Dichterlesung

Irgendwann hatte er damit begonnen, das eine oder andere Gedicht zu schreiben. Irgendwann kamen auch kleine Texte und Geschichten dazu. Es machte ihm Freude, sich an den Ausdrucksmöglichkeiten der Sprache zu berauschen. Es machte ihn glücklich, zu wissen, dass ein paar Blätter unbeschriebenen Papiers schon nach kurzer Zeit Mittelpunkt seines Lebens waren. Er hatte sie beschrieben. Es war seine Sprache, seine Seele, sein Leben. Wieder irgendwann ergab es sich, dass jemand las, was er geschrieben hatte. "Das ist ja richtig gut," meinte der, "daraus lässt sich doch was machen." Aber was sollte man daraus machen? - "Ein kleines Buch natürlich!" Ach so - sicher, was auch sonst? Zur Zeit herrschte ja auch totaler Buchnotstand. Die Welt verzehrte sich geradezu danach, endlich zu lesen, was er geschrieben hatte. Aber, um der Wahrheit die Ehre zu geben, schmeichelhaft war es schon. Ein Buch! Schwarz auf weiß gedruckt, was in seinem Kopf, in seinem Herzen entstanden war. Vorne auf dem Deckel würde sein Name stehen.

Und so geschah es dann. Mr. Wohlwollen hatte die richtigen Kontakte und schon nach kurzer Zeit gab es "Sein Buch". - Paperback zwar, aber immerhin Jetzt zeigte sich, dass ein Buch erst so genannt werden darf, wenn es Zahlen bringt - Umsatzzahlen. Wie promotet man das Erstlingswerk eines Nobodys? Genau, man schickt ihn übers Land. Er sollte vorlesen aus seinem Buch und so die potentiellen Leser für sich gewinnen. Alles andere wäre zu teuer.

Da saß er nun. Außer kleinem Gepäck, wie Zahnbürste und Wechselwäsche, schleppte er eine Riesenlast mit sich herum: "Angst!" Pure Angst ließ seine Hände feucht werden, sein Gesicht steinern wirken und seine, sonst so geraden, Schultern nach vorne sacken. Neben ihm auf dem Podium stand ein netter Herr, der mit freundlichen Worten versuchte, ihn und sein Werk vorzustellen. Er verstand kein Wort von all dem, was über ihn gesagt wurde. Das Publikum verschwamm vor seinen Augen zu einer hin und her schwingenden Masse. Einzelne Gesichter auszumachen, war unmöglich. Das Licht der Scheinwerfer fraß sich in seine Augen und malte grellbunte Figuren auf seine Netzhaut. Die wenigen Minuten der Vorstellung zogen sich für ihn endlos in die Länge. Es kam ihm wie Ewigkeiten vor, bis der Moderator zum Schluss kam. Mit freundlichem, interesselosem Applaus wurden die Worte des "netten Herrn" honoriert und er zugleich offiziell begrüßt. Langsam verebbte das Raunen im Saal. Das Deckenlicht wurde gedimmt und während er versuchte, den Gedanken an Flucht zu unterdrücken, überlegte er, wer heute wohl im Publikum saß. War wieder die nette alte Dame hier, die ein Bündel selbst verfasster Vierzeiler mitgebracht hatte, über die sie unbedingt mit einem "Gleichgesinnten" diskutieren mußte? Oder der Kritiker, der ihm systematisch nachweisen würde, dass in der zweiten Strophe des dritten Gedichtes das Versmaß nicht passte? Hatte sich möglicherweise der Provokateur einen Platz im Saal gesichert, der nur gekommen war, um den Wert des Nonverbalen in einem Text zu unterstreichen, dieses aber in einem Monolog, nicht unter fünf Minuten, bewältigte?

Er versuchte sich zu konzentrieren und er fand Ruhe und Kraft in dem was vor ihm auf dem Tisch lag: Von ihm beschriebenes Papier. Das würde er jetzt lesen. - Vorlesen. Langsam kam die Freude zurück. Das Vergnügen, dass er immer wieder empfand, wenn er schrieb oder las. Er brauchte ja gar nicht zu diskutieren, zu analysieren oder zu sezieren. Er sollte lesen? Nun gut, er würde lesen. Daraus ergab sich sowieso alles. Und anschließend..... ein kleines Bier, ein nettes Gespräch und eventuell die Möglichkeit danke zu sagen. Dafür, dass er trotz aller Angst wieder einmal das tun durfte, was ihn glücklich macht: Ein kleines Gedicht so vorzulesen wie er es fühlte als er es schrieb.

Calo v. Oss

© Calo v. Oss 2003

Email an Calo:
[email protected]