Wurzeln

Es war immer noch sehr kühl. Die Sonne war zwar bemüht, die Kälte des Winters zu vertreiben, aber so ganz gelang es ihr nicht. Der Wind, der aus Nordosten übers Land zog vertrieb zwar die Wolken, er ließ aber auch spüren, dass die kalte Jahreszeit noch längst nicht vorbei war.

Trotzdem! Die Sonne schien und nach Wochen, die angefüllt waren mit nicht enden wollender Dämmerung, mit triefenden Nasen und Grippevieren war es ein Genuss, sich endlich wieder nach draußen wagen zu können. Auch mich trieb es hinaus. Die frische, klare Luft schmeckte wie Champagner. Wo ich auch hinsah bemerkte ich gut gelaunte Menschen, die mit sichtbarem Vergnügen die neuesten Sonnenbrillenkollektionen spazieren trugen. Der Italiener an der Ecke hatte sogar schon Tische und Stühle raus gestellt. Auf einigen Plätzen sah man übermütige Gäste, warm eingepackt in Daunenjacken, große Portionen gemischten Eises verspeisen. Verzückt stachen sie ihre tief in die kalt klebrige Masse, zogen kleine Spuren durch den Eisberg und lächelten beseelt, wenn es ihnen gelang, das Ganze, gekrönt von einer zuckersüßen Kaiserkirsche, auf der Zunge und nicht auf dem Ärmel landen zu lassen. Der Teufel wird mit dem Belzebub ausgetrieben und der Winter mit italienischem Speiseeis. An fast allen Tischen plauderten die Menschen angeregt miteinander. Eine Atmosphäre ungezwungener Lebensfreude machte sich breit.

Auch ich war froh einen Platz an der Sonne ergattert zu haben. Doch mir war nicht nach kalten Genüssen. Ich brauchte Wärme und die fand ich in einem großen Topf heißer Schokolade, in den ich vor jedem Schluck ein paar Tropfen Cognac rührte. Glücklich und mit mir und der Welt zufrieden lehnte ich mich zurück um der Sonne die Möglichkeit zu geben auch meinem Gesicht eine gesündere Farbe aufzulegen.

Obwohl meine Augen geschlossen waren, bemerkte ich plötzlich, dass zwischen den wärmenden Strahlen und mir ein Hindernis stand. Irritiert öffnete ich die Augen und sah zuerst einmal - nichts. Vor mir stand jemand, dessen Gesicht ich nicht erkennen konnte. Eine dunkle Silhouette vor hell gleißendem Sonnenlicht. Die Silhouette konnte sprechen: "Entschuldigen Sie, ist der Platz noch frei?" Eine Frauenstimme - Aha der Schatten war weiblich. " Selbstverständlich. Bitte setzen Sie sich" raunte ich und war mir nicht sicher ob ich ärgerlich wegen der Störung oder erfreut wegen der unverhofften Gesellschaft sein sollte. Sie bedankte sich und setzte sich so, dass auch ihr die Sonnenstrahlen ins Gesicht schienen. Erst jetzt war es mir möglich, sie aus den Augenwinkeln zu betrachten. Hübsch - sehr hübsch sogar. Blondes, schulterlanges Haar, das mit einem Band lose zu einem Zopf gebunden war. Ihre gerade Nase wurde eingerahmt von schmalen Wangen und glänzenden, dunklen Augen. Sie benötigte nur wenig Schminke um die Schönheit ihres ebenmäßigen Gesichtes hervor zu heben. Den weiten Mantel trug sie offen. Nur wenn sie sich vorbeugte, um mit beiden Händen nach der heiß dampfenden Kaffeetasse zu greifen, ließ sich erahnen, dass sich darunter eine schlanke, fast zierliche Figur verbarg.

Ich döste weiter und freute mich irgendwie doch, dass sie sich ausgerechnet an meinen Tisch gesetzt hatte.
"Darf ich Sie etwas fragen?" sprach sie mich an. "Aber ja, natürlich"
"Leben Sie schon lange hier?" "Ja, eigentlich mein ganzes Leben lang."
"Und Ihre Eltern?" "Die haben auch immer hier gelebt."
"Ihre Großeltern auch?" "Ja sicher", antwortete ich und fühlte leichte Ungeduld in mir aufsteigen. Worauf wollte sie hinaus? Zu weiteren Überlegungen kam ich nicht denn ihre Neugierde schien noch lange nicht befriedigt.
"Dann gehören Sie also hierher weil hier ihre Wurzeln sind?!" "Ja." Langsam wurde das Gespräch für mich doch interessant. Sie hatte mich am Haken, denn ich antwortete ihr, als würden wir uns schon länger als erst drei Kaffeeschlucke kennen: "Treffend formuliert. Meine Familie ist von hier. Meine Geschichte und die meiner Vorfahren ist eng mit dieser Stadt und diesem Land verbunden. Ja, ich bin hier fest verwurzelt und könnte mir nicht vorstellen woanders zu leben - jedenfalls nicht für immer. Selbst wenn ich im Ausland bin und an zu Hause denke, dann ist es diese Landschaft, die ich vor meinem geistigen Auge sehe."
"Nehmen wir einmal an," unterbrach sie meine Schwärmerei, "Sie wären in einem anderen Land geboren, weil Ihre Eltern gerade dort waren. Wo wäre Ihr zu Hause?" "Na, selbstverständlich hier. Ich müßte nicht einmal hier aufgewachsen sein, um zu wissen wohin ich gehöre. Meine Eltern haben mir in meiner Kindheit so viele Geschichten erzählt, dass ich Gegenden lieben gelernt habe, noch ehe ich einmal dort war. Als ich sie dann später sah, war mir alles irgendwie vertraut. Erzähltes und erlebtes wurde zu einer Einheit."

"Das ist interessant," meinte sie verträumt, "Wenn Sie wirklich in einem anderen Land aufgewachsen wären und Sie hätten eine Frau geheiratet deren Eltern aus der selben Stadt stammten wie Sie, wo, meinen Sie, wäre die Heimat Ihrer Kinder?" "Die Heimat meiner Kinder wäre sicherlich auch hier. Sie würden zwar woanders aufwachsen, aber sie könnten ja nichts dafür, dass ihre Eltern mit ihnen im Ausland lebten, aus welchem Grunde auch immer. Ich würde ihnen von daheim erzählen, genau wie es meine Eltern getan hätten Sie würden mit meiner Sprache, meiner Kultur und meiner Liebe für die Heimat aufwachsen. Und, wenn sie erst einmal hier wären, würden sie alles wieder erkennen. Aber wir sprechen immer nur über mich und meine Empfindungen. Erzählen Sie mir doch auch etwas über sich. Wie heißen Sie und wo kommen Sie her?" "Ich heiße Maria," sagte sie und in ihrem Gesicht spiegelte sich eine Mischung aus Melancholie und Energie. "Ich bin endlich zu Hause. Aber geboren und aufgewachsen bin ich in Kasachstan."

Calo v. Oss

© Calo v. Oss 2003

Email an Calo:
[email protected]