Der Zehnte Finger

Als ich noch ganz jung war - du weißt schon, in dem Alter, in dem man meint, Bäume ausreißen gehöre zum Standardprogramm, da glaubte ich jeder Mensch besäße nur eine bestimmte Menge Liebe. So, wie man eben nur zehn Finger besitzt. Ist ein Finger weg sind nur noch neun da. Das bringt einen zwar nicht um, aber das Leben wird erheblich schwieriger dadurch und man wird den Verlust nie vergessen.

Man lernte seine "erste große Liebe" kennen und wenn man sie dann irgendwann verlor, war es unmöglich, sich vorzustellen, jemals wieder einen Menschen so sehr zu lieben. Denn man hatte so unendlich viel gegeben, dass es undenkbar er-schien, etwas übrig behalten zu haben.

Ich glaubte, in meiner jugendlichen Überheblichkeit alles zu wissen. Ich fand es deshalb unerhört, wenn ältere Menschen meinten, dass ich doch einfach abwarten solle. Ich würde schon merken, dass ich wieder und noch mehr Liebe sehen, emp-fangen und vor allem geben könnte. "Wie soll das denn gehen?" schrie ich sie an. "Ich bin leer und habe alles gegeben, was in mir war. Wo soll ich denn noch mehr hernehmen?"

Dann lernte ich, dass ich mich durch das Leben kämpfen mußte und ich begegnete neuer Liebe, neuem Glück und neuer Trauer. Je öfter ich Liebe verlor, um so überraschter war ich, sie eines Tages neu zu entdecken. Ich erlebte es in der Liebe zu einer Frau - in der Liebe zu Kindern. Die Liebe zu Freunden wurde zu einem der wertvollsten Güter. Liebe zur Natur, zur Kunst und die liebevolle Be-schäftigung mit Menschen, denen ich behilflich sein konnte, ließen mich erken-nen, dass der Vorrat, den jeder Mensch besitzt, unendlich ist. Nie hat je ein Mensch etwas kostbareres besessen, ohne zu wissen, dass er immer wieder aus dem vollen schöpfen konnte, ohne auch nur im geringsten etwas zu verbrauchen.

Heute weiß ich, der zehnte Finger wächst immer wieder nach. Und jedesmal ver-vielfacht sich die Beweglichkeit und die Geschmeidigkeit der Hände.
Glaube, Liebe, Hoffnung! Diese drei! Das wichtigste aber ist die Liebe. Ich sollte die Bäume vielleicht nicht ausreißen, sondern sie streicheln.

Calo v. Oss

© Calo v. Oss 2003

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