, "wir haben ja genug Zeit in Istanbul." Langsam bekam ich das Gefühl, dass ich etwas vergessen hatte. Richtig - ich hatte vergessen, was es heißt, wenn ein Zypriot von einigen Minuten spricht... Mit einer halbstündigen Verspätung hob unser Flieger ab.

Es ist schon seltsam, wie sich der Mensch teilen kann. Unsere Körper saßen zwar auf den Plätzen Reihe 17 B und C aber unsere Gedanken, Gefühle, Wünsche und unsere Träume blieben auf der Insel, die uns so viel mehr gegeben hatte als nur ein paar unbeschwerte Urlaubstage. Beide spürten wir, dass dieses Band aus unterschiedlichen Gründen unendlich dehnbar war. Diese Insel beeinflusst und verändert dich. Für mich galt, dass mein Wunsch hier eines Tages zu leben zu einem Entschluß geworden war. Für meinen Freund hatte diese Insel auch eine große Überraschung bereit gehalten. Nämlich, dass fest gefügte Lebensbahnen durchaus einen Umweg beschreiben dürfen um ans Ziel zu gelangen. Zypern und seine Menschen hatten uns in die Arme genommen wie alte, liebe Bekannte. Es bot sich uns an und dankbar nahmen wir dieses Geschenk mit uns um das nächste mal ein kleines bisschen heimzukommen.

Das mächtige Taurusgebirge überfliegend näherten wir uns unaufhaltsam dem riesigen Istanbul. "Wenn du über diese Stadt fliegst," so hatte ein Freund gesagt, "dann sieh nach links bis zum Horizont. Was du siehst ist Istanbul. Dann schau nach rechts und was sich dort bis zum Horizont erstreckt das ist auch Istanbul. Sieh es dir an, und du wirst erkennen: Du lebst nicht lange genug um zu erleben, was diese Stadt zu bieten hat."
Stimmt! Aber selbst zu einer kleinen Erkundungstour durch diese gigantische Stadt blieb uns keine Zeit. Für uns hieß es jetzt nur noch: Raus aus dem Flieger und rein in die Transithalle. Und zwar schnell! Der verspätete Abflug auf Zypern hatte alle übrige Zeit mit einem Fingerschnippen aufgebraucht. Vor uns lag ein 300 Meter Hindernisslauf mit dem Bordgepäck am langen Arm. Da, endlich das Terminal zur Transithalle. Wir mussten nur noch unsere Bordkarten für den Weiterflug nach Düsseldorf holen. Aber - das wollten viele andere Passagiere auch. Die Bordkarten nach London gab es hier ebenso wie die nach Moskau, nach Lissabon und sogar Los Angeles. Alle zur selben Zeit. Und wir hatten nur noch zwanzig Minuten.
"Du wartest hier," meinte mein Freund "ich regele das irgendwie." Aha! Er regelt das irgendwie. Wie, das war mir allerdings schleierhaft. Dann überkam mich grenzenloses Erstaunen. Mit unendlicher Ruhe und selbstverständlicher Gelassenheit tat er etwas, das er so noch nie getan hatte: Er drängelte sich vor.
Ich versuchte gerade mir vorzustellen wie wir ohne Aufpreis eine spätere Maschine buchen könnten als er wieder vor mir stand. Verschwitzt, mit einem glücklichen Siegerlächeln im Gesicht schwenkte er unsere Bordkarten wie eine Trophäe und meinte nur: "Wenn wir schnell sind, kriegen wir die Maschine noch. Aber, wo um Himmels Willen startet die?" Jetzt war es an mir, stolz zu sein. Ich war schon einmal hier. "Da hoch, da ´rum, da her und dann hinten links nur noch um die Ecke." Jetzt schnell durch die Schleuse. Hoffentlich piept nichts. Doch! Es piept! Also zurück, Uhr ablegen, Handy ´raus und noch mal durch. Alles klar. Jetzt aber los. "Stopp!" rief der Zollbeamte. Was denn jetzt noch? Ach so - Handy liegengelassen. "Lauf vor! Ich hol´ es schon."

Trotz allem saßen wir nach einem freundlichen "Guten Morgen" auf unseren Plätzen in einem Airbus der Turkish Airlines nach Düsseldorf. Jetzt hatten wir Zeit. Zeit zum Luft holen - Zeit den Schweiß zu trocknen und Zeit auf den Abflug zu warten. Denn was hörten wir aus dem Bordlautsprecher? "Ladies and Gentlemen. Hier spricht ihr Captain. Wir warten noch auf die Zuladung weiterer Gepäckstücke. Deshalb verspätet sich unser Abflug." Da fehlte doch noch was. Er hatte nichts von einigen Minuten gesagt. War das jetzt gut oder schlecht? - Es war schlecht. Mit einstündiger Verspätung starteten wir in Richtung Düsseldorf. Was hatte mein Freund gesagt? In Düsseldorf haben wir zwei Stunden Zeit? Nun ja, eine Stunde würde auch reichen.

Die Touristenklasse eines Airbus ist zwar keine Luxusherberge, aber wenn man so richtig müde ist kann man sich trotzdem wunderbar von den Schwingungen des Fluges in den Schlaf schaukeln lassen. Unterbrochen wurde dieses Dösen nur von dem allseits beliebten Bordfrühstück. Unfallfreies Essen in der Touristenklasse sollte mit Preisen belohnt werden. Auf der Anzeigetafel konnten wir erkennen, dass wir wesentlich langsamer flogen als angenommen - Gegenwind. Kein Problem, wir hatten ja eine ganze Stunde Zeit auf dem Airportbahnhof. Aber was ist schon Zeit? Ja richtig - Zeit ist das was man nicht hat, wenn es eng wird. Und es wurde eng.

Kaum zu glauben, wie viele Menschen eine Schlange vor der Passkontrolle bilden können. Am Schalter eine junge Kommissarin in Ausbildung. Pass anschauen, einscannen, verwundert gucken, den Kollegen fragen, noch mal verwundert gucken und dann strenges Gesicht machen: "Wo wohnen Sie? Ach so. Das steht aber nicht in Ihrem Ausweis, Ach Sie sind umgezogen - wohin? Das steht aber auch nicht in Ihrem Ausweis. Ach, da sind Sie noch nicht gemeldet. - Moment bitte." Klappe zu. Und die Zeit rennt uns davon. Wenn ich der Dame gesagt hätte, dass wir ein Zugabteil Raucher mit Sitzplatz gebucht hatten - ob es dann schneller gegangen wäre?
Klappe auf: "Sie können passieren. Aber melden Sie sich bitte in Ihrem Wohnort an." Natürlich mach ich das, aber dazu muß ich erst einmal da sein.
Jetzt aber nichts wie los, um die Koffer zu holen. Kaum am Gepäckband angelangt, erkannte ich schon meine Reisetasche. Toll, das ging ja wie geschmiert. Mein Freund mußte allerdings noch etwas warten, bevor sein Koffer auftauchte. Und noch etwas warten. Und noch etwas.... Es ist schon interessant wie die Zeit vergeht wenn man keine hat. Da! Der Koffer! Jetzt aber los. Wieder ein Hindernislauf. Quer durch die Halle, ´rüber zum Sky-Train der uns zum Airportbahnhof brachte. "Wieviel Zeit haben wir noch? Was, nur 6 Minuten?!" Einem rekordverdächtigen Spurt durch die Bahnhofshalle folgte ein akrobatischer Tanz über die Rolltreppe. Da stand der Zug. Nichts wie rein. Geschafft! Und Abfahrt.

Erschöpft, verschwitzt und glücklich ließen wir uns in die Polster sinken. Am nächsten Bahnhof hielten wir unerwartet lange. Am übernächsten noch länger. In Dortmund hatten wir nur 15 Minuten. Die Zeit war längst aufgebraucht. Später hörten wir, dass ein Dieb im Zug gestellt und der Polizei übergeben worden war. Deutschlands Beamte sind wachsam... Aber - unser Anschlußzug mit Sitzplatzgarantie im Raucherabteil war sicher schon lange weg.

Dortmund Hauptbahnhof. Auf der Anzeigetafel war unser Zug natürlich nicht zu entdecken. "In einer Stunde kommt der nächste" erklärte mein Freund, "nehmen wir eben den." Also tranken wir erst einmal einen Kaffee am Kiosk. Plötzlich bemerkte er verschmitzt: "Sollen wir vielleicht den Zug nehmen, der gleich einfährt? Für den haben wir auch Platzkarten." "Wieso Platzkarten?" fragte ich verwundert. "Na schau doch auf die Tafel! Unser Zug kommt mit 35 minütiger Verspätung." Ich freute mich wie ein kleiner Junge auf die Sitzplätze und meinte vergnügt: "Wir haben Glück. Wir sind eben immer noch von Zyperns Sonne geküsst."

Es war ein kalter, trister Januartag auf dem Dortmunder Bahnhof. Dichte Wolken ließen keine andere Farbe als grau zu. Und trotzdem riss die Wolkendecke in diesem Moment für Sekunden auf, um ein paar Sonnenstrahlen durchzulassen, die das Gesicht meines Freundes in helles Licht tauchten. "Von der Sonne geküsst?" meinte er verträumt, "Ja das sind wir wohl." Er zwinkerte in die letzten Sonnenstrahlen und wischte sich verschämt eine Träne aus dem Augenwinkel.

Calo von Oss 2003

© Calo v. Oss 2003

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